Der Weisheit letzter Schluss – Wie demokratisch ist unsere Demokratie?

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 11/23

Kein Tag vergeht, an dem man nicht das Gefühl hat, dass die Meinung des Demos, des Volkes, für die Verantwortlichen wirklich zählt. Keine Wahl vergeht, in dem die Gruppen der Nichtwähler und jener Wähler, deren Partei aufgrund der Eingangshürde von 4 oder gar 5% gescheitert ist, gemeinsam eine relative Mehrheit erzielen und dennoch nicht berücksichtigt werden.

Unsere Form der Demokratie ist nicht erst seit heute in der Krise, sie ist es aufgrund ihres repräsentativen Charakters, wie Marius Krüger und Christine Stiller in ihrem Büchlein „Eine kleine Geschichte der Demokratie“ anschaulich darstellen. Wobei man repräsentativ nicht missverstehen sollte, denn die damit implizierte Repräsentation der Bevölkerung in allen politischen Entscheidungsgremien wird durch die Tatsache, dass Abgeordnete ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet sind, vom Willen der Bürger abgekoppelt. Auf diese Weise entstehe, so Krüger, eine Herrschaft der „Eliten“, die sich einen Schmarren um die Meinung der Menschen ihres Landes kümmern (müssen). Diese Tatsache mag ein Grund für die regelmäßig sinkende Wahlbeteiligung sein, eine andere Ursache könnte auch darin liegen, dass Entscheidungen viel zu großflächig getroffen werden und oft nichts mit der direkten Betroffenheit des Demos zu tun haben. Eine weitere Problematik ist in der Tatsache zu finden, dass parlamentarische Entscheidungen von den Regierungsfraktionen bestimmt werden. Sie sind also zu einer Formalie verkommen und engen mit einem nicht verfassungskonformen Klubzwang sogar noch die Gewissensfreiheit ein. Darunter wird die Meinung der Bürger endgültig begraben.

Dieser Tage hat die SPÖ ihren internen Streit um Parteivorsitz und Spitzenkandidatur für die nächste Nationalratswahl beizulegen versucht. In mehrstündigen Sitzungen scheinen nun beide Seiten ihr vorläufiges Ziel erreicht zu haben: der burgenländische Landeshauptmann bekommt seinen Mitgliederentscheid, die aktuelle Vorsitzende ihren Parteitag. An diesem ist statutarisch ohnehin nicht vorbeizukommen. Da auch dort das Repräsentationsprinzip in Form von Delegierten gilt (auch sie sind ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet), könnte die als basisdemokratisch bezeichnete Wahl unter den rund 140.000 Parteigängern schon bald Makulatur sein. Apropos Basisdemokratie: zum einen ist der Begriff nicht so eindeutig wie man uns weis machen will, denn darunter sind verschiedene Formen von Entscheidungsfindungsprozessen zusammen gefasst; zum anderen bringt Basisdemokratie eigentlich die Notwendigkeit einer laufenden Evaluation mit sich und damit verbunden die Option, dass Amtsträger jederzeit wieder abgewählt werden können. Davon ist aber in der SPÖ – so wie in allen anderen Parteien, die sich dem Repräsentationsprinzip unterworfen haben – nicht auszugehen. Das heißt: Selbst wenn der von den Mitgliedern gewählte Vorsitzende auch vom Parteitag als Chef bestimmt wird, endet die Basisdemokratie spätestens mit dieser Bestellung und es folgt business as usual.

Auch die niederösterreichische Landespolitik fußt kaum auf ursprünglich demokratischen Ideen, zumal die Landeregierung im Proporz bestimmt wird und dort nur jene Parteien vertreten sind, die eine bestimmte Mandatszahl im Landtag erreicht haben. Für Niederösterreich bedeutet das, dass Grüne und NEOS zwar das Landesoberhaupt wählen (sie haben ja den Einzug in das Landesparlament geschafft), nicht aber in Koalitionsverhandlungen eintreten dürfen. So kommt es demnächst zur skurrilen Situation, dass sich in einer plötzlichen Kehrtwende beider Parteien, die FPÖ und die ÖVP auf ein Regierungsübereinkommen geeinigt haben, die FPÖ aber die designierte Landeshauptfrau durch Abgabe ungültiger Stimmern nicht mitwählen wird. Da nur die gültigen Stimmen zählen, genügt es, wenn alle 23 ÖVP-Abgeordneten für sie stimmen, SPÖ, Grüne und NEOS stellen zusammen nur 19 Mandatare. Auf diese Weise mag die FPÖ ihr Wahlversprechen zwar formal einlösen, sie muss aber dann mit der von ihr nicht gewählten Chefin 5 Jahre lang auskommen. Und sie muss zur Kenntnis nehmen, dass sie trotz des für die Bürger Niederösterreichs in den Verhandlungen Erreichten (Stichwort Corona-Maßnahmen-Entschädigung) mit dieser Vorgangsweise der Demokratie weiteren Schaden zufügt.

Auch wenn so wichtige Entscheidungen wie die völlige Umkrempelung der Außenpolitik getroffen werden, ist es für die Volksvertreter nicht von Bedeutung, tatsächlich das Volk entscheiden zu lassen. Man beruft sich lieber auf repräsentative Umfragen, deren Beteiligung bei genauerer Betrachtung meilenweit weg von einem tatsächlichen Stimmungsbild ist. Zudem muss man schon den Meinungsforschern vertrauen, dass sie tatsächlich ein Sample zustande gebracht haben, in dem die Bevölkerung in ihrer Komplexität abgebildet ist und die Ergebnisse nicht bloß dem entsprechen, was der Auftraggeber erwartet hat.

Eine Mehrheit sprach sich bei Umfragen im April 2022 demnach in Finnland (rund 60 %) und Schweden (ca. 51%) für den NATO-Beitritt ihres Staates aus. Seitdem sind beide Nationen emsig bemüht, dem Militärbündnis beizutreten. Wie kürzlich berichtet ist Ungarn noch nicht bereit, den Weg für eine Mitgliedschaft der beiden Länder freizugeben. Und auch die Türkei stellt sich immer noch gewaltig quer. Zuerst waren beide Länder in der „Kurden-Frage“ zu liberal, dann nur noch Schweden, worauf Finnland kurz überlegte, auch alleine beizutreten, um sich dann doch nicht vom Nachbarland zu distanzieren. Angesichts der in zwei Wochen bevorstehenden Wahlen zum nationalen finnischen Parlament machte der finnische Präsident dann nochmals eine Kehrtwende. Das Staatsoberhaupt wollte damit und mit so mancher Äußerung, die er gegenüber der Presse über die finnische Premierministerin von den Sozialdemokraten (SDP) machte, wohl seiner Partei Kokoomus einen Startvorteil verschaffen. Letzten Umfragen zufolge liegen diese beiden wahlwerbenden Gruppen und die nationalistischen „Wahren Finnen“ fast gleichauf mit einem leichten Vorsprung für die Partei des Präsidenten, die damit bei diesem Urnengang durchaus Siegchancen hat. Bei der letzten Wahl kam Kokoomus mit 17 % der gültig abgegebenen Stimmen nur auf Rang drei, davor lagen die SDP mit 17,7% und die Wahren Finnen mit 17,5%. Deswegen gab der finnische Präsident Mitte der Woche bekannt, dass das für Freitag angekündigte Treffen mit dem türkischen Staatsoberhaupt wohl dazu führen werde, dass der Beitritt Finnlands zur NATO nun endgültig ratifiziert werde. Als er dann mit leeren Händen aus Ankara zurückkehrte, wollte er von „seinem Geschwätz von vorgestern“ nichts mehr wissen und sprach nur noch von einem Gespräch zur geopolitischen Situation. Gespannt darf man sein, ob er mit dieser Inszenierung seiner Partei und ihrem Spitzenkandidaten nicht bloß einen Bärendienst erwiesen hat. Zusätzlich ist der Präsident nun wieder zum Narrativ zurückgekehrt, nur mit Schweden gemeinsam der NATO beitreten zu wollen.

Passen das kapitalistische Wirtschaftssystem und die Demokratie zusammen? Marius Krüger beantwortet das in seinem Kompendium über die dennoch „beste aller Regierungsformen“ mit einem klaren Nein. Das vorherrschende Wirtschaftsprinzip ist für ihn dem Wesensprinzip der Demokratie entgegengesetzt.

Ein praktisches Beispiel bekamen wir Bürger diese Woche gleich mitgeliefert. Der Energiekonzern Verbund feierte einen Milliardengewinn und erhöhte daraufhin die Dividende für die Shareholder. Weniger als 20% der Aktien befinden sich tatsächlich im Streubesitz, der Rest ist in staatlicher Hand (51%) bzw. in der Hand anderer Energiekonzerne (EVN, Wiener Stadtwerke und TIWAG mit mehr als 30 %). Eigentlich ein „Jubeltag“ für uns Österreicher, würde dieser Gewinn tatsächlich in unsere Taschen fließen, noch dazu wo man uns das Geld schon vorher durch überhöhte Energiepreise aus der Tasche gezogen hat. Die Anfrage eines Redaktionskollegen an die Verbund AG via Twitter („Welchen zivilisatorischen Mehrwert bringen uns die Milliardengewinne von @verbundag & Co.?) beantwortet das Unternehmen wie folgt: „Wie wäre es mit: Kapital für Investitionen in die Energiewende (vorausgesetzt die Rechtslage erlaubt es).“ Was soll man da – bei so wenig Einsicht in die aktuelle Lage vieler Menschen, die sich ihre Lebenshaltungskosten auch aufgrund des Preisschubs im Energiebereich kaum oder gar nicht mehr leisten können – noch hinzufügen?

Auch die Forderung, die in dieser Woche kollabierte amerikanische SVB und die vor dem Zusammenbruch stehende schweizerische Credit Suisse mit Volksvermögen zu retten, zeigt die eine Seite des perfiden Spiels der Verstaatlichung von Verlusten und der Privatisierung von Gewinnen, die dem geltenden Wirtschaftssystem geschuldet sind. Immerhin hat man in der Schweiz übers Wochenende ein Lösung gefunden, die den Staatshaushalt auf den ersten schnellen Blick nicht belasten wird. Die Bank wird wohl vom bisherigen Konkurrenten, dem größten Geldinstitut des Landes, UBS übernommen.

Die Demokratie, wie wir sie aktuell leben (müssen), ist also dringend renovierungsbedürftig. Möglichkeiten dazu gibt es viele. Diese werden aber nicht von oben und den momentan Verantwortlichen kommen, denn die würden Macht, Einfluss und auch Geld verlieren. Jeder Einzelne ist daher gefordert, sich einzubringen, um einer echten Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen. Diese muss die Basis, also die Menschen, die sie tragen (sollen), umfassend einbeziehen. Direktdemokratische Elemente, durch Los bestimmte Abgeordnete aus dem Volk und auf Zeit sind nur zwei der möglichen Veränderungen. Um solche Änderungen tatsächlich in Bewegung zu bringen, aber müssen sich die engagierten Einzelnen zusammenschließen, eher nicht in Parteien, sondern in der Gegenöffentlichkeit. Denn Parteien tendieren dazu, sich entweder bald nach ihrer Gründung selbst zu zerstören, von den Etablierten zerstört oder ein Mehr vom Selben zu werden. Und das ist keine zukunftsträchtige Perspektive. Es braucht also auch neue Formen von wirklichen Bürgerbewegungen, die sachbezogen agieren, die Meinung des Demos tatsächlich repräsentieren (also nicht vom Gewissen der Repräsentanten abhängig sind) und die auch in der Lage sind, einen gesellschaftlichen Konsens oder zumindest einen Konsent (wie er im Rahmen von soziokratisch orientierten Vereinen und Unternehmen schon Alltag ist) herzustellen und sich von den machtvollen und meist alternativlos genannten Ansprüchen der von Marius Krüger als „Eliten“ bezeichneten wahren Machthaber nicht beeinflussen oder gar verängstigen zu lassen.

 

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