Der Weisheit letzter Schluss – Europa, so lange es noch steht
Ein kommentierender Wochenrückblick KW 23-24/24
Schon wieder sind zwei Wochen ins Land gezogen und die Liste der Themen für diesen Wochenkommentar hat eine Länge angenommen, die ich weder Ihnen noch mir zumuten möchte. Also gilt es auch diesmal eine bescheidene Auswahl zu treffen und zu hoffen, dass diese auch Ihren Geschmack trifft.
Keinesfalls vorbeikommen können wir an den Wahlen zum europäischen Parlament, die Anfang Juni in allen 27 Staaten der Europäischen Union (EU) stattgefunden haben. Der von vielen erwartete „Rechts-Ruck“, von dem man sogar befürchtete, dass er die EU zumindest in eine ernsthafte Krise führen oder sogar deren Zerfall einläuten könnte, ist nicht in einem Besorgnis erregenden Maß eingetreten. Auffallend dabei, dass in jenen Ländern, in denen nationalistische und populistische Parteien in Regierungsverantwortung befinden, deren Wählerschaft zumindest stagnierte (Italien) oder sich sogar deutlich reduzierte (Finnland), in den Ländern, wo man sie vom Regieren fernhält, wie etwa in Österreich, Deutschland oder Frankreich aber auf starke Zuwächse kam. Das ist zumindest eine Erkenntnis, die aber auch aus der Geschichte bestens bekannt ist. Populisten haben solange Zulauf, bis sie sich beweisen und Lösungen für die von ihnen kritisierten Zu- und Umstände liefern müssen; als Juniorpartner in einer Regierung haben sie kaum Chancen auf eine Wiederwahl.
Dass sich die Österreichische Volkspartei (ÖVP) trotz eines fast zweistelligen Verlusts als Siegerin fühlt, hat zwei Gründe: Zum einen liegt man nur knapp hinter der neuen Nummer 1, den Freiheitlichen (FPÖ) und konnte sich andererseits knapp aber doch vor den Sozialdemokraten (SPÖ) auf Platz zwei behaupten. Die Kleinparteien KPÖ+ und DNA hatten durchaus beachtliche Ergebnisse knapp unter drei Prozent, was ihnen aber aufgrund der in Österreich geltenden Mindesthürde von 4% der abgegebenen Stimmen nichts nützte. In Deutschland zum Beispiel erzielte „Die Partei“ des Satirikers Martin Sonneborn mit 1,9% zwei Sitze im EU-Parlament.
Was diese Wahlen auch so besonders bzw. ein wenig unübersichtlich macht, ist die Tatsache, dass die wahlwerbenden Gruppen in den Ländern sich im Parlament zum einen in Fraktionen zusammenfinden, zum anderen aber auch als fraktionslose Gruppierungen oder „freie“ Abgeordnete verstehen. Durchsetzen kann man die Interessen der jeweiligen Wähler im zweiten Fall nur, wenn man damit die Meinung einer der großen Fraktionen trifft. Die Spaltung der „Rechten“ in ID (Fraktion Identität und Demokratie), wozu Rassemblement National in Frankreich und die Lega in Italien zählen (die AfD wurde vor den Wahlen aus dieser Fraktion ausgeschlossen) und Europäische Konservative und Reformisten wie die Fratelli d’Italia mit Regierungschefin Girogia Meloni, der spanischen Vox und der polnische PiS (Partei Recht und Gerechtigkeit), bedeutet eine nicht unwesentliche grundsätzliche Schwächung dieses Lagers. Insgesamt kommt man nach dem Urnengang derzeit auch nur auf 134 der 720 Sitze. Allerdings könnten sich in den nächsten Wochen noch neue Gruppierungen einer dieser Fraktionen anschließen, auch die Wiederaufnahme der deutschen AfD ist ein Thema.
Der prognostizierte Niedergang der EU ist aber weniger diesem angesagten und doch nicht erfolgten folgenschweren Rechtsruck zu verdanken, sondern – und das sollte denen, die jetzt das Schlimmste als abgewendet betrachten, zu denken geben – den eigenen Fehlern, die das Bürokratiemonster EU, das mit zunehmenden Identifikationsproblemen seitens seiner Bürger kämpft, geschuldet.
Es gilt, sich auch auf die Ursprünge der europäischen Idee zu konzentrieren. Zudem ist auch zu bedenken, dass Europa mehr eine politische denn eine geographische Konstruktion ist und eine gemeinsame europäische Identität nur dann zu konstituieren ist, wenn man die Vielfalt der Völker und Identitäten ernst nimmt. „Vielvölkerstaaten“ unter einer Ägide zusammen zu pressen, hat früher oder später zu deren, leider oft gewaltsamen Ende geführt. Das Verbindende lässt sich aber jedenfalls mit gutem Willen finden. Bemerkens- aber auch bedenkenswert ist die Tatsache, dass Zypern geographisch Asien zugeordnet wird, dennoch EU-Mitglied ist, dass die Türkei und Russland geographisch mit einem kleinen Teil ihres Territoriums europäisch sind, für einen EU-Beitritt aber aus verschiedensten Gründen nicht in Frage kommen bzw. kamen. All das und noch viel mehr, was einen wesentlichen Einfluss auf die Erneuerung der EU oder noch besser des europäischen Gedankens hätte, ist in der Kürze eines Wochenkommentars nicht unterzubringen. Auch stellt sich die Frage, was es bringt, sich als Teil einer territorial begrenzten Gemeinschaft zu sehen, anstatt gleich die ganze Welt und das uns alle verbindende Menschsein in den Blick zu nehmen.
Die Band Geier Sturzflug hat sich in der Zeit der Neuen Deutschen Welle mit dem sozialkritischen Lied „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“ in den Hitparaden platziert. Damals ging es um einen möglichen Atomkrieg, der den jahrzehntelang vorherrschenden „Kalten Krieg“ jederzeit in einen heißen zu verwandeln im Stande war. Wir sind knapp vier Jahrzehnte später wieder mitten in dieser Situation gelandet bzw. müssen uns ernsthaft Gedanken darüber machen. Das hat nichts mit dem Fortschritt zu tun, den man uns mit Einrichtungen wie dem Europarat oder der EU versprochen hat. Im Gegenteil. Am Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts sind wir politisch und wirtschaftlich in Zeiten zurück geschlittert, die längst als überwunden galten.
Das Ende der EU ist also aufgeschoben, aber keinesfalls aufgehoben – und in den nächsten Jahre sollten die Verantwortlichen ernsthaft an einen Restart auf Basis der Grundideen sowie unter Einbeziehung von Überlegungen zu den Beziehungen zu allen Ländern außerhalb des Bündnisses bzw. des Kontinents arbeiten. Die Zukunft liegt weder in der Vergangenheit noch im Mehr vom Gleichen.
Das Ende der österreichischen Bundesregierung wurde dieser Tage eingeläutet, die Zustimmung der grünen Umweltministerin zum Renaturierungsgesetz – entgegen der Meinung der Länder sowie des Koalitionspartners ÖVP – brachte die Koalition der beiden Parteien auch de jure an den Rand des Zusammenbruchs. Nun hat sich Kanzler Nehammer aber besonnen, den Bruch nicht zu riskieren, weil damit das freie Spiel der Kräfte im Parlament ermöglicht worden wäre, das in der Regel zu einer Fülle von finanziell aufwendigen Wahlgeschenken führt. Außerdem will man – so der Bundeskanzler – auch noch wichtige Gesetzesvorhaben bzw. Postenbesetzungen unter Dach und Fach bringen, bevor nach den Wahlen im Herbst ein Regierungswechsel bevorsteht. Wichtig ist, dass solche Entscheidungen zukünftig auf tragfähige Beine gestellt werden und die Bevölkerung bei so großen Vorhaben wie diesem durch die Mittel der direkten Demokratie massiv einbezogen wird. Es kann nicht sein, dass eine solche Materie alleine durch die Institutionen der repräsentativen Demokratie entschieden wird, schon gar nicht, wenn sich im Lauf einer Regierungszeit solche Themen auftun, zu denen sich die Wähler durch ihre Stimmabgabe beim letzten Wahlgang nicht äußern konnten.
Was sich bei Österreichs Politikern aktuell schleichend ändert, ist das Verständnis der bzw. das Verhältnis zur immerwährenden Neutralität. Die Verlockungen unter den Schutz der NATO oder eines europäischen Militärbündnisses zu kriechen, werden immer größer. Für die NEOS ist klar, dass man sie aufgeben muss, um in Zeiten wie diesen gut geschützt zu sein, auch die ÖVP tendiert eher dazu. Bei den anderen Parteien ist es nicht immer ganz so klar, man spricht von einem notwendigen anderen Verständnis der Neutralität. Ganz klar positioniert dazu hat sich am Dienstag die neue Liste von Madeleine Petrovic, die im Rahmen einer Pressekonferenz das Motto „Neutralität schützt“ ausgegeben und ihren Sicherheitssprecher, den Politologen und Psychologen Harald Haas, vorgestellt hat. Haas und Petrovic treten für innere und äußere Sicherheit auf Basis der Neutralität ein. Es geht ihnen darum, die Bürger durch Horrorszenarien nicht ständig in Angst und Panik zu versetzen, sondern ihnen die Ängste zu nehmen. Das könne man am besten, indem man sich für diplomatische Bemühungen zum Erhalt und zur Wiederherstellung des Friedens einsetze bzw. sich Friedensbewegungen und Vertreter eines gewaltfreien Widerstands wie Mahatma Gandhi zum Vorbild nehme. Auch ein starkes entsprechend ausgestattetes Bundesheer gehöre dazu, um dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Abgelehnt werden alle Überwachungsmaßnahmen, die einen Eingriff in die Persönlichkeits-, Menschen- und Freiheitsrechte ermöglichen. Die Exekutive vor Ort gehöre gestärkt, die einzelnen Dienste, die in den letzten Jahren Zug und Zug zusammengelegt wurden, wieder zu entflechten, so dass sie kontrollierbar bleiben und nicht eine die Demokratie gefährdende Eigendynamik entwickeln.
Diese sehr detaillierten Ausführungen wurden von den anwesenden Journalisten allerdings nicht hinterfragt; es ging vielmehr um die Einschätzung von Petrovic zum aktuellen türkis-grünen Koalitionszwist sowie um eine Stellungnahme von Haas zu einem angeblichen Disziplinarverfahren gegen ihn wegen eines Artikels, der ihm als russlandfreundlich ausgelegt wurde. Das Framing eines Menschen, der im Rahmen der unserer Demokratie konstituierten Meinungsfreiheit eine alternative Sichtweise eingebracht hat, feierte also gleich einmal fröhliche Urständ. Schade, dass man damit die wertvollen und diskussionswürdigen inhaltlichen Überlegungen von Haas und Petrovic im Keim ersticken will. Das macht das politische Geschehen so oberflächlich und letztendlich uninteressant. Wer das Interesse an der Demokratie und die Wahlbeteiligung erhöhen will, muss Diskurs ermöglichen und nicht durch solche persönlichen Verunglimpfungen verhindern, nur weil man das Thema unter der Decke halten und die eigene Meinung propagieren will.
Was die Aufgaben des Militärs betrifft hat Haas auch eine ganz klare Meinung kundgetan: Es muss um Landesverteidigung und Katastrophenschutz gehen und nicht um „Sicherheitseinsätze“ gegen die eigene Bevölkerung. Ein solches Szenario wird nämlich seit 10. und noch bis zum 21. Juni bei einer großangelegten Übung namens „Schutzschild 2024“ geprobt, an der auch Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland, Schweden, Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro teilnehmen.
Das Szenario, von dem ausgegangen wird, wird wie folgt beschrieben:
„Das militärisch neutrale Österreich sagt einem völkerrechtswidrig angegriffenen Staat moralische Unterstützung zu, und beteiligt sich an Sanktionen. Zeitgleich formieren sich Aktivisten, die mit dem Aggressor sympathisieren. Bewaffnete Untergrund-Milizen beginnen, unsere Gesellschaft zu infiltrieren und zu destabilisieren. Österreich befindet sich aufgrund seiner geografischen Lage in einer Schlüsselrolle als Transitland – Truppen und militärisches Gerät müssen durch unser Land hindurch. Aufgrund unserer Lage werden wir zusehends zur Zielscheibe hybrider Kriegsführung der Konfliktparteien.
Der Ablaufplan der Übung sieht in Folge vor, dass Teile der Bevölkerung durch Beeinflussung von außen manipuliert werden. Negative Auswirkung: In ausgewählten Regionen unseres Bundesgebiets geht kurzzeitig die staatliche Kontrolle verloren. Die Aufgabe des Bundesheeres ist es nun, in Zusammenarbeit mit anderen Einsatzorganisationen, diesem schlimmen Szenario schnell, entschieden und effektiv entgegenzuwirken. Dabei werden unsere Truppen von Soldaten aus Deutschland, Schweden und Kroatien verstärkt. Gesamt sind 7.500 Soldaten und Soldatinnen eingesetzt. Die Einsatzkräfte sollen gemeinsam helfen, Transitrouten, neuralgische Punkte und wichtige Objekte auf unserem Staatsgebiet quer durch vier Bundesländer rasch unter Kontrolle zu bringen. Auf diese Weise sollen illegale Waffenlieferungen durch Österreich abgefangen, und Verkehrslinien offen gehalten werden.“
Es gehört wohl zur traurigen Wahrheit, dass Menschen alles zuzutrauen ist bzw. dass sie sich von einigen Wenigen instrumentalisieren lassen. Dennoch haben Menschen auch die Veranlagung und die Fähigkeit zur Kooperation und zum konstruktiven Miteinander auch in Konflikten. Auf diesem Ideal sind auch Nachkriegsinitiativen wie Europarat, UNO oder eben auch EU entstanden. Wir sollten uns von Meldungen, die Panik verursachen (sollen), nicht von einem positiven Menschenbild abbringen lassen. Das ist die wesentliche Basis dafür, dass nicht nur Europa noch länger steht sondern die ganze Welt zu einem Ort wird, auf dem es sich wahrlich und sicher leben lässt.
Bildrechte:
Liste Madeleine Petrovic, Wolfgang Berger
Credits
Image | Title | Autor | License |
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WG – 2024 KW23-24-DE-FB+IPHP | Wolfgang Müller | CC BY-SA 4.0 | |
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