Der Weisheit letzter Schluss – Schuld und Schulden
Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 18/23
Unsere christlich geprägten Gesellschaften sind vom Sündenfall, der gerne auch als Erbschuld bezeichnet wird, traumatisiert. Dieser Mythos bildet die Grundlage für unseren Umgang sowohl im Finanz-, als auch im Rechtssystem. So sind Schulden häufig auch mit einem Schuldgefühl verbunden und begangene Fehler müssen durch Bestrafung – mitunter auch durch eine Gefängnisstrafe – gesühnt werden.
Im Rahmen meiner theologischen und religionspädagogischen Ausbildung habe ich gelernt, die von manchem Christen wortwörtlich genommene Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, u.a. auch tiefenpsychologisch. Mythen – und als solche sehe ich diese und auch andere Bibelgeschichten – beschreiben keine historischen Ereignisse, sondern wollen uns mit ihren Bildern und Symbolen die Welt besser verständlich machen.
Im Fall der auch als Geschichte von Adam und Eva bekannten Darstellung gilt es sich Folgendes zu veranschaulichen:
Das darin geschilderte „Paradies“ gibt den pränatalen Urzustand des Menschseins im Mutterbauch wieder, eine Situation nach der wir uns zeitlebens hin- oder besser gesagt zurück sehnen. Wir sind dabei mit allem Lebensnotwendigen und -wichtigen versorgt. Mit der Geburt beginnt dann das wirklich irdische Dasein, das Leben in der Dualität unserer menschlichen Existenz, herausgefallen aus der paradiesischen Einheit.
In der biblischen Erzählung wird das so beschrieben:
Adam (hebr. der Mensch, auch für das männliche Prinzip stehend), in der Schöpfungsgeschichte aus der Ackererde (hebr. Adamah und das weibliche Prinzip verkörpernd) geschaffen, begegnet Ewa (hebr. Leben). Gemeinsam entdecken sie in der Mitte des Paradiesgartens (also im Zentrum des Seins) den Baum des Lebens, der gleichzeitig der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist. Dort taucht plötzlich die Schlange auf, die alten vorbiblischen Mythen entsprechend ein Symbol für Erkenntnis ist (und nicht, wie später interpretiert, für das Böse steht). Ewa, das Leben, fühlt sich von ihr angesprochen. Sie überzeugt Adam, den Menschen, von den Früchten des Baumes zu essen (vom Apfel ist in der ganzen Erzählung keine Rede) – und mit dieser Initiation tritt der Mensch vollends ins Leben. Es ist der Geburtsvorgang, den jeder von uns erlebt hat, es ist die im Lauf der ersten Lebensjahre gewonnene Erkenntnis, das Leben nicht im Urzustand möglich ist, sondern zwischen den Polen von Gut und Böse stattfindet. Es ist die so genannte Vertreibung aus dem Paradies, die kein Verstoßen irgendeines Gottes ist, sondern ein zum Leben zugehöriger Vorgang, an dem keiner vorbeikommen kann, der wirklich leben will.
Nun ist es nicht verwunderlich, dass Institutionen wie die christlichen Kirchen, denen es nicht um den Menschen, sondern um die Macht über selbigen geht, die Erzählung in ihrem Sinn interpretieren und uns zu von Geburt an zu Schuldigen machen. Und diese Sichtweise hat sich – leider und im Widerspruch zur eigentlichen Erkenntnis – in alle unsere „westlich-zivilisierten“ Gesellschaftsbereiche ausgebreitet und macht uns enorm zu schaffen. So werden wir in einem permanenten Wiedergutmachungsmodus gehalten, haben ein Geldsystem geschaffen, dass nur funktioniert, weil wir uns laufend verschulden und werden dann, wenn wir es nutzen, auch noch zu Schuldigen. Daraus resultiert wie in einem Teufelskreis auch die Möglichkeit, zum Verbrecher zu werden, oder theologisch gesprochen zum Sünder. Interessant auch, dass das Wort Sünde in seiner Urbedeutung nichts anderes meint, als die eigene Mitte zu verfehlen, also nicht dem gerecht zu werden, was man an Begabungen, Talente und Fähigkeiten mitgebracht hat, um der Welt und sich selbst ein glückliches Leben zu bereiten.
Wenig verwunderlich ist es daher auch, dass die auf diese Weise Verschuldeten nun zur Rechenschaft gezogen werden, in dem man ihnen eine würdevolle Existenz abspricht und sie für ihr auf Pump gebautes Lotterleben in die Armut und zuletzt in (Privat-)Konkurs schickt, in dem man alle wesentlichen Rechte des Lebens an Dritte abgeben – und sich selbstverständlich auch schuldig fühlen muss.
Das Thema, das in unserer Gesellschaft selbstverständlich permanent aber hauptsächlich im Untergrund vorhanden war, kommt nun an die Oberfläche, im Kleinen wie im Großen. Und da das Geld zwar einfach wieder verschwindet, wenn Schulden zurück gezahlt werden, genauso wie es einfach aufgetaucht ist, als jemand einen Kredit genommen hat, hat es sich dennoch in der Welt realisiert und ist bei einem Bruchteil der Menschheit quasi hängen geblieben – und von dort aus regiert es alles Lebendige.
Das zeigen auch die aktuellen News dieser Woche, wie die auf den blauen Seiten des Staatsfunks geschilderte Überschuldung, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Eine aktuelle Armutsstudie zeigt, dass in Österreich rund 200.000 Menschen massiv von Armut betroffen sind. Auch zeigt sich, dass die Einmalhilfen der Bundesregierung zur Abgeltung der Teuerung, verkauft unter dem Motto „Die Kaufkraft stärken“, die Inflation antreiben. Österreich liegt dabei nicht nur über dem europäischen Durchschnitt sondern auch weit vor Deutschland.
Die verantwortlichen Politiker aber bleiben lieber bei business as usual und berufen sich wieder einmal auf Experten, die angeblich keinerlei Nutzen in der Senkung der Mehrwertsteuer und dem Eingriff bei Preisen, zumindest für Grundnahrungsmittel, sehen und dann auch noch ein Greißlersterben befürchten, wenn man so handelte. Wo bitte sind die Greißler in einem Markt, den sich vier große Player aufgeteilt haben? Sie sind schon längst tot oder bieten, um selbst überleben zu können, nur noch im Luxussegment an. Das hat auch Krone-Kolumnist Michael Pommer dazu veranlasst, einen „Brief an den Bundeskanzler“ (online leider hinter einer Bezahlschranke) zu schreiben, um ihm ordentlich die Leviten zu lesen.
All das wäre ein aufgelegter Elfmeter für „linke“, dem Menschen und nicht der Wirtschaft, zugewandte politische Bewegungen. Doch die einen sind schon länger nur mit sich selbst beschäftigt bzw. haben ihre Ideale vor Jahrzehnten an den „Dritten Weg“ verkauft; und die anderen wollen sich weiterhin partout kommunistisch nennen. Damit machen sie sich aber für das Gros der Bevölkerung unwählbar. Das vertraut lieber auf eine populistische Partei, die aber in ihren Grundsätzen und ihrem Menschenbild neoliberal ist und von der zu belohnenden Leistung der einheimischen Bürger faselt. Und dennoch wird sie wohl in Kürze eine nächste Chance bekommen, weil die Wähler zum einen sehr vergesslich sind und sich zum anderen (noch) keine brauchbaren Alternativen anbieten.
Im Zusammenhang mit Verschuldung ist zuletzt immer wieder von Kinderarmut und eine diese bekämpfende Kindergrundsicherung die Rede, auch in Österreich. Damit soll – so ist es zumindest in Deutschland schon konkret geplant – das Kindergeld und alle Kinder- bzw. Familienleistungen abgelöst werden. Widerstand regt sich in der dort regierenden Ampelkoalition allerdings von Seiten der neoliberalen FDP, die meint, dass eine Erhöhung der Unterstützung für einkommensschwache Familie einem Leistungsanreiz, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, widerspräche. Zudem würde eine Vollausstattung der Grundsicherung einfach zu viel kosten. Zu bedenken ist natürlich auch, dass mit der Vereinheitlichung der Leistungen nicht nur eine Vereinfachung für den Bürger, sondern auch verstärkte Kontroll- und dementsprechend auch Sanktionsmöglichkeiten gegeben sind und damit auch wieder Bedingungen an die Bezieher für deren Erhalt gestellt werden können, ganz abgesehen von der dafür notwendigen Digitalisierung.
Apropos Digitalisierung: In den letzten Wochen und Monaten ist viel von Künstlicher Intelligenz zu lesen, wir sollen also auf eine weitere Alternativlosigkeit unserer Zeit eingestimmt werden. Kürzlich hat der britisch-kanadische Wissenschaftler und KI-Pionier Geoffrey Hinton, der bisher bei Google arbeitete, dem Unternehmen den Rücken gekehrt, um „unabhängig vor den Gefahren durch KI zu warnen“. Hinton sieht im „riskanten Wettstreit der IT-Riesen“ die Gefahr der Verbreitung „von einer Unmenge an Desinformation“. Ganz abgesehen davon rauben alle digitalen Hilfsmittel dem Menschen einen Teil seiner Gehirnkapazität und führen – wie der Hirnforscher Manfred Spitzer in seinem schon vor Jahren erschienenen gleichnamigen Buch polemisch aber fundiert beschreibt – zu „digitaler Demenz“.
Doch die meisten Medien spielen auch hier freudig mit, obwohl die Tageszeitungen anlässlich des Tags der Pressefreiheit mit einem leeren Titelblatt für die Stärkung eben dieser plädiert und einen offenen Brief an die Bundesregierung veröffentlicht haben. Darin bekunden sie ihre Befürchtung, dass die neuen Mediengesetze den ORF auf ihre Kosten zur größten Medienorgel des Landes machen. Möglicherweise geht es ihnen aber doch eher um die Erhaltung der in der vergangenen C-Zeit gewährten Pfründe in Form von Inseraten der öffentlichen Hand, als um eine tatsächlich unabhängige und informative Berichterstattung. Bezeichnend ist auch, dass Österreich in der Rangliste der Pressefreiheit, die alljährlich von „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wird, im Vergleich zum Vorjahr zwar zwei Plätze (von 31 auf 29) gut machen konnten, im Jahr davor aber von Platz 17 auf Platz 31 abgestürzt ist. Mit den neuen Mediengesetzen zu Gunsten des ORF dürfte sich nach einer leichten Erholung heuer der Fall nach unten fortsetzen. Das viel kritisierte Ungarn liegt aktuell an 71. Stelle, Österreich bewegt sich nach und nach in diese Richtung.
Abschließend sei auch erwähnt, dass sich wieder eine „Verschwörungstheorie“, die vor allem aus dem blauen Lager in die Welt gebracht wurde, zu bewahrheiten scheint – und die Regierung damit jener Partei Wasser auf die Mühlen schüttet, deren Machtübernahme sie eigentlich mit allen Mitteln verhindern will: Der schon für Ostern angekündigte Versöhnungsprozess, der dann erst diese Woche vorgestellt wurde und nun doch lieber Aufarbeitungsprozess mit wissenschaftlicher Begleitung genannt wird, droht tatsächlich als Verhöhnungsprozess zu enden.
Mit sich machen lässt dies und das alles eine Bevölkerung, die ihr Leben und ihre Freiheit tagtäglich dem (un)christlichen Schuldprinzip unterordnet. In der Hoffnung, dass einmal alle Schuld(en) getilgt sein werden – und wenn auch erst in einem vorgestellten Leben nach dem Tod – unterwirft sie sich dem Diktat des durch die Staats-Gewalt scheinbar „Gott gegebenen“ und dümpelt zunehmend ohnmächtig und durch diverse thematische, mediale oder persönliche Ablenkungsmechanismen gelähmt durch Raum und Zeit dahin. Dabei braucht es Menschen, die aus dem Bibelmythos von der Vertreibung aus dem Paradies tatsächlich das schöpfen, was zum Leben nötig ist, nämlich ein Bewusstsein für die Dualität der Existenz – aber auch den Auftrag, diese mit den gegebenen Mitteln zum Wohle aller zu gestalten.
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WG – 2023 KW18-YOUTUBE | Wolfgang Müller | CC BY-SA 4.0 |