Der Weisheit letzter Schluss – Soziale Kontrolle

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 20/24

Es geht weiter rund in dieser Welt, das Große und Ganze bahnt sich unbeirrt seinen Weg ins Kleine und damit ins persönliche Umfeld. „Voi deppert“ könnte man dabei werden angesichts der Probleme, die uns tagtäglich in den Nachrichten, aus den Medien oder der direkten Nachbarschaft präsentiert werden. Das meiste scheint unlösbar – und ist es für jeden Einzelnen wohl auch. Das Vertrauen in die, denen wir das eigentlich zugetraut haben, schwindet von Tag zu Tag; man hält sie mitunter nur noch für arme Würstchen, die das Stakkato der Ereignisse vor sich her treibt. So versuchen sie sich, das verlorene Zutrauen wieder zurück zu erobern, in dem sie dem mitunter Martialischen frönen. Das Verbreiten von Gerüchten, Drohungen – wozu auch das Verbreiten von Angstszenarien zählt – oder gar Angriffe sind immer schon probate Mittel gewesen, um Macht zu demonstrieren. Krieg gegen etwas oder jemanden zu führen erweckt den Eindruck, man hätte das Heft in der Hand. In der Regel will diese „Waffe“ wohl eher davon ablenken, dass man die eigentlichen Herausforderungen nicht zu bewältigen im Stande ist. Auf diese Weise wird auch soziale Kontrolle ausgeübt – auch über jene, die sich als Fans dieser Mittel verstehen.

Mit dem Begriff, den ich aufgrund eines Zitats aus der BBC-Serie „The Hour“ aus 2011, deren beide Staffeln derzeit auf ARTE zu sehen sind, aufgeschnappt habe („Verbrechen als Mittel sozialer Kontrolle“), ist Folgendes gemeint: Sie veranlasst Menschen, auf Basis vorgegebener Wertvorstellungen, Normen und Rollenerwartungen, Regeln und Gebote einzuhalten, weil man andernfalls mit Sanktionen rechnen muss, was auch zur Internalisierung führen kann. Das bedeutet, dass man sich an Vorgegebenes auch dann hält, wenn es keinen Druck von außen (mehr) gibt.

In der besagten Serie geht es um das berufliche und private Leben der Journalisten einer BBC-Nachrichtensendung mit dem titelgebenden Namen vor dem Hintergrund der Weltpolitik aus den Jahren 1956 und 1957. Ich staune immer wieder, wie sich die Szenarien mit jenen der Gegenwart gleichen: Drohungen mit dem Atomkrieg, Krise im Nahen Osten, Maulkorberlässe bezüglich Berichterstattung, Rassismus und Nationalismus, schwache Politiker, die sich durch ihre Agenda lavieren und noch vieles mehr; damit einhergehend auch das mehr oder weniger starke Einwirken von sozialer Kontrolle.

Der Nahost-Konflikt ist um eine Facette reicher, seit der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof (IStG) in Den Haag, Karim Khan, Haftbefehle gegen Protagonisten des Gaza-Krieges beantragt hat, unter ihnen nicht nur der Anführer der Hamas in Gaza, Yahya Sinwar, sondern auch der israelische Verteidigungsminister Joav Galant und sogar der Premierminister Israels Benjamin Netanyahu. Es erfolgte ein internationaler Aufschrei: für den US-Präsidenten Joe Biden ist dieser Schritt „unverschämt“, für den österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg „nicht nachvollziehbar“. Für ihn erwiese sich eine solche Maßnahme, die ja noch von den Richtern am IstG genehmigt werden muss, ein Bärendienst am Völkerrecht. Khan selber steht ob seiner Härte und seinem muslimischen Hintergrund immer wieder in der Kritik; letzterer lässt sich nun bestens ausschlachten, um seinem Ansinnen einen schalen Beigeschmack zu geben. Tatsächlich aber möchte er (siehe oben) Protagonisten auf beiden Seiten zur Verantwortung ziehen. Schallenbergs Einwand:  „Wir wissen alle, dass dies eine asymmetrische Auseinandersetzung ist: Auf der einen Seite steht mit Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten, auf der anderen eine Terrororganisation, die alle Juden vertreiben und den Staat Israel zerstören will.“

Auch in der Berichterstattung zum Thema tut man sich schwer, weil israel-kritische Berichterstattung oftmals mit Antisemitismus gleich gesetzt wird, was zwar tatsächlich auch passiert, aber eben nicht durchgehend. Es muss möglich sein, das Vorgehen einer Regierung und verantwortlicher Politiker differenziert zu betrachten und Fehler aufzuzeigen. Auch die USA haben sich diesbezüglich nicht mit Ruhm bekleckert: der Fall des seit Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis inhaftierten Investigativjournalisten Julian Assange spricht Bände, wird er doch als Spion gebrandmarkt und mit lebenslanger Haft bedroht. Seinem Verteidigerteam ist nun ein wertvoller Erfolg gelungen. Assange wird ein weiterer voller Berufungsprozess gegen den Auslieferungsantrag der Vereinigten Staaten ermöglicht. Mehr war juristisch vorerst nicht zu erreichen. Die beurteilenden Richter haben den Zusicherungen der USA, die sie gefordert haben, offenbar keinen Glauben geschenkt. Menschlich gesehen geht die Tragödie des wegen dieser Torturen mittlerweile schwer Erkrankten aber weiter und es steht nach wie vor die Frage im Raum, ob er dieses Verfahren überlebt. Ungebrochen ist die Tatkraft seiner Frau Stella, die in einem Statement nach der Entscheidung dazu aufrief, sich für die endgültige Freilassung ihres Gatten einzusetzen. Es geht um eine politische Entscheidung und die Bereitschaft der USA als Kläger das Verfahren einstellen zu lassen.

Das Magazin fürs FreiSein „Unsere ZeitenWende“ ist schon seit seiner Gründung im Juni 2023 unter den Aktivisten für eine Freilassung von Julian Assange. So wird es vom 3. (dem Geburtstag von Assange) bis zum 19. Juli 2024 eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Kunst für Assange“ mit einem bunten und sehenswerten Programm im Amerlinghaus in Wien geben. Ein aktueller Beitrag des Magazins beschäftigt sich mit einem Vorzeigejournalisten des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, nämlich Karl Kraus, dessen 150. Geburtstages damit gedacht wird. Das Wunderbare an Geschichten wie diesen ist, dass es zu jeder Zeit und unter jeglichen Bedingungen sowie in verschiedensten Gesellschaftsbereichen immer Mutige und Non-Konforme gegeben hat, die sich über die soziale Kontrolle seitens der Mächtigen hinweggesetzt und damit Wirkung erzielt haben – wenn auch manchmal erst posthum.

Journalisten werden ja in allen Teilen der Welt stets einzuschüchtern versucht. Ein besonders subtiles Mittel sind so genannte Slapp-Klagen. Dabei geht es um rechtsmissbräuchliche Klagen, mit denen sowohl kritische Journalisten als auch NGOs einzuschüchtern versucht werden. Um sich die dadurch entstehenden Probleme zu ersparen, die selbst dann entstehen, wenn man den Prozess gewinnen würde, schrecken die einen oder anderen Bedrohten vor der Weiterverbreitung ihrer Recherchen zurück. Auch hier tut soziale Kontrolle ihre Wirkung. Und um es mit Alexander Schallenberg zu sagen: Das ist ein Bärendienst – an der gesamten Demokratie nämlich.

Auch der Aufstand in Neukaledonien, eines u.a. wegen der wichtigen Nickelvorkommen immer unter französischer Herrschaft stehenden Überseegebietes, hat seine Wurzeln in der Vergangenheit, insbesondere im 2021 abgehaltenen dritten Referendum für die Unabhängigkeit der Insel. Wegen der angeordneten Maßnahmen anlässlich der Covid19-Pandemie konnten nur rund 43 Prozent der Berechtigten an der Abstimmung teilnehmen – von ihnen stimmten nur 3,5 % für die Unabhängigkeit. Einer Verschiebung der Entscheidung aufgrund dieser Umstände auf einen späteren Zeitpunkt wurde von den Verantwortlichen in Frankreich nicht zugestimmt. In den beiden vorangegangenen Abstimmungen, an denen jeweils mehr als 80% teilnahmen, kam es jeweils zu einem wesentlich knapperen Ergebnis. 2018 sprachen sich 43,6 %, 2020 sogar 46,7 % für eine Unabhängigkeit aus. Das Fass zum Überlaufen brachte eine verfassungsrechtlich offenbar notwendige Veränderung des Wahlrechts. Bislang durften nur Bürger, die sich bis 1998 als Einwohner der Inselgruppe eingetragen haben, zu den Wahlen gehen, was der einheimischen Bevölkerung einen Vorteil gegenüber den zugezogenen Franzosen einbrachte. Nunmehr soll eine zehnjährige Zugehörigkeit zu Neukaledonien dafür genügen. Die als Separatisten bezeichneten Unabhängigkeitsbefürworter waren bisher laut Medienberichten für einen Kompromiss, der immer noch bis 1.7.2024 möglich wäre, nicht zu haben. Es handelt sich hierbei um eines jener Dramen, die dazu führen, dass die Nichtgehörten und zuletzt sogar vor den Kopf Gestoßenen sich für eine gewaltsame Lösung des Problems entscheiden, obwohl sie sich der Tatsache durchaus bewusst sind, was sie damit riskieren – nämlich mitunter die Sache selbst.

Noch einmal zurück in den Nahen Osten. Die Beileidskundgebungen für den bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen iranischen Präsidenten, neben dem auch der Außenminister des Landes und weitere Menschen den Tod fanden, hielten sich in engen Grenzen. Die Kondolenz des EU-Ratspräsidenten Michel sorgte kurzfristig sogar für Aufregung. Der Iran wiederum versuchte das Unglück mit den Sanktionen zu verknüpfen, die dem Land seit Jahren auferlegt sind, handelt es sich bei der Unglücksmaschine um ein Gerät aus 1979, das aufgrund dieser Maßnahmen nicht ausreichend gewartet bzw. durch ein Neues ersetzt werden konnte.

Wesentlich größer aber ist die Aufregung, dass Norwegen, Spanien und Irland mit Wirkung vom 28. Mai dieses Jahres den Staat Palästina anzuerkennen planen. Israel zog daher umgehend die Botschafter aus diesen Ländern ab, weil es diesen Schritt nicht nur für einen Affront hält, sondern auch als Beitrag zur weiteren Eskalation der Lage, da man mit diesem Schritt den Hamas-Terror legitimiere. Ungeachtet dessen planen auch Malta und Slowenien einen palästinensischen Staat anzuerkennen. „Die Palästinenser haben ein grundlegendes, unabhängiges Recht auf einen eigenen Staat. Sowohl Israelis als auch Palästinenser haben das Recht, in Frieden in getrennten Staaten zu leben. Es kann keinen Frieden im Nahen Osten ohne eine Zweistaatenlösung geben“, war dazu in einer Pressemitteilung der norwegischen Regierung zu lesen.

Dagegen nimmt sich die Verwunderung, dass der Hitler-Käfer (Anophthalmus hitleri) seinen Namen behalten darf, klein und unbedeutend aus. Aus der Internationalen Kommission für Zoologische Nomenklatur war dazu verlautet worden: „Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen, ob Namen beleidigend oder ethisch nicht vertretbar sind, denn das ist eine sehr subjektive und persönliche Angelegenheit.“ Auf diese Weise entzieht man sich der woken sozialen Kontrolle der westlichen Welt. Die Entscheidung könnte aber auch anders gedeutet werden, handelt es sich bei diesem Insekt doch um einen etwa fünf Millimeter langen, braunen, räuberischen Laufkäfer ohne Augen.

Bei einem Treffen der G7-Finanzminister in dieser Woche in Stresa in Norditalien soll darüber entschieden werden, ob der Ukraine für zusätzliche Waffenlieferungen sowie für den Wiederaufbau ein Darlehen in der Höhe von 30 Milliarden Euro aus dem konfiszierten russischen Staatsvermögen von 270 Mrd. Euro gewährt werden soll. Das entfacht die neuerliche Diskussion, ob der aktuell eingefrorene Betrag entweder als Sicherstellung für eine Leihe zur Verfügung gestellt oder der Kredit selbst aus diesem Vermögen vergeben werden soll. Unter den G7 herrscht dazu keine Einigkeit. Mit einer Beschlagnahmung und Veräußerung der russischen Vermögenswerte würde man internationales Recht brechen, meinte etwa die Chefin der EU-Zentralbank Christine Lagarde. Aus den USA kam dazu zuletzt folgender Vorschlag: Man könne – ohne sich gegen internationales Recht zu stellen – damit ein umfangreiches Darlehen an die Ukraine mobilisieren, dessen Zinsen aus den jährlichen Gewinnen des eingefrorenen russischen Staatsvermögens gezahlt werden könnten. Die schon länger anhaltende diesbezügliche Diskussion nervt die Ukraine langsam. Für Olena Halushka, die Leiterin des Internationalen Zentrums für den ukrainischen Sieg, sind die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen für Europa weitaus schlimmer als eventuelle Reputationsrisiken, die mit der Verwendung russischer Vermögenswerte verbunden wären, wenn diese der Ukraine vorenthalten würden und das Land den Krieg verlöre.

Kommen wir abschließend zurück nach Österreich und ganz zuletzt noch in einen sehr persönlichen Bereich. Im Zuge der bevorstehenden EU- und Nationalratswahlen nimmt die „Affäre“ um die grüne Spitzenkandidatin für den EU-Wahlgang immer skurrilere Züge an. In neuen Beiträgen dazu im deutschen Spiegel, dem STANDARD, dem Investigativ-Blog des Journalisten Michael Nikbakhsh und einer Diskussion zwischen Michael Fleischhacker und Armin Thurnher in der Kleinen Zeitung wird weiter an der Notwendigkeit des Rücktritts von Lena Schilling geschraubt. Sowohl sie als auch die Grünen bleiben aber bei ihrer bisherigen Linie, was ihnen bei beiden Wahlgängen durchaus beträchtlich schaden könnte. Profitieren könnte davon die in der Vorwoche im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellte Liste Petrovic der ehemaligen Grünen Klubobfrau und Parteichefin sowie langjährigen niederösterreichischen Landesvorsitzenden. Sie präsentierte sich nach anfänglicher Nervosität authentisch und kämpferisch, scheute auch konfrontative Themen – wie die aus ihrer Sicht notwendige Aufarbeitung der Covid-19-Zeit – nicht und wirkte – assistiert von zwei ihrer Mitstreiterinnen, der freien Bezirksrätin Monika Henninger und der Stuntfrau und Autorin Nora Summer – zielgerichtet und trotz des auch von ihr als Herausforderung titulierten Weges zum Einzug in den Nationalrat erfolgsbewusst.

Ein Thema, das für Madeleine Petrovic auch auf der Agenda steht, ist die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf jeden Einzelnen. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) weist offenbar eine beträchtliche Lücke auf, die zum Beispiel unter vielen anderen auch Der SPIEGEL und Der STANDARD nutzen. Wenn man ihre Webseite besucht, hat man die Wahl zwischen Bezahlen oder der Zustimmung zu Tracking und Werbung. Diese als „pay oder okay“ bezeichnete Möglichkeit, die juristisch noch nicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft wurde und daher als legitim gilt, unterminiert die Intention der DSGVO den Schutz der Persönlichkeitsrechte betreffend. Aus diesem Grund haben mehrere Datenschutzorganisationen schon im Februar einen offenen Brief an das „European Data Protection Board“ verfasst, in dem sie auf dieses Schlupfloch hinweisen. Wenn man nicht die Möglichkeit zur grundsätzlichen Ablehnung aller dieser Optionen hat, dann wird man Opfer der im Internet ohnehin ständig grassierenden sozialen Kontrolle. Diese sollte man aber nicht so einfach jenen überlassen, die davon profitieren. Zudem sollte man den Schaden, den ein solches Vorgehen verursacht, nicht unterschätzen. Der Rückzug aus allen digitalen Aktivitäten ist eine logische, wenn auch drastische Folge. Andererseits gibt man damit auch die vielen positiven Möglichkeiten auf, die das einstmals als „frei“ bezeichnete Internet trotzdem noch hat. Es lohnt sich also, sich auch in diesem Bereich für eine bessere Welt einzusetzen.

Um sich nicht – wie anfangs befürchtet – „voi deppert“ werden zu lassen, sind überschaubare Schritte im Kleinen immer ein guter Anfang; sie sind quasi oft unbemerkte Pioniertaten, die dereinst auch im Großen wirksam werden und der Welt á la longue einen menschlicheren Ton verleihen.

Bildrechte Julian Assange: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Julian_Assange_August_2014.jpg

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WG – 2024 KW20-DE-FB+IPHP Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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