Der Weisheit letzter Schluss – Wie politisch ist die Politik?
Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 19/23
Eine paradoxe Frage hat mich dieser Tage beschäftigt, die ich diesmal in meinem Wochenkommentar abhandeln möchte: Gibt es auch politikferne Politik?
Im Politiklexikon für junge Leute wird Politik wie folgt definiert:
Politik ist menschliches Handeln, das zum Ziel hat, verbindliche Regelungen in und zwischen Gruppen von Menschen herzustellen. Jede Gesellschaft braucht Spielregeln (Gesetze). Eine wichtige Aufgabe von Politik ist es, diese Gesetze zu beschließen und dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden.
In jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche Interessen. Was die einen möchten, gefällt anderen nicht und umgekehrt. Deshalb ist eine weitere Aufgabe der (demokratischen) Politik, einen Ausgleich dieser Interessen herzustellen. Das bedeutet sehr oft, Kompromisse zu finden.
In demokratischen Systemen hat Politik weiters die Aufgabe, eine gerechte Verteilung von Gütern zu sichern. Politik heißt hier auch, sich um die Schwächeren in einer Gesellschaft zu kümmern.
So weit, so gut. Schauen wir mit dieser Brille mal gemeinsam auf das eine oder andere Ereignis dieser Woche, bei dem Politik eine Rolle gespielt hat.
Beginnen möchte ich beim sich selbst als unpolitisch bezeichnenden Eurovision Song-Contest (ESC). Der ukrainische Präsident durfte mit dieser Begründung in Liverpool, das für den Vorjahressieger Ukraine als Austragungsort eingesprungen ist, keine Videobotschaft an die Menschen bringen. Andererseits wurden Russland (wegen des bewaffneten Konflikts mit der Ukraine) und Weißrussland (wegen der Nutzung des Senders durch die belarussische Regierung als Propagandainstrument) im Vorjahr und auf unbestimmte Dauer vom Wettsingen ausgeschlossen. Zudem durften in der Übertragung jede Menge Solidaritätsbotschaften mit dem vom Krieg gebeutelten Land, die man durchwegs als politisch bezeichnen kann, in die Welt gesendet werden.
Auch der Sieg der Ukraine im Vorjahr hatte mehr mit der politischen Weltlage zu tun als mit der Qualität des Songs. Und sogar heuer noch war für die Wettanbieter das Abschneiden dieses Landes der größte Unsicherheitsfaktor. Der Sieg ging dann logischer Weise an Schweden, das damit zum 50-jährgen Jubiläum des Abba-Sieges im nächsten Jahr den Wettbewerb veranstalten darf. Das deutet auf einen meisterhaften Einsatz der schwedischen Musik-Lobby hin, da der Gewinn auf die Votings der nationalen Jurys zurückzuführen ist. Beim Publikum in der Halle und den via Handy bzw. App abgegebenen Votings lag das zweitplatzierte finnische Lied an der Spitze. Grundsätzlich ist dazu festzustellen, dass schon lange kein „Chanson“ mehr wirklich dem ursprünglichen Charakter des Grand Prix de l’Eurovison entspricht.
Im Zusammenhang mit den unsäglichen Querelen im Osten Europas werden ja die Machthaber in Russland von den Mainstreammedien – und das zurecht – wegen der von ihnen streng durchgezogenen Zensur und der daraus folgenden Geiselhaft für die freie Presse schärfstens kritisiert. Dass auch in der Ukraine diesbezüglich aber nicht alles eitel Wonne ist, zeigt der Fall des erneut in Haft genommenen US-chilenischen Journalisten Gonzalo Lira. Wie das englischsprachige finnische Online-Medium Helsinki Times berichtet – und mit beängstigenden Bildern unterlegt – wurde dieser in den Morgenstunden des 5. Mai 2023 von schwerbewaffneten Militärs verhaftet und gilt seither als verschwunden. Im Artikel angeführt wird dazu Folgendes: „While it is true that Lira has criticised the Zelensky regime and the eight-year-long shelling of Donbas residents by Kyiv, he has not participated in any activities other than exercising his right to free speech as a citizen and respected journalist. Whether or not we agree with Lira’s opinions, freedom of speech must not be restricted, especially during times of conflict. These are the values we claim to be defending.“
Und in Österreich hat man bei der Präsentation des aktuellen Verfassungsschutzberichtes klar gestellt, dass Extremismus omnipräsent ist. Die größte Gefahr gehe von rechtsextremen und islamistisch motivierten Personen aus, so der Direktor der BVT-Nachfolgebehörde „Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst“ (DNS). Auch linksextremistische Gruppen und die Staatsverweigerer-Szene sowie die wachsende Zahl von Klimaaktivisten werde sorgfältig beobachtet. Aufgrund der zunehmenden Herausforderungen werden auch mehr Befugnisse, wie etwa die verstärkte Überwachung von Chats, gefordert.
Am Wochenende fanden auch einige Wahlen statt. So kam der amtierende Präsident in der Türkei im ersten Wahlgang zwar knapp nicht zur absoluten Mehrheit, kann sich aber bei der Stichwahl wohl der Stimmen jener Wähler sicher sein, die den dritten Kandidaten, der als sehr konservativ gilt, gewählt haben. In Thailand hat sich eine junge politische Gruppierung nun gegen den amtierenden Regierungschef, einen Ex-General, der seit dem dortigen Militärputsch 2014 regiert, durchgesetzt. Die Folgen sind aktuell noch nicht absehbar. In Bremen darf sich die SPD als Sieger fühlen, Sorgen bereitet dort die neue Gruppierung „Bürger in Wut“, die ein zweistelliges Ergebnis erzielte. Dieses resultierte in erster Linie daraus, dass die AfD von der Wahl aufgrund nicht erfüllter Kriterien ausgeschlossen wurde; aus deren Wählerpotential konnten die etablierten Parteien nichts abschöpfen.
Auch die Wahlen zur Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) gingen nach Problemen mit der Auszählung im Online-Bereich mit der verspäteten Veröffentlichung des Endergebnisses zu Ende, wobei die aktuell amtierende Koalition trotz des Verlusts von Mandaten wohl weiter an der Macht bleiben wird. Die zweitplatzierte ÖVP-nahe Aktionsgemeinschaft (AG) hat deswegen eine Wahlanfechtung nicht ausgeschlossen. Troubles mit dem digitalisierten Voting hat auch die SPÖ. Eine von der Wahlkommission empfohlene Überprüfung der diesbezüglichen Datensicherheit durch einen externen Experten wurde von der Bundesgeschäftsstelle mit Verweis auf ein Gutachten eines Sachverständigen abgewiesen. Dieser befürchtet, dass dabei die Anonymität des Verfahrens verloren ginge.
In Florida hat der ursprünglich als Präsidentschaftskandidat gehandelte – in der Zwischenzeit aber von den Parteieliten der Republikaner „aus dem Verkehr gezogene“ – Gouverneur Floridas, wie der Blog für Science und Politik tkp.at berichtet, sich gegen eine Etablierung von Zentralbankgeld und eine Überwachung der Bevölkerung durch Kreditkartenfirmen ausgesprochen.
Ob diese politischen Entscheidungen tatsächlich den Grundsätzen der Politik entsprechen, darf zumindest bezweifelt werden. Aber vielleicht ist ja alles nur eine Frage der Bildung. Damit es mit der Bildung der jungen Menschen in Österreich endlich bergauf geht, hat der Wiener Bildungsstadtrat von den NEOS nun nicht nur den Ex-Parteichef um ein sattes Honorar als Berater für die Wiener Schulen engagiert, sondern auch jedem Lehrer der Bundeshauptstadt einen Laptop sowie den Schulen einen Ausbau des WLAN-Netzes versprochen. Mit Hilfe der Digitalisierung soll Wien also zur Bildungsmusterstadt werden. Die Erkenntnis, dass dazu aber wesentlich mehr erforderlich ist, als ein zeitgemäßes digitales Endgerät, dürfte möglicherweise an der diesbezüglichen Un-Bildung der aktuell Verantwortlichen scheitern. Aber sie hatten ja zu ihrer Schul-Zeit auch noch nicht diese nun geschaffenen Voraussetzungen.
Um meinen Wochenrückblick auch diesmal konstruktiv abzuschließen, möchte ich vorschlagen, dass wir mal wieder im Kleinen anfangen, was im Großen wirksam werden soll. Denn jede Form der Gemeinschaft, sei es eine Partnerschaft, eine Familie, ein Verein oder ein Unternehmen – um nur einige zu nennen – sollte sich der oben zitierten politischen Grundsätze bewusst sein und bereit sein, diese auch tagtäglich umzusetzen. Sonst verpufft eine Kritik am als oft politikfern erlebten politischen System so schnell wie sie ausgesprochen wird.
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