Der Weisheit letzter Schluss – Kann Österreich direkte Demokratie?

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick KW 39/22

  • Ist die Beteiligung an der Eintragungswoche für die Volksbegehren ein Erfolg?
  • Braucht Österreich einen „Papa, der es richten wird“?
  • Geben die Wahlergebnisse in Italien und in Tirol den Willen der Bevölkerung wieder?
  • Wohin eskaliert der Russland-Ukraine-Krieg nach russischen Annexionen?
  • Und: Kein 2G mehr in Liechtenstein

Die vergangene Woche stand in Österreich ganz im Zeichen von sieben Volksbegehren. Aber stand sie das wirklich? Ich hege da so meine Zweifel. Auch wenn das Volksbegehren für uneingeschränkte Bargeldzahlung mit 530.938 Unterstützern nicht nur das erfolgreichste dieser Eintragungswoche sondern auch das am meisten unterstützte seit vier Jahren war, ist die Beteiligung von etwas mehr als 8% der Stimmberechtigten doch kein fulminantes Zeichen für einen Hang zur direkten Demokratie in Österreich. Kann es wohl auch gar nicht, weil dieses Instrument in unserer Republik den Menschen keineswegs im Blut liegt. Der gelernte Österreicher ist wohl eher jener Typ, der’s gern den „Papa“ richten lässt, wie einst Helmut Qualtinger so abgrundtief wunderbar gesungen hat. Ein solcher Vater wird demnächst für ganz Österreich mittels Volksvotum gesucht und alle Kandidaten generieren sich auch durchaus väterlich. Deren Vorstellungen vom Amt des Bundespräsidenten gehen durchaus weiter als es die Realpolitik bislang zugelassen hat, manchmal auch weiter als es die Verfassung vorsieht. Aber in Zeiten wie diesen ist ein „starker Mann“ – oder „eine starke Frau“ wie aktuell in Italien – durchaus eine gewünschte Alternative zu jenen, die das Heft nicht wirklich in der Hand haben oder in die Hand nehmen wollen.

Schauen wir uns all das mal der Reihe nach genauer an:

Die Geschichte der Volksbegehren in Österreich ist überschaubar. Zwischen dem ersten Begehren 1964, das von rund 833.000 Menschen (d.s. 17,27% der Stimmberechtigten) unterzeichnet wurde und das immerhin die Einführung eines Rundfunkgesetzes brachte, bis zum heute 72. seiner Art gab es nur zwei, die die Millionengrenze knackten. Das eine war 1982 für ein Konferenzzentrum-Einsparungsgesetz (1.361.562 – 25,74%), das andere betraf 1997 ein Gentechnikgesetz (1.225.790 – 21,23%). Ein Begehren für ein Veto gegen Temelin kratzte mit 914.973 Unterstützungsunterschriften (15,53%) an der Millionenmarke und 2018 setzten sich mehr als 880.000 Menschen (13,82%) wie die Initiative „Don’t smoke“ für die Beibehaltung des Rauchverbots in der Gastronomie ein, das von der Regierung Kurz abgeschafft wurde.

Dagegen wirken die Ergebnisse der weiteren sechs Volksbegehren dieser Eintragungswoche eher schmal:

Die Geschichte zeigt, dass die Zahl der Unterstützer aber nichts über die für eine Umsetzung der Anliegen notwendige Unterstützung durch die Politiker aussagt.

Ab 100.000 Unterschriften muss ein Volksbegehren zwar im Nationalrat behandelt werden. Davor wird es zur Vorberatung dem fachlich zuständigen Ausschuss zugewiesen. Der betraute Ausschuss kann zu seinen Beratungen Experten und Expertinnen und Sachverständige hinzuziehen. Auch der Bevollmächtigte des Volksbegehrens und zwei von ihm nominierte Stellvertreter haben das Recht, an den Ausschussberatungen teilzunehmen. Die Vorberatung eines Volksbegehrens im Ausschuss hat innerhalb eines Monates nach der Zuweisung zu beginnen. Nach weiteren vier Monaten ist dem Nationalrat jedenfalls ein Bericht über das Ergebnis der Beratungen zu erstatten. Danach wird das Volksbegehren auch im Plenum des Nationalrates beraten. Die Inhalte bzw. Anliegen eines Volksbegehrens sind für den Nationalrat rechtlich allerdings nicht bindend, womit dessen Umsetzung von den Entscheidungen der Abgeordneten abhängt.

Auch das mag dazu führen, dass der Eindruck entsteht, eine solche Maßnahme der direkten Demokratie würde nichts an der Meinung der Volksvertreter ändern.

So wird sich auch diesmal erst in rund einem halben Jahr zeigen, wie die verantwortlichen Politiker mit der Meinung der Stimmberechtigten umgehen und wie mit Minderheitsmeinungen umgegangen wird.

Spannend an der Wahl des Staatsoberhauptes in einer knappen Woche bleibt für mich die Wahlbeteiligung. Immerhin stehen ja diesmal sieben Männer zu Wahl, die auch versucht haben, Frauen als ihre Wählerinnen ins Boot zu holen, mit für mich wenig überzeugenden Botschaften. Aber das ist eine andere Geschichte. Tatsächlich bestand ja viele Jahre lang für die Wahl zum Bundespräsidenten eine Wahlpflicht für alle stimmberechtigten Österreicher, ein Zuwiderhandeln wurde mit einer Verwaltungsstrafe bedroht, die meines Wissens aber kaum jemals ausgesprochen wurde. Na gut, jemanden zu verpflichten, wählen zu gehen, war wohl auch kein allzu großer Erfolg. Interessant wäre es, wenn mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten nicht an die Urnen schritten. Dann wäre selbst ein Erfolg für den Amtsinhaber gleich im ersten Wahlgang wohl keine gute Basis, sich als „Papa“ aller Österreicher zu etablieren.

Die Berücksichtigung jener Menschen, die trotz eines Rechts darauf nicht an einer Wahl teilnehmen, lohnt sich allemal. „Zahlenfreak“ Oliver Lerch hat diesen Blick auf das Wahlergebnis in Tirol gewagt. In seinem Blog kommt er zu folgenden Erkenntnissen:

  • die Anzahl der Nichtwähler an allen Wahlberechtigten liegt in etwa auf der gleichen Höhe wie jener der ÖVP-Wähler (Nichtwähler 34,98% – ÖVP-Wähler 34,25%)
  • die Wahlbeteiligung lag damit bei rund 65%
  • jede der wahlwerbenden Parteien hat sowie jene, die ungültig gewählt haben, mit den für sie abgegebenen Stimmen einen Anteil an diesen 65%
  • am Beispiel der ÖVP heißt das, dass diese 34,25% von 65%, also 22,27% aller Menschen, die in Tirol wahlberechtigt waren erreicht hat
  • demnach sind die Nichtwähler die mit Abstand stärkste Gruppe, in Mandaten gerechnet erhielten sie 13 Sitze im 36-köpfigen Landtag

Oliver Lerch schlägt in seinem Beitrag vor, diese Sitze leer zu lassen und kommt zu dem Schluss, dass dadurch nicht nur die Wahlwerbung sondern auch die Arbeit der Politiker eine ganz andere wäre. Im aktuellen System stärken die Nichtwähler nämlich jene Parteien, die die meisten Stimmen haben.

Mit dieser Perspektive habe ich das Wahlergebnis in Italien unter die Lupe genommen, nach dem ein Aufschrei durch Europa ging. Der schon vor diesem Urnengang absehbare „Rechts-Ruck“ bestätigte sich und die Ursachenforschung hat begonnen. Für mich stellen sich in diesem Zusammenhang – ohne hier jetzt ins Detail gehen zu wollen, weil mir dazu ganz einfach die Expertise und der fundierte Einblick in die italienischen Verhältnisse fehlen – zumindest drei grundsätzliche Fragen: Lassen sich Staatsgebilde mit zig Millionen von Bürgern tatsächlich (noch) zentral lenken? Welche Möglichkeiten der Meinungsbildung lassen sich implementieren, um zu möglichst konsensualen Ergebnissen zu kommen? Und: Wie können Menschen so gestärkt werden, dass sie nicht ständig nach einem starken Anführer gieren und darauf hoffen, dass damit all ihre Probleme gelöst sind?

Einschränkend zu der folgenden Analyse a la Zahlenfreak muss ich bemerken, dass das italienische Wahlsystem komplexer als das uns von Österreich her bekannte ist, es ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Wenn ich nun österreichische Zustände anlege, dann komme ich zu folgendem Ergebnis:

  • von den mehr als 46 Millionen Stimmberechtigten gingen etwas mehr als 29 Millionen zu den Urnen, das entspricht 63,79%
  • 36,21 % der Italiener haben daher nicht gewählt
  • 27,93 % entschieden sich für das Rechtsbündnis, 16,67% für die linke Koalition, 9,84% votierten für die Fünf-Sterne-Bewegung und die restlichen 9,35% entfielen auf die weiteren wahlwerbenden Parteien und Bewegungen
  • von den 391 zu vergebenden Sitzen müssten daher im Sinne von Oliver Lerch 142 frei bleiben

Auch hier zeigt sich deutlich, dass die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung nicht berücksichtigt wurde. Und das ist das Bedauerliche an all den Wahlergebnissen. Zudem sollte man sich nicht vor den Wahlsiegern fürchten, sondern vor der ständig präsenten Problemtrance, die zu ihnen führt. Längst wäre Lösungsorientierung angebracht, allerdings nicht die einfache Art, sondern jene, die der Komplexität der Herausforderungen gerecht wird.

Ein noch größeres Drama, das aber durchaus mit dem gerade beschriebenen zusammenhängen könnte, ist die weitere Eskalation im Russland-Ukraine-Krieg. Während die Ukrainer zunehmende militärische Erfolge melden, annektierte die Russische Föderation kürzlich nach der Krim vier weitere Gebiete auf ukrainischem Staatsgebiet. Gleichzeitig wird kolportiert, dass das russische Staatsoberhaupt sogar den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen erwägt, sollte die Ukraine und ihre Verbündeten die Rückeroberung dieser Gebiete andenken. Auf der anderen Seite hat der ukrainische Präsident als Konter ein Ansuchen um den NATO-Beitritt abgegeben. In diesem Fall wäre der ohnehin schon schwelende neuerliche Weltkrieg wohl tatsächlich besiegelt.

In der Konfliktforschung gibt es unter anderen das sehr bekannte neunstufige Eskalationsmodell von Friedrich Glasl. Ab Stufe sieben liegen nur noch sehr begrenzte Möglichleiten vor, die Auseinandersetzung gewinnbringend für beide Seiten zu lösen. Am Ende der Skala steht die absolute lose-lose-Situation unter dem Titel „Gemeinsam in den Abgrund“. Wo wir im aktuellen Krieg stehen, lässt sich hier leider auch erkennen. Auch, wo und wie man sich in dem seit vielen Jahren schwelenden Konflikt konstruktiv einbringen hätte können, bevor die Waffen zu sprechen begannen. Zudem gilt für den russischen Herrscher das Gesetz der Straße, so habe ich gelesen. Und hier gibt es eine bedauerlicherweise zutreffende Weisheit: „Du kriegst den Menschen zwar aus der Straße aber die Straße nicht aus ihm.“

Kommen wir abschließend nochmals zur direkten Demokratie am Beispiel von Liechtenstein. Wie der Blog TKP berichtet hat die neugegründete Liechtensteiner Partei „Mensch im Mittelpunkt“ mit der von ihr initiierten Volksabstimmung einen großen Erfolg bzgl. gesetzlicher 2G-Regel gefeiert. Auf die Frage, ob „die Regierung 2G-Regeln beschließen können“ soll, „wenn eine neue Covid-Welle kommt?“ sagten 52,7 Prozent der abstimmungsberechtigten Liechtensteiner Nein.

Liechtensteins Regierung benötigte ein neues „2G-Gesetz“, weil der Verfassungsgerichtshof Anfang Juni die Impf-Segregation und die Isolierung Ungeimpfter aufgehoben hatte. Die verantwortlichen Politiker versuchten das Ergebnis zu bagatellisieren, die Bevölkerung rechne offenbar nicht mehr mit der Rückkehr von heftigen „Corona-Wellen“.

Legt man auch hier eine Gewichtung der abgegebenen Stimmen an, dann zeigt sich in dem Fall aber, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten, nämlich 35,2% mit NEIN votierten, 33,2 % gingen nicht zur Abstimmung und 31,6% wollten eine gesetzliche 2G-Regelung. Dennoch aber bleibt auch bei diesem Volksentscheid der schale Beigeschmack, dass ein Drittel der Bevölkerung einem anderen Drittel seine Meinung aufzwingt und ein weiteres Drittel auf eine Meinungsäußerung verzichtete.

Die Demokratie ist zwar ein hohes Gut, sie ist aber in einer sie in ihrer Existenz bedrohenden Krise, die es zu lösen gilt. Was ich insgesamt im Sinne meiner Kinder und meiner Enkel hoffe: Dass es der Welt gelingen möge, die aktuellen Krisen diesmal nicht mit einem Krieg zu lösen, auch wenn danach die unseren Systemen immanente kurzsichtige Hoffnung besteht, dass dann alles wieder neu beginnen und endlich gut werden kann. Diese Hoffnung teile ich nicht. Und ich bin noch auf der Suche, nach meinen Möglichkeiten, diese Katastrophe zu verhindern. Finden werde ich sie wohl am ehesten in meinem unmittelbaren Wirkungsbereich, in meinem kleinen Mikrokosmos. Wenn sich dem möglichst viele anschließen, lässt sich damit a la longue wohl auch der Makrokosmos, das große Ganze ändern. Ob das nicht zu wenig, weil zu langfristig gedacht ist? Ich weiß es nicht, aber eine bessere Idee als in den Krieg zu ziehen, ist es für mich allemal. Da bleibe ich ein hoffnungsloser Idealist.

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WG – 2022 KW39-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY SA 4.0