Der Weisheit letzter Schluss – Vom rechten Maß
Ein kommentierender Wochenrückblick KW 9/23
Schon Leonardo da Vinci soll es gewusst haben. Die Aussage „Das Glück besteht darin, in dem zu Maßlosigkeit neigenden Leben das rechte Maß zu finden“ wird ihm zugeschrieben. Und sie ist eine durchaus zeitlose Lebensweisheit, auch wenn es Zeiten gibt, in denen man sie sich noch mehr zu Herzen nehmen sollte. Auch heute leben wir in solchen Zeiten, in denen eine Fülle von Maßlosigkeiten das rechte Maß übersteigt und direkt ins Unglück oder zumindest ins Unglücklich-sein mündet.
Covid-19, die deshalb getroffenen Maßnahmen und ihre Folgen haben ganze Gesellschaften traumatisiert. Zur notwendigen Aufarbeitung zählt auch das Finden der Ursache für den Ausbruch dieser zur Pandemie erklärten Virusinfektion. Dazu gab es diese Woche im Wall Street Journal und auf der Website des Staatsfunks die gleichlautende Meldung, dass sich nun die Beweise für einen Laborunfall im chinesischen Wuhan erhärtet hätten. Meine erster spontaner Gedanken dazu war ein „Rache-Akt“ der USA an China. Die dortige Regierung ist Meldungen zu Folge bereit, Russland in der bewaffneten Auseinandersetzung mit der Ukraine stärker zu unterstützen. Und kürzlich wurden drei mutmaßliche Spionageballons über den Vereinigten Staaten abgeschossen. In seinem Blog für Science und Politik TKP folgt Peter F. Mayer in seinen Ausführungen auch dieser, meiner Idee. Auch wenn dort schon in der Vergangenheit Berichte publiziert wurden, die die Labor-These als wahrscheinlich darstellen. Dagegen spricht – so ein IP-Redaktionskollege, dass Fauci da „knee deep“ drinnen steckt und „das würde Fragen aufkommen lassen, weil das Wuhan-Institut von den USA mitfinanziert wurde/wird“. Als schon mal in den Topf der Verschwörungstheoretiker Geworfenem kommt mir natürlich eine noch (absurdere) Idee: Damit soll jener (noch absurderen) These Einhalt geboten werden, dass die Virusfreisetzung und die dadurch ausgerufene Pandemie geplant waren. Aber auch die Maßlosigkeit der Gedanken kann leicht unglücklich machen.
In diesem Zusammenhang soll nun sogar die WHO frustriert sein, sie hat laut der Online-Plattform für Ärzte und Gesundheitsexperten „Medscape“ die „2. Phase“ ihrer mit Spannung erwarteten wissenschaftlichen Untersuchung zu Ursprüngen der COVID-19-Pandemie verschoben. Wie „Nature“ berichtet seien Experten enttäuscht. „Ohne Zugang zu China könne die WHO wenig tun, um die Studien voranzubringen“, wird dort die Virologin Angela Rasmussen zitiert.
Der britische „Telegraph“ hat in dieser Woche begonnen, eine Auswertung der „mehr als 100.000 WhatsApp-Nachrichten, die zwischen dem ehemaligen britischen Gesundheitsminister Matt Hancock und anderen Ministern und Beamten auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie verschickt wurden“ unter dem Titel „The Lockdown Files“ zu veröffentlichen. Maßvolles Vorgehen sieht – bei genauem Blick – anders aus.
Eine nicht unbeträchtliche Maßlosigkeit herrscht auch bei den von der WHO geplanten „Reformen“, nämlich dem Pandemievertrag und den Internationalen Gesundheitsvorschriften.
Wie TKP berichtet haben die Salzburger Juristin Silvia Behrendt und frühere Rechtsberaterin des IHR-Sekretariats der WHO und die Juristin Amrei Müller eine Analyse zur WHO-Reform veröffentlicht. Für sie sind weder das Tempo noch die zu geringe Beteiligung der Öffentlichkeit nachvollziehbar. Inhaltlich gebe es eine klare Tendenz der WHO, sich als globaler Gesundheitsgesetzgeber zu etablieren. 2024 sollen die neuen Regelungen beschlossen und danach innerhalb eines Jahres sukzessive in Kraft gesetzt werden. Kürzlich habe sich innerhalb der WHO dazu erstmals deutlicher Dissens gezeigt. Silvia Behrendt wird in Kürze auch beim Symposium der Initiative Demokratie und Grundrechte mit dem Titel „Permanenter Ausnahmezustand? Von der Pandemie in die Energiekrise“ auftreten.
Der tragische Tod des Biologen Clemens Arvay hat auch in dieser Woche noch die einen oder anderen Wellen geschlagen. Der Psychiater Raphael Bonelli, der – seinen Aussagen nach – in der Vergangenheit, nicht aber in den letzten Monaten, mit Arvay intensiv in Kontakt stand, hat – wie er im „Talk im Hangar 7“ mit dem Titel „Nur eine Meinung erlaubt“ auf Servus TV ausführte – mit der Mutter des Verstorbenen telefoniert. Diese habe ihm von einem „Abschiedsbrief“ berichtet (von dem auch auf Report 24 zu lesen war), aus dem herauszulesen sei, dass ihm die persönlichen Anfeindungen wegen seiner Position in Sachen Corona ein Weiterleben unmöglich gemacht hätten. Bonelli erinnerte sich an Gespräche mit Clemens Arvay vor rund einem Jahr, in dem dieser ihm erzählt habe, dass er sich alle Forenkommentare in den Berichten über ihn, etwa in der Tageszeitung „Der Standard“ angeschaut habe und der Verzweiflung nahe sei. Der Psychiater empfahl ihm daraufhin, wegzuschauen und sich anderen Themen und Lebensbereichen zu widmen. Es sei ihm aber offenbar schwer möglich gewesen, vermutet Bonelli, das rechte Maß zu finden. Er prangerte in der Diskussionsrunde den unmenschlichen Umgang mit Andersdenkenden an, der zu solchen dramatischen Ereignissen führen könne. Die Beisetzung Arvays fand mittlerweile im engsten Familienkreis statt, in der Öffentlichkeit wurde ihm in Graz und in Wien im Rahmen von „Lichtermeeren“ gedacht.
Mit der ihm widerfahrenen Ausgrenzung steht er nicht alleine da, jedoch ist er sicher eines jener prominenten Opfer, deren Schicksal in der Öffentlichkeit diskutiert wird. So wurde die ebenso mainstream-kritische und daher vom Mainstream kritisierte Politikwissenschafterin Ulrike Guérot kürzlich von ihrem Dienstgeber, der Uni Bonn, entlassen. Wie im Internetportal „Ansage!“ zu lesen ist, sorgte ihre „Kritik an den Corona-Maßnahmen und an Waffenlieferungen für die Ukraine dafür, dass sie ins ‚rechte‘ Lager katapultiert wurde.“ Der Titel zum Beitrag lautet: „Fall Guerot: Wenn man den Linken nicht mehr links genug ist …“ und macht auf eine paradoxe Situation aufmerksam: dass links möglicherweise das neue rechts ist. Oder wie Ernst Jandl in seinem Poem „Lichtung“ treffend formulierte: manche meinen/lechts und rinks/kann man nicht velwechsern/werch ein illtum.
Weiterhin sehen sich die Initiatorinnen des deutschen Friedensmanifestes Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer mit heftigem medialen Gegenwind konfrontiert, die zumindest zum Teil über die Maßen menschenverachtend geführt wird. Die vor kurzem stattgefundene Friedensdemo in Berlin veranlasste den grünen Finanzminister von Baden-Württemberg zu folgendem Posting auf Twitter:
“Was sich da Friedensdemo nennt, ist die hässlichste Fratze Deutschlands und eine Schande für unser Land. Wagenknecht hat die Enden des Hufeisens endgültig zusammengeschweißt – mit Rechtsextremen,Antisemiten & Reichsbürgern.”
Dr. Markus Krall antwortete:
“Eine Schande für unser Land ist es, wenn Menschen, die für Frieden eintreten von Menschen wie Ihnen pauschal beschimpft, geframed und beleidigt werden. Ich würde gerne sagen: Schämen Sie sich, aber ich denke nicht, das Scham eine Ihnen zugängliche Kategorie ist.”
Dialoge wie diese zeigen, wie schwierig es ist, seine Meinung im richtigen Maß zu formulieren.
Der NATO könnte man ebenfalls das Überschreiten des gesunden Maßes bei ihrer Erweiterung vorwerfen. Für Finnland und Schweden ist es aufgrund der Blockade der Türkei nichts mit einem schnellen Beitritt zum Militärbündnis geworden. Auch Ungarn hat als vorletztes Land noch keine Zustimmung dazu gegeben und hat nun angekündigt, eine parlamentarische Kommission nach Helsinki und Stockholm zu schicken, um sich ein genaues Bild von der Situation zu machen. Man befürchte beim Beitritt der nordischen Staaten eine Eskalation der Situation und wolle auch eine Neubewertung der ungarischen Politik durch die beiden Länder erreichen. Danach wolle man eine Entscheidung treffen. Eine Zustimmung der Türkei wird jedenfalls nicht vor den Parlamentswahlen im Mai erwartet.
Apropos Wahlen: Am vergangenen Sonntag wurde im österreichischen Kärnten ein neuer Landtag gewählt. Das vorläufige Endergebnis sieht die SPÖ trotz herber Verluste von rund 9% weiterhin deutlich an der Spitze. Am stärksten zulegen konnte das Team Köfer, das dennoch weiterhin auf Platz 4 liegt, FPÖ und ÖVP gewannen jeweils etwas mehr als 1,5 % dazu und kamen wie schon vor diesem Urnengang auf den Plätzen zwei und drei zu liegen.
Unter Berücksichtigungen der Nichtwähler stimmt einen das Ergebnis wieder einmal nachdenklich. Denn dabei liegt die Gruppe jener, die sich nicht zur Stimmabgabe aufraffen konnte, mit 28,4 % an der Spitze. Die SPÖ kam bei dieser Berechnung auf 27,9%, gefolgt von der FPÖ mit 17,6%; die ÖVP schaffte es 12,2% der Wahlberechtigten für sich zu begeistern, das Team Köfer kam auf 7,2%. Weder Grüne und NEOS, noch eine der neu kandidierenden Parteien konnte die 5%-Hürde überwinden. Für die Bürgerbewegung „Vision Österreich“ liegt einer der Gründe auch darin, dass man von den Mainstreammedien großteils ausgegrenzt wurde und sich so kaum einer breiten Öffentlichkeit präsentieren konnte. Für die ÖVP stellt der knappe Zugewinn laut einem Bericht in der Wiener Zeitung einen Erfolg dar, der „Türkis Rückenwind verleiht“. Der bisherige Landeshauptmann war am Wahlabend recht schmähstad, auch angesichts der Tatsache, dass sich eine Drei-Parteienallianz gegen ihn ausginge. Seitens der ÖVP hat man aber angekündigt, die Koalition mit der SPÖ fortsetzen zu wollen.
Und in der 1,3 Millionen Einwohner zählenden baltischen Republik Estland wurde bei den Parlamentswahlen die bisherige Premierministerin trotz ihrer in der Bevölkerung nicht unumstrittenen Ukraine-Politik im Amt bestätigt, ihre liberale Reformpartei gewann sogar leicht dazu. Der in so mancher Umfrage mit Siegespotential ausgestattete rechtspopulistische Herausforderer, der die staatliche finanzielle Unterstützung für die Ukraine in Hilfen für die von einer hohen Inflation geplagten Bevölkerung einsetzen wollte, kam zwar noch knapp auf Platz zwei, musste aber überraschenderweise sogar leichte Verlust einstecken. Die bisherige Drei-Parteien-Regierungskoalition behielt ihre Mandatsmehrheit und könnte daher weitermachen.
Das rechte Maß bei Wahlgängen zu treffen ist eine der großen Herausforderungen unseres aktuellen demokratischen Systems. Die Nichtwähler unberücksichtigt zu lassen, birgt demokratiepolitischen Sprengstoff. Ebenso führen Mindesthürden für den Einzug in die politische Vertretung, die sowohl in Kärnten als auch in Estland bei 5 % liegen, dazu, dass eine weitere Gruppe aus der Bevölkerung in der politischen Willensbildung nicht berücksichtigt wird. In Kärnten waren das in Summe immerhin etwas mehr als 9 % derer, die ihre Stimme abgegeben haben. Eine Berücksichtigung dieser Fallstricke wird über kurz oder lang notwendig sein, um Menschen weiterhin im „Demokratie-Boot“ zu behalten.
Besorgniserregend war diesbezüglich auch eine von SORA für das ORF-Magazin „Menschen & Mächte“ in Auftrag gegebene Umfrage anlässlich einer Sendung zur Ausschaltung des Parlaments 1933. Demnach hielten es nur mehr 80% der Befragten mit der Demokratie, 47% bevorzugten eine Expertenregierung, 24% einen starken Führer, 11% ein kommunistisches System und immerhin gar 9% eine Militärregierung.
Was im Großen wirken soll, wird immer im Kleinen grundgelegt. Wichtig ist es daher, dass wir das rechte Maß in unserem eigenen Leben finden, um es dann auch im Großen und Ganzen zu etablieren. Eine wachsende Zahl von „Anders-Denkenden“ hat sich diesbezüglich schon auf den Weg gemacht. An ihrem Beispiel wird sich weisen, ob der Quantensprung gelingt, den unsere Gesellschaft dringend zur Weiterentwicklung und zum Überleben braucht.
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