Der Weisheit letzter Schluss – Sachzwänge und nötige Alternativen

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 41/23

Die Woche war wieder voll von Ereignissen, die die große Welt bewegen und damit die kleine Welt vor Ort so unbedeutend scheinen lassen. Da ist es schwer, Worte zu finden, die diese Vorgänge beschreiben und kommentieren. Zudem ergeben sich Sachzwänge, die es nahezu unmöglich zu machen scheinen, dem Geschehen gerecht zu werden. Zumal man ja selten selber dabei war. Zumal man auf die Informationen anderer angewiesen ist. Zumal diese Informationen subjektiv gefärbt, im schlimmsten Fall sogar bewusst eingefärbt werden. Framing und Propaganda waren noch nie so präsent wie heute. Und dennoch gilt es das, was man erfahren hat, mit anderen zu teilen, ja, es ist sogar wichtig, um sich eine eigene Meinung bilden zu können, die man im Idealfall auch öffentlich und frei äußern darf. Diese darf natürlich kritisiert werden, es sprengt aber die Grenzen unserer demokratischen Gesellschaften, wenn man dafür gecancelt wird. Diesen Herausforderungen müssen sich – vor allem – jene stellen, die berichten und Meinung machen, also wir Journalisten. Wie in einem meinen vorangegangenen Wochenkommentare angemerkt, ist der Anspruch, objektiv zu informieren aufgrund der angeführten Bedingungen kaum zu erfüllen. Der Anspruch, es mit der nötigen Aufrichtigkeit zu tun, aber besteht. Sachzwänge, die meist mit dem Tribut der Alternativlosigkeit versehen werden, stehen mitunter aber auch dieser dringend benötigten Ehrlichkeit und Transparenz entgegen. Daher braucht es den Mut, in Alternativen zu denken bzw. diese als Möglichkeiten ins Auge zu fassen und sie ins Spiel zu bringen. Diese Vorgehensweise ist ein brauchbarer Weg, um sich der Wahrheit anzunähern.

Einer dieser so genannten Sachzwänge wurde dieser Tage vom österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) als verfassungswidrig beurteilt. Die COFAG, also jene vom damaligen Finanzminister Gernot Blümel ins Leben gerufene Agentur, die Unternehmen bei der Überbrückung der durch die „Corona-Maßnahmen“ bedingten Einnahmenausfälle finanziell unter die Arme griff, wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Die Aufgabenübertragung verstieß dem Spruch der Verfassungsrichter gemäß der Bundesverfassung. Laut VfGH stellt die Tätigkeit der COFAG eine staatliche Verwaltung dar, womit andere Regeln als die bestehenden zur Geltung kommen hätten müssen. Insbesondere kritisiert wird im Spruch die Weisungsfreiheit gegenüber dem Ministerium und, dass kein Rechtsanspruch auf Covid-Hilfen bestehe. Unrechtens war außerdem die Regelung, dass Unternehmen wegen bestimmter Finanzdelikte von Hilfen ausgeschlossen waren. Diese Entscheidung war ein gefundenes Fressen für die Opposition, die eine lückenlose Aufklärung (SPÖ) bzw. einen Untersuchungsausschuss (FPÖ) forderten. Finanzminister Brunner beruhigte umgehend jene, die um ihre Förderungen fürchten. Ein Kommentar im STANDARD-Forum bringt einen wesentlichen Aspekt auf den Punkt, der den auch in diesem Fall wohl von den verantwortlichen Politikern geltend gemachten Sachzwängen eine Absage erteilt: „Es sollte dringend eine öffentliche Debatte über Amtshaftungsklagen geben“, heißt es da und weiter: „Wenn Spitzenpolitiker verfassungswidrige (mutmaßliche, Anm. des Autors) Steuergeldveruntreuung in Milliardenhöhe schon im Vorfeld (!) als ’juristische Spitzfindigkeit’ abtun, sollten daraus strafrechtliche Konsequenzen entstehen – auch wenn breite Teile der Bevölkerung damals dazu applaudierten.“ Gerade von den Verantwortlichen ist zu erwarten, dass sie selbst in heißen Zeiten kühlen Kopf bewahren – was leider viel zu selten vorkommt.

Der Brandherd, der im Nahen Osten durch das menschenverachtende Attentat der Hamas auf Israel und die daraus resultierende militärische Reaktion des Landes unter ihrem Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu gelegt wurde, hat in den letzten Tagen die vorhersehbare Eskalation erreicht, in der es für beide Seiten kein Zurück mehr zu geben scheint. Bemühungen um einen Frieden sind unter diesen Bedingungen zur Aussichtslosigkeit verdammt – und von den Verantwortlichen auf beiden Seiten offenbar auch gar nicht gewünscht. Folgt man deren Aussagen, dann geht es alleine darum, die andere Seite endgültig auszuradieren und damit endlich seinen Frieden zu haben. Kürzlich wurde gemeldet, dass das Al-Ahli-Krankenhaus im Norden des Gaza-Streifens durch eine Explosion zerstört wurde. Viele Menschen starben bei diesem Vorfall, den sich nun beide Seiten in die Schuhe schieben, um den Hass weiter zu schüren und die unsäglichen Kriegshandlungen weiter zu legitimieren. Im Netz kursieren dazu – wie nicht anders zu erwarten war – diese und jene Storys und Narrative. Das Schlimmste dabei ist, dass all das, was wir dazu lesen, auch tatsächlich wahr sein könnte. Wenn ich dem Anspruch der Aufrichtigkeit folge, dann muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, wer für diesen Irrsinn verantwortlich ist. In meiner Wahrnehmung von Konflikten tragen jedenfalls immer alle Beteiligten dazu bei, ob eine Situation eskaliert oder ob sie zu einem guten Ende geführt werden kann.

In einem Interview mit den Oberösterreichischen Nachrichten (hinter der Bezahlschranke) fühlt sich der langjährige Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary aufgrund eines möglicherweise bevorstehenden Einmarsches israelischer Truppen in den Gazastreifen an die Situation im Jahr 2006 und den Krieg im Libanon mit der Hisbollah erinnert. „Was will man damit erreichen?“, fragt er sich. Damals, so El-Gawhary, wurde die Infrastruktur zerstört, nicht aber die Hisbollah. Diese „sitzt seitdem maßgeblich in jeder Regierung in Beirut. Es wurde also strategisch wenig erreicht.“ Problematisch sind für ihn, die „inneren Fronten“ im Westjordanland und jene der Palästinenser in Israel. Die Lösung des Konflikts ist seiner Ansicht nach nicht mit militärischen Mitteln zu erreichen. „Es kann keine Lösung ohne die Palästinenser geben, man muss ihnen eine Perspektive geben. Nur so schwächt man die Position von radikalen Organisationen wie der Hamas oder der Hisbollah“, meint der erfahrene Nahost-Korrespondent.

Die euphemistisch als „Kollateralschäden“ bezeichneten Ereignisse bleiben auch im Rahmen dieser kriegerischen Auseinandersetzung nicht aus. Und sie betreffen nicht nur die Region selbst, sondern sind weltweit zu spüren. Das musste auch der ehemalige griechische Finanzminister und Gründer der linken Graswurzelbewegung DIEM 25 Yanis Varoufakis zur Kenntnis nehmen, als man ihn wegen seiner „prinzipiellen Opposition gegen die israelische Apartheid“, die als pro-palästinensische Äußerung ausgelegt wurde, von der vom Kreisky-Forum und der Wiener Universität organisierten Präsentation seines neuen Buches „Technofeudalism“ um eine Verschiebung bat. Er selbst empfand diesen Vorschlag als Cancelung und möchte einer weiteren Einladung nicht mehr nachkommen, wie der Blog für Science & Politik tkp.at berichtet. Auch hier erkenne ich Sachzwänge auf beiden Seiten, die den großen Konflikt im Kleinen weiterführen. Zumal das Kreisky-Forum damit offenbar auch von ihrem Namensgeber und der von ihm vertretenen Nahost-Politik abzuweichen scheint, in dem es Partei für eine Seite ergreift.

„Jeder Konflikt auf der Welt kann gelöst werden.“ Davon war der kürzlich verstorbene finnische Friedensnobelpreisträger, der Sozialdemokrat Martti Ahtisaari überzeugt und musste dennoch erkennen, dass sich dieser ohne die Mitwirkung der USA nicht verwirklichen lässt. Dennoch hat er Zeit seiner politischen Laufbahn als Außenminister und Präsident des nordischen Landes sowie im Rahmen seiner UNO-Funktionen und als Gründer der Crisis Management Initiative (CMI) kräftig an konstruktiven Friedenslösungen mitgebaut. Sein Vorteil war auch, dass Finnland zu dieser Zeit noch paktfrei war und somit auch als glaubwürdiger und neutraler Vermittler galt. Aber so ändern sich die Zeiten – und wenn die Welt in Machtblöcke aufgespalten wird, wird jede Friedensbemühung um vieles schwerer, weil ihr einseitige Interessen unterstellt werden können.

Apropos linke Politik: Die Sozialdemokraten, die aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation und deren Auswirkungen auf die Menschen (Stichwort: Teuerung), eigentlich alle Trümpfe in der Hand haben sollten, stehen sich gerade massiv selber im Weg. In Österreich ist die SPÖ nach wie vor mit Innenschau beschäftigt, deren Vorsitzender arbeitet hauptsächlich an der internen Statutenreform bezüglich der Wahl des Vorsitzenden und der Mitbestimmung der Mitglieder bei allfälligen Koalitionsabkommen sowie an der von ihm zum Wahlkampfthema erhobenen Millionärssteuer. Dass ihm dabei nach dem burgenländischen Lndeshauptmann nun auch der Linzer Bürgermeister den Rücken zukehrt und nicht mehr für das Parteipräsidium kandidiert, nimmt er zur Kenntnis. Die deutsche Schwesternpartei SPD ist neuesten Umfragen nach – als Kanzlerpartei wohlgemerkt – bei 14 % gleichauf mit den Grünen angelangt und liegt damit meilenweit hinter der CDU/CSU (32%) und der AfD (21%) auf Rang 3. Dabei wäre im den Parteien namengebenden Bereich Soziales so viel zu tun, wie auch der Präsident des österreichische Fiskalrates Christoph Badelt bemerkt. Im zufolge sind 201.000 Menschen, darunter 36.000 Kinder als manifest arm zu bezeichnen, weitere 1,3 Millionen armutsgefährdet. Kritik übt er in einem Pressegespräch anlässlich des Tages der Beseitigung der Armut am politischen Umgang mit dem Thema. Vor allem die Debatte über Kinderarmut orientiere sich nicht am sachlichen Diskurs, so Badelt. „Es geht nur darum, den politischen Gegner anzupatzen.“ Die angeblichen Sachzwänge aufgrund bevorstehender Wahlen liefern leider keine brauchbaren Fortschritte beim Thema.

Und Wahlen gibt es ja immer irgendwo. Zuletzt am vergangenen Wochenende in Polen, wo zwar die regierende rechtskonservative PiS gewonnen hat, drei Oppositonsparteien aber in der Lage sind durch eine Koalition einen Regierungswechsel zu initiieren. Die an zweiter Stelle gelandete liberalkonservative Bürgerkoalition KO des ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk will mit Hilfe des christlich-konservativen Dritten Wegs und des Linksbündnisses Lewica das Land wieder „Richtung Europa führen“. In der EU jubelt man bereits über diesen bevorstehenden Machtwechsel, wiewohl sich die Regierungsbildung noch bis Weihnachten hinziehen könnte, weil davon auszugehen ist, dass der Präsident des Landes, Andrzej Duda, der selbst der PiS angehört, zunächst die stimmenstärkste Partei mit der Regierungsbildung beauftragen wird.

Auch in den USA werden die Weichen für den (Vor-)Wahlkampf gestellt. Seit der Bekanntgabe seiner Kandidatur als unabhängiger Kandidat hat Robert Kennedy Jr. in Umfragen bereits 15 % der Wähler hinter sich versammeln können. Er dürfte dabei wohl in beiden Lagern, sowohl dem republikanischen als auch dem demokratischen in gleicher Weise fischen. Da in den Vereinigten Staaten das Mehrheitswahlrecht gilt („the winner takes it all“) ist aktuell aber nicht davon auszugehen, dass seine Kandidatur erfolgreich sein wird. In dieser Woche hat ein weiterer Kandidat seinen Einstieg in den Wahlkampf bekundet. Cenk Uygur, ein türkischstämmiger Radio- und Internetmoderator und politischer Aktivist verkündete seine Presidental Campaign.

Den aktuellen Sachzwängen muss sich nun auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi beugen, ist doch der bewaffnete Konflikt, in dem sich sein Land mit Russland befindet, weltpolitisch in den Hintergrund getreten. Auch ein Solidaritätsbesuch in Israel wurde ihm von dessen Ministerpräsidenten mit den Worten, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt sei, verwehrt. Und die EU zeigt sich schockiert wegen des Treffens zwischen Ungarns Premier Orban mit Wladimir Putin beim „Seidenstraßen“-Gipfel in Peking.

Und auch den Sport hat die Unbill der aktuellen Weltlage erreicht. Wegen eines Attentats in der belgischen Hauptstadt Brüssel, bei dem zwei schwedische Fußballfans, die das EM-Qualifikationsspiel ihrer Mannschaft gegen die „Roten Teufel“ besuchen wollten, zu Tode kamen, wurde dieses in der Halbzeit auf Wunsch des schwedischen Teams abgebrochen. Es soll nicht wieder aufgenommen werden, nun ist der europäische Fußballverband UEFA am Wort, um die Sache zu klären. Sportlich brisant ist die Situation deswegen, weil es noch um die Vergabe von Platz eins bzw. zwei in der Quali-Gruppe geht, der auch Österreich angehört. Das rot-weiß-rote Team liegt derzeit auf Platz zwei und hat damit bei der Auslosung zur EM im nächsten Jahr schlechtere Karten, also schwerere Gegner zu befürchten. Der Ausgang der abgebrochenen Begegnung könnte also durchaus Auswirkungen auf das Ranking haben. Noch dazu ist man in Österreich trotz der zuletzt eher durchwachsenen Leistungen gegen Belgien (2:3-Niederlage) und Aserbaitschan (mühevoller 1:0-Sieg durch Elfmeter) im siebenten Fußball-Himmel. Diese Zahlenspiele sind der Situation kaum angemessen, ergeben sich aber aus dem Sachzwang, den solche Regelungen auslösen. Der mutmaßliche Attentäter ist Berichten zufolge von der belgischen Polizei erschossen worden, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat sich, was angesichts der Medienberichterstattung nicht verwunderlich ist, am Mittwoch zu diesem Anschlag bekannt.

Abschließend möchte ich noch den österreichischen Politikwissenschafter Gerhard Mangott zitieren, der kürzlich auf X folgendes Posting veröffentlichte: „Um vom russischen Gas unabhängig zu werden, bezieht die EU nun viel mehr Gas aus Qatar und aus Azerbaijan. Qatar finanziert die Hamas, Aserbaidschan hat eine ethnische Säuberung von Armeniern durchgeführt. Wurde da der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben?“ Mangott steht mit dieser Frage wohl nicht allein da, obwohl es durchaus zu befürchten ist, dass man ihn deswegen – wir wissen um die diesbezüglichen Sachzwänge – möglicherweise bald im Regen stehen lassen wird.

Und genau das ist die Tragik unserer Zeit und ihrer tragischen Ereignisse: dass man sich mit einer differenzierten Sichtweise zwischen die Stühle setzt und damit mitunter auch schleunigst fallen gelassen wird. Und genau das gilt es zu ändern. Denn Alternativen gibt es genug, die Welt ist einfach bunter als Schwarz und Weiß. Wir alle dürfen also unsere Perspektive immer wieder von Neuem erweitern. Und das ist notwendig und gut so.

Bildrechtelinks:

Donald Tusk: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Donald_Tusk_(cropped).jpg

Cenk Uygur: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Cenk_Uygur_(27903285441)_(cropped).jpg

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WG – 2023 KW41-YOUTUBE-PC Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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