Der Weisheit letzter Schluss – Unter Generalverdacht
Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 38/23
Die Unschuldsvermutung ist tot – es lebe der Generalverdacht. So weit, so zynisch. Und doch nicht so weit hergeholt, schaut man sich die gesellschaftliche Entwicklung, nicht nur im Bereich der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit, sondern generell an.
Das Misstrauen ist allgegenwärtig. Das mag durchaus verständlich sein, wenn man sich zahlreiche Ereignisse der letzten Jahre anschaut. Eine allgemeine Berechtigung erfährt es dadurch aber nicht. An diesem unseligen Trend haben alle Beteiligten ihren Anteil, nämlich die vermeintlichen Volksvertreter und die Staatsgewalt ebenso wie die Bürger und das „Volk“. Wer dem anderen Eigenverantwortlichkeit und Hausverstand abspricht, braucht sich nicht wundern, wenn ihm mangelnde Vertrauenswürdigkeit und Machtmissbrauch unterstellt wird.
Erkennt man ausschließlich korrupte Politiker auf der einen und rebellierende Bürger, die sogar als mutmaßliche Staatsverweigerer angeprangert werden, auf der anderen Seite, dann zerstört man die Basis für ein gedeihliches Zusammenleben. Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt das Gesellschaftsgefüge gehörig durcheinander und fördert das Wegdriften der Demokratie in eine Autokratie und im schlimmsten Fall in eine Diktatur.
Es ist zugegebener Maßen nicht einfach, dem uns tief eingewurzelten Hobbs’schen Weltbild, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist, zu widerstehen. Aber es ist dringend notwendig, wenn wir uns weiter als Gemeinschaft verstehen wollen – trotz aller Unterschiede, die ja auch eine Bereicherung darstellen.
Auch der Ruf nach der Justiz, der auf beiden Seiten sehr schnell erklingt und der einerseits nonkonforme Staatsbürger immer öfter vors Verwaltungsgericht (Stichwort „Schulverweigerer“) und (ehemalige) Politiker in die Fänge der Staatsanwaltschaft bringt, ist in einem Rechtsstaat zwar legitim, aber nicht immer das beste Mittel der Wahl. Recht hat nämlich mit Gerechtigkeit nichts zu tun, das lernt jeder Jus-Student schon in einer der ersten Vorlesungen. Zudem ist man vor Gericht – wie auch auf hoher See – ausschließlich in „Gottes Hand“. Wer die finanziellen Mittel hat, um einen findigen Anwalt zu bezahlen, hat den Gerichtssaal „aus Mangel an Beweisen“ auch schon als freier Mensch verlassen. Und das ist prinzipiell auch gut so. Genau so wie die Unschuldsvermutung, die wir einander gewähren sollten und die den unsäglichen Generalverdacht – auf beiden Seiten – dringend ablösen muss. Der Schritt zur Lynchjustiz, auch wenn sie nur psychisch vollzogen wird, ist sonst nämlich nur ein kleiner.
Warum ich mich diesem Thema in dieser Woche ausführlich widme? Weil es – etwa neben zahlreicher Verwaltungsstrafverfahren wegen Schulpflichtverletzungen und bevorstehenden Prozessen gegen Ex-Politiker – das eine oder andere Ereignis gibt, bei dem sofort ein sehr undifferenzierter Aufschrei durch die Bevölkerung geht.
Da war vor einiger Zeit von Grundstückdeals des der ÖVP zugehörigen Gemeindebundpräsidenten Alfred Riedl die Rede, der auch Bürgermeister im niederösterreichischen Grafenwörth ist. In seiner Gemeinde übergreifenden Funktion dürfte er zurücktreten, Ortschef möchte er aber bleiben.
In Wien gab es kürzlich eine Anzeige bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaastanwaltschaft (WKStA) gegen einige Funktionäre der SPÖ, die Kleingartengrundstücke erwarben, die kurz danach zu lukrativem Bauland umgewidmet wurden. Der neue Vorsitzende der Sozialdemokraten Andreas Babler hat diesbezüglich eine Untersuchung und Konsequenzen angekündigt.
In solchen Zusammenhängen stellt sich immer auch die Frage, ob Politiker ein höheres Maß an Integrität an den Tag legen müssen als der stinknormale Bürger. Ich denke: Ja! Denn sie sind zwar Menschen aus der Bevölkerung, haben aber durch die Macht, die ihnen durch ihre Funktion oder ihr Amt verliehen wurde, auch eine größere Vorbildwirkung. Zudem sollten sie den Informationsvorsprung, den sie dadurch in der Regel besitzen, nicht zu ihren Gunsten nutzen, sondern im Dienste der Allgemeinheit agieren.
Und dass ehemalige Politiker sich aufgrund ihrer „Eskapaden“ bzw. ihres „Machtrausches“ während ihrer Amtszeit wie etwa Ex-Kanzler Kurz vor Gericht und damit vor dem Volk verantworten müssen, ist absolut nachvollziehbar. Wenn diesem Gerichtsverfahren allerdings ein mediales „Scherbengericht“ vorausgeht, dann widerspricht auch das dem Grundprinzip der Unschuldsvermutung.
Und damit lasse ich es diesmal mit dem Aktuellen bewenden und widme mich abschließend einer grundlegenden Frage: Was aber ist ein (Aus-)Weg in eine wirklich gerechte Gesellschaft? Diesen haben sich zwar schon viele gewünscht, etliche Philosophen haben sie in ihren Ausführungen beschworen, aber kein noch so rühriger Staatenlenker konnte sie bislang tatsächlich in die Realität umsetzen.
Das liegt zum einen sicher an der Größe der Aufgabe; zum anderen aber auch daran, dass es ein hohes Maß an persönlicher Reife – um nicht zu sagen Weisheit – , Redlichkeit, Reflexions- sowie Kritikfähigkeit braucht. Diese ist wohl eine Frage der Bildung. Womit wir aus meiner Sicht bei des Pudels Kern angelangt sind: Ein Bildungssystem, das bloß auf Wissensvermittlung, Theoriebildung und Laborsituationen setzt, vernachlässigt die für das Reifen einer Persönlichkeit nötigen Grundtugenden, die den Heranwachsenden zum einen vorgelebt und zum anderen von ihnen „by heart“ erprobt werden müssen. Wie solche Bildungsräume gestaltet werden können, dazu gibt es schon die eine oder andere blendende Idee, die allerdings staatlicherseits nicht anerkannt bzw. sogar „verboten“ ist, weil sie den geltenden Konventionen widerspricht. Auf diese Weise aber reproduzieren wir genau das, was wir eigentlich verändern wollen. Ein Teufelskreis, der aber zu durchbrechen ist, wenn jeder selbst Verantwortung übernimmt und sie dem anderen auch zugesteht. Und: Wenn Misstrauen und Generalverdacht wieder den Platz einnehmen, der ihnen zusteht: nämlich am unteren Ende der Werteskala.
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