Der Weisheit letzter Schluss – Recht & Gerechtigkeit
Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 8/24
Dass Recht und Gerechtigkeit zwei Paar Schuhe sind, erlebt nicht nur ein jeder von uns immer wieder in seinem Alltag, sondern erfahren auch angehende Juristen in einer ihrer ersten Vorlesungen im Rahmen ihrer Ausbildung. Dort werden sie auch mit dem Grundsatz „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“ vertraut gemacht. Das ist bedauerlich, könnte man meinen. Doch ein Rechtsstaat ist eben kein Gerechtigkeitsstaat – und wäre er es, was wäre Gerechtigkeit dann? Vergeltung sowie in den USA und Russland propagiert? Lynchjustiz wie in unseligen Zeiten ermöglicht? Und ist Recht in einem Rechtsstaat immer Recht? Die geltende Rechtsordnung kann durchaus Unrecht sein, wie sie sich in Autokratien und Diktaturen zeigt.
Idealistisch betrachtet bedeutete Gerechtigkeit, sowohl der Situation als auch der Person gerecht zu werden. Lassen wir das Philosophieren mal und schauen wir auf das Weltgeschehen der vergangenen Woche.
Da habe ich in meinem letzten Wochenkommentar auf die Ereignisse rund um Julian Assange und Alexej Nawalny hingewiesen und diese ausführlich betrachtet. Mit Vergeltung ist offenbar doch Staat zu machen – der Gerechtigkeit in dem von mir weiter oben beschriebenen idealistischen Sinn wird damit aber nicht Genüge getan. In der Causa Assange gibt es laut seiner Frau Stella einen berechtigten Hoffnungsschimmer; die Gefahr, dass aber alles gegen Assange kippt, ist nach wie vor gegeben. Da ihren Worten zu Folge von den Richtern noch weitere Unterlagen angefordert wurden, rechnet sie mit einer Entscheidung erst nach dem 5. März. Aus ihrer Sicht ist es daher weiter wichtig, sich an allen Ecken und Enden für die Freilassung ihres Mannes einzusetzen.
Der Vorschlag des republikanischen US-Senators in Missouri, Nick Schroer, wenn die Ehre eines Senators verletzt werde und nicht mehr wieder hergestellt werden könne, solle dieser den beleidigenden Widerpart zum Duell herausfordern können, trägt wohl eher nichts zu einer konstruktiven Beantwortung der von mir gestellten Fragen bei.
Auch der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz ist mit seiner 1/3-Verurteilung (in 2 der 3 Anklagepunkte wurde er freigesprochen) im gegen ihn wegen mutmaßlicher Falschaussage im parlamentarischen Ibiza-Untersuchungsausschuss abgehaltenen Prozess nicht glücklich. In Interviews nach dem von Richter Michael Radasztics gefassten Entschluss beteuerte er seine Unschuld und betonte mehrfach, dass das Urteil ungerecht sei. Zudem wolle er Berufung einlegen; vom letztendlich positiven Ausgang des Verfahrens sei er überzeugt. Begründet wurde die Verurteilung zu achtmonatiger bedingter Haft und einer Geldstrafe vom Richter damit, dass Kurz die Frage nach seiner Involvierung in Personalentscheidungen länger als mit einem bloßen Ja zu beantworten gehabt hätte. Das ist für den Ex-Regierungschef nicht nachvollziehbar. In einem ZiB 2-Interview mit Armin Wolf hält er sogar ein politisches Komplott gegen ihn nicht für ausgeschlossen. Diese Sichtweise stärkt ein Beitrag in der Tageszeitung KURIER vom 27.2.2024, in dem von der Verhängung einer Disziplinarstrafe gegen Richter Radasztics berichtet wird, die schon im Mai des Vorjahres ausgesprochen, im Dezember rechtskräftig und erst am Montag, nämlich drei Tage nach dem Urteil gegen Kurz im Rechtsinformationssystem RIS veröffentlicht wurde. Als Staatsanwalt soll er in der Causa Eurofighter seine Pflichten „schuldhaft“ verletzt haben. Zudem soll er 2018 dem ehemaligen Nationalratsabgeordneten Peter Pilz Informationen aus den Ermittlungsakten zukommen haben lassen. Die Verteidiger von Kurz haben wegen dieses angeblichen Naheverhältnisses im Oktober einen Richterwechsel im Prozess gefordert, der abgewiesen wurde. Die Argumentation damals: Radasztics sei ein Freund von Pilz und daher ein Gegner von Kurz. Da diese Angelegenheit nun ans Tageslicht kam, ist nachvollziehbar, dass sich Kurz sicher mit allen Mitteln gegen das Urteil wehren wird. Möglicherweise steht sogar ein „Zurück zum Start“ bevor, wenn aus der disziplinarrechtlichen Verurteilung des Richters doch eine Befangenheit abzuleiten wäre. Die Anwälte von Kurz werden diese Möglichkeit sicher prüfen. Und wenn nicht, wird diese Tatsache wohl Auswirkungen auf den Berufungsprozess haben, der von der Seite des Ex-Kanzlers schon angekündigt wurde, wohingegen sich die Staatsanwaltschaft mit dem Urteil zufrieden zeigte.
Was würde dieser Situation und den darin involvierten Personen gerecht werden? Eine herausfordernde Frage, zumal in einem Gerichtsverfahren wie diesem Aussage gegen Aussage steht und sich die Frage stellt, wer glaubwürdiger rüberkommt bzw. wessen Anwälte die besseren juristischen Kniffe beherrschen. Nicht immer wirkt es so, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – wie es idealtypisch heißt. Tatsächlich spielt es eine Rolle, einen gewieften Anwalt bezahlen zu können, der besagte Fähigkeiten besitzt. Das Rechtssystem und die ihm zugrunde liegende Gesetzgebung sind in ihrer Komplexität leider für den einfachen Bürger nicht wirklich komplett zu durchschauen, was das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht wirklich fördert. Ebenso ist es in verschiedenen anderen Bereichen, wie etwa dem Steuersystem, wo oftmals auch Steuerberater wegen der sich laufend ändernden Rechtslage an die Grenzen ihrer Kompetenz stoßen, ganz abgesehen von den einfachen Bürgern.
Auch das Schulsystem bietet diesbezüglich so seine Herausforderungen; vor allem durch die Tatsache, dass ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Bildung durch eine Unterrichtspflicht gewährt wird. Recht also durch Pflichterfüllung – nicht nur paradox sondern ein Widerspruch in sich. Alle diesbezüglichen Bemühungen von engagierten Eltern, ihrem Nachwuchs einen selbstbestimmten Bildungsweg zu ermöglichen und die „öffentliche Hand“ dazu zu verpflichten, alle Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen, scheitern an diesem verqueren Grundsatz. Zudem sieht der Gesetzgeber und damit die Richter, die diese Entscheidungen zu vollziehen haben, in der Schule bzw. in regelmäßig zu absolvierenden Externistenprüfungen den einzigen Weg, Bildung zu erwerben. Was für ein Irrtum! Oftmals sind es genau diese beiden Variante, die wirkliche Bildung verhindern. Und nicht einmal das Ziel, funktionierende Staatsbürger zu schaffen, ist auf diesem Weg möglich – denn Widerstand erzeugt Widerstand. Wie sollen auf diese Weise behandelte und immer wieder abgewertete Menschen sich mit ganzem Herzens einer Gemeinschaft anschließen, die ihnen ständig Steine in den Weg legt? Alternative Möglichkeiten von Bildung, wie sie etwa Ivan Illich in seinem Werk „Entschulung der Gesellschaft“ in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts oder der freischaffende Philosoph Bertrand Stern schon seit Jahrzehnten fordern und die im 2019 erschienen Film „Caraba“ anschaulich verdeutlicht werden, sind auch im 21. Jahrhundert trotz zahlreicher Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, was das Lernen betrifft, noch immer nicht gesellschaftsfähig. Jene, die diesen Weg gehen, werden von Verfahren an Verwaltungs- und sogar Familiengerichten bedroht, nur weil sie dem Bildungsweg ihrer Kinder gerecht werden wollen.
Nochmals zurück zur Causa Kurz und jener in erster Instanz festgelegten Haftstrafe, die allerdings nur bedingt ausgesprochen wurde. Das bedeutet, dass der Verurteilte in diesem Zeitraum „auf Bewährung“ ist und sich nichts anderes zu Schulden kommen lassen darf, andernfalls die Haftstrafe unbedingt würde.
Die Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt, ist jene nach dem Sinn von Gefängnisstrafen. Wird eine Haft der Situation und der Person von Sebastian Kurz gerecht? Was nützt eine Haftstrafe, wenn man nicht in der Lage ist, eine Verwaltungsstrafe zu bezahlen?
Der Traum von der gefängnislosen Gesellschaft scheint längst ausgeträumt. Die Androhung von Haft solle generalpräventiv wirken – denn wer geht schon gerne ins Gefängnis. Zum anderen aber soll diese dem Täter die Möglichkeit der Resozialisierung geben, weil ihm im Gefängnis jede Form der Unterstützung, seien es sozialarbeiterische oder therapeutische Begleitung oder die Möglichkeit, sich weiterzubilden, gewährt wird. Was die vorbeugende Wirkung betrifft, so ist durch Statistiken längst das Gegenteil festgestellt: selbst durch Androhung von Todesstrafe wird ein Mord nicht verhindert. Und der Alltag in den Haftanstalten hält selbst in Österreich nicht mit den idealisierenden Vorgaben mit. Die Rückfallquote belegt dies sehr deutlich.
Es bräuchte also auch in diesem Bereich dringend Alternativen – nämlich im präventiven Bereich, aber auch in der Gestaltung der „Konsequenzen“ bei einem Vergehen gegen gesetzliche Bestimmungen. Auch hier sollte der Ansatz wieder jener sein, der Situation und der Person zu entsprechen. Das erfordert ein viel individuelleres Vorgehen, als es heutzutage üblich ist. Vorbeugung gegen Verbrechen beginnt einerseits mit Bildung, andererseits mit einer gelungenen Sozialpolitik. Letzteres wusste schon Christian Broda, jener Justizminister in der Regierung Kreisky, der den Traum von der gefängnislosen Gesellschaft in die Tat umsetzen wollte. Die Konsequenzen eines Verstoßes gegen geltendes Recht müssen angemessen sein, sie sollten vom Charakter einer weiteren Chance geprägt sein; denn wenn man diese den „straffällig“ gewordenen Menschen vorenthält, dann bleibt bei jeglicher Art von Verurteilung immer auch der Aspekt der Vergeltung, um die es keinesfalls gehen darf. Eine Wiedergutmachung aber wäre durchaus angezeigt; das Gefängnis verhindert diese mitunter aber. Aus meiner Sicht würde sich selbst in einem Tötungsdelikt die Frage stellen, was die Hintergründe der Tat sind, was also diese konkrete Person in diese konkrete Situation geführt hat. Die Konsequenzen wären dann angemessen zu treffen – und für die Fälle, in denen ein Mensch aufgrund seiner psychischen Verfasstheit in Gefahr ist, anderen weiterhin Schaden zuzufügen, muss dies entsprechend berücksichtigt werden.
Selbst in Norwegen, das als Musterbeispiel für die gefängnislose Gesellschaft bezeichnet wird, sind Gefängnisse nicht abgeschafft worden; sie sind aber so ausgestaltet worden, dass sie quasi Hotelcharakter haben. Den Häftlingen stehen sämtliche Annehmlichkeiten zur Verfügung, die Rückfallquote ist Statistiken gemäß auf 20% gesunken. In Österreich liegt diese Zahl bei 40-50%.
Auch zu beachten ist jedenfalls die regelmäßige Evaluation von erlassenen Gesetzen bzw. die nötige Überprüfung von in der Entstehung begriffenen Regelungen auf ihre Wirkung – wobei auch hier immer der präventive Aspekt im Zentrum mit den Fragen „Warum brauchen wir diese Regel?“ und „Wie können wir so gut vorbeugen, dass sich alle daran halten, ohne sie mit Strafe bedrohen zu müssen?“ stehen sollte.
Es gibt also viel zu tun, wenn man Recht und Gerechtigkeit in Einklang bringen will; und wir können alle tagtäglich daran (mit)arbeiten, indem wir die Möglichkeiten dazu in unserem direkten Umfeld erkennen und nutzen. Der mittlerweile als Axiom geltenden Unvereinbarkeit von Recht und Gerechtigkeit könnte damit die Spitze genommen werden. Jeder Versuch das Gegenteil zu beweisen ist dringend geboten und jedenfalls möglich, wie auch die Entwicklungen im pädagogischen Bereich weg von der Bestrafung, die willkürlich erfolgt, hin zu der Situation und der Person angemessenen Konsequenzen zeigen.
Bildrechtelink Sebastian Kurz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2016-04-15_Sebastian_Kurz_7709.JPG
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