Der Weisheit letzter Schluss – Entmündigte Gesellschaft
Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 13/23
Es gibt Menschen, die behaupten standhaft, dass jene, die bei Wahlen ihre Stimme abgeben, dann auch die ganze Legislaturperiode (also bis zu vier, ja sogar fünf Jahre) keine Stimme mehr haben, zumindest was die in den Volksvertretungen getroffenen Entscheidungen betrifft. Und so unrecht haben sie leider nicht, wie ich ja schon in meinen Ausführungen in den letzten Wochenkommentaren zu zeigen versucht habe. Die repräsentative Demokratie ermächtigt die Repräsentanten, also die vom Volk gewählten Vertreter, in dieser Zeit alle Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen. Gleichzeitig werden nicht nur die Wähler, sondern auch alle Nichtwähler sowie jene, die zwar im Land leben, aber dennoch kein Wahlrecht haben, entmachtet. Direktdemokratische Mittel wie Petitionen, Volksbegehren oder gar Volksabstimmungen sind zwar vorgesehen, werden aber in den demokratischen Gremien meist auf die lange Bank geschoben oder können nur unter bestimmten erschwerten Bedingungen genutzt werden. Da vergeht dem einen oder anderen noch vor einem diesbezüglichen Engagement die Lust und Laune – sehr zum Schaden der Demokratie.
Nicht selten bekommt man dabei das Gefühl, entmündigt worden zu sein – zumindest für die Zeit zwischen den Wahlen. Doch die auf diese Weise gefühlte Entmündigung – so man sie denn tatsächlich wahrnimmt – tritt schon viel früher ein: sie wird uns quasi in die Wiege gelegt. Entmündigte und auf allerlei Arten zum Funktionieren gebrachte Eltern haben weder Interesse noch die Fähigkeit, ihren Nachwuchs zu mündigen Menschen zu erziehen. Und sie werden dabei von den so genannten Bildungsinstitutionen tatkräftig unterstützt. Als der Kindergarten noch keine Bildungseinrichtung war, erfreuten sich die dort im Leben begleiteten jungen Menschen noch zahlloser Freiräume; sie bekamen zwar auch da schon den einen oder anderen Bildungsimpuls, mussten aber nicht die Vorgaben eines Bildungsplanes abarbeiten. Das ist seit einiger Zeit anders. Diese Pläne können gut und gerne einem Curriculum gleichgestellt werden, was den Druck auf alle Beteiligten – also Kinder, pädagogische Fachkräfte sowie Eltern – erhöht und den Blick vom Potential hin zu den Defiziten der Heranwachsenden lenkt. Und in der Schule geht es dann weiter mit dem „Funktionstüchtig-Machen“: der Lehrplan lässt kaum Freiräume, will man ein gutes Zeugnis erreichen. Dieses wiederum ermöglicht einem – so die Legende –, einen gutbezahlten Job zu erhalten. Job – ein Wort, das Bände spricht. Für einen Beruf, der sich ja auch von Berufung, also dem, was einen ruft bzw. was in einem steckt und verwirklicht werden will, ableitet, ist da kein Platz. Nun – Schule hat ja seit ihrer junge Menschen ab 6 Jahren verpflichtenden Einführung unter Maria Theresia immer schon den Zweck gehabt, willfährige Soldaten und gute, folgsame Staatsbürger zu kreieren. Waren dafür früher durchaus die einen oder anderen Mittel der schwarzen Pädagogik notwendig, so läuft heute alles viel subtiler und daher wesentlich widerstandsfreier. Die Mächtigen können sich freuen, dass ihnen die nächste Generation die Plätze nicht streitig macht und kaum noch von einem „Wir wissen es besser, also machen wir es auch besser“ beseelt ist.
Und eben dieser Zustand lässt sich so ziemlich bei allen aktuellen Ereignissen – auch in dieser Woche – feststellen.
Wenn die SPÖ immer noch um die Modalitäten der Wahl eines neuen Vorsitzenden und Spitzenkandidaten für die nächste Nationalratswahl ringt, ist für inhaltliche Diskussionen kaum Zeit und Raum. Die Frage ist, für wen sich Menschen entscheiden, denen entscheidende Informationen für ein mündiges Urteil vorenthalten werden. Spielt Sympathie eine Rolle, ist das Lagerdenken ausschlaggebend, votiert man eher für das Alte oder doch lieber für etwas Neues?
Auch in Finnland ticken – trotz eines vor Jahren hochgepriesenen Schulsystems – die Uhren kaum anders. Wie schon in der Vergangenheit so ritterten bei den Parlamentswahlen am Palmsonntag auch diesmal drei Parteien um den Posten des Premierministers: sie alle kamen bei rund 20% zu liegen. Hatten vor vier Jahren die Sozialdemokraten die Nase vorn, so siegte diesmal die konservativ-wirtschaftsliberale Kokoomus, die aktuell auch den Präsidenten des nordischen Staates stellt. Dessen Zick-Zack-Verhalten im Hinblick auf den alleinigen NATO-Beitritt Finnlands (ursprünglich wollte man sich nicht auseinanderdividieren lassen und nur gemeinsam mit Schweden beitreten) hat seiner Partei nicht geschadet; zudem haben ihm das türkische Parlament und der Präsident des Landes knapp vor dem Wahlgang noch einen Erfolg gegönnt, in dem sie den lang ersehnten Beitritt Finnlands endlich ratifiziert haben. Außerdem punktete Kokoomus mit dem Hinweis auf die in den letzten vier Jahren um 10% gestiegene Staatsverschuldung und pries sich als Retter des Staatshaushaltes an – sowie schon 1990, als Finnland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich nahezu „bankrott“ war. Die nationalistischen „Finnen“ schafften es auch diesmal auf Rang zwei; bei einem Sieg wäre es für sie ohnehin schwierig gewesen, Koalitionspartner zu finden, nun dürfen sie auf eine Regierungsbeteiligung hoffen. Das Land, das zu den glücklichsten der Welt zählt, kämpft aber trotzdem mit einer im europäischen Vergleich hohen Alkoholismus- und Selbstmordrate. Auch das ist kein Zeichen für eine mündige Gesellschaft.
Und: Kann man von Mündigkeit sprechen, wenn sich ein Teil der SPÖ-Abgeordneten am vergangenen Freitag bei der via Videostream übertragenen Rede des ukrainischen Präsidenten von Mitarbeitern vertreten lässt, um sich dann damit herauszureden, dass man dessen Worten an anderer Stelle beigewohnt habe? Wer den Mund nicht auf bekommt, um seine Meinung kundzutun, sollte sich nicht als Abgeordneter in eine Volksvertretung verirren. Auch dass man sich von einer Moral-Keule bedrohen lässt, mag nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Militärische Neutralität, so das ukrainische Staatsoberhaupt, bedeute keineswegs moralische Neutralität. Sich in einen Krieg hinein ziehen zu lassen, der das Potential hat, sich zu einem Weltkrieg auszuwachsen, dient aber auch niemandem. Wo bleiben die Pazifisten und Friedensaktivisten – auch unter den Politikern -, die ihre Netzwerke nutzen, um den Kriegstreibern auf beiden Seiten mal ordentlich den Marsch zu blasen? Wahrscheinlich existieren sie gar nicht mehr; die lange Zeit des (wenn auch nur scheinbaren) Friedens hat sie sich wohl anderen Themen zuwenden lassen. Traurig auch, dass die Waffenlobby immer noch so einflussreich ist, jede Chance auf eine Steigerung ihres Verdienstes eiskalt zu nutzen und dass hier niemand mündig und mutig genug ist, diesem Handeln ein für alle Mal Einhalt zu gebieten. Da Geld die Welt regiert, ist für echte Demokratie kein Platz, denn die würde sich zumindest das eine oder andere Mal auch idealistischeren Zielen verschreiben, die der Weiterentwicklung der Menschheit wirklich dienten.
Ob jene Aktion eines Pensionisten und Aktivisten der politischen Bewegung „Der Wandel“, sich bei einer Parlamentsführung am goldenen Klavier festzukleben, um damit angesichts seines Lebens unter der Armutsgrenze auf Dekadenz und Abgehobenheit der Politik hinzuweisen, ihr Ziel erreichen wird, ist mehr als fraglich. Zivilcourage wird von denen, gegen die sie sich richtet und die es sich gerne richten, eher nicht gewürdigt.
Ähnlich verhält es sich mit einem offenem Brief der Initiative für selbstbestimmte Bildungswege an den österreichischen Bildungsminister, in dem dieser zur Kooperation hinsichtlich jener jungen Menschen, für die Schule nicht der passende Ort für erfolgreiches Lernen ist, eingeladen wird. Wie weiter oben ausgeführt, hat Schule ihren Auftrag und muss daher alle erfassen, die heranwachsen; weil es auch heute noch gute, brave und funktionierende Staatsbürger braucht, die das tun, was man von ihnen verlangt, sich aber bitte lieber nicht auf die eigenen Haxen stellen.
In diesem Zusammenhang ist auch ein Beitrag in der Wiener Zeitung bemerkenswert. Dort wird beschrieben, wie eine Psychotherapeutin Kinder mit Schulangst mit so wertvollen Tipps versorgt wie „auf die Schuhe der Lehrerin zu schauen“ oder sich für durchgestandene Schulstunden mit Süßigkeiten zu belohnen. Auch hier zeigt sich die Prämisse des Funktionieren-Müssens: ändern sollen sich immer nur die Einzelnen, niemals das System.
Meinen Beitrag möchte ich aber auch diese Woche nicht ohne Ermutigung schließen. In A.A. Milnes „Winnie-the-Pooh“ gibt es eine berührende Episode. Der Tiger ist dem Freundeskreis um den titelgebenden Bären auf Dauer ganz einfach zu ungestüm, und so beschließen Winnie Puh und Kollegen, ihn „gestüm“ zu machen. Dazu locken sie ihn in den Nebel und wollen ihm zeigen, dass er in einer solchen Situation nicht alleine zurechtkommt und auf die Hilfe der anderen angewiesen ist. Nun, das Vorhaben geht gründlich schief. Der Einzige, der heil zurückkommt, ist eben jener Tiger, dem damit eigentlich eine Lehre erteilt werden sollte; alle anderen verirren sich und müssen so lange warten, bis sie von Tiger gefunden werden. Womit klar wird, dass ungestümes Verhalten doch seine Berechtigung hat; vor allem, wenn man an die notwendige Mündigkeit denkt, die es braucht, um das Angesicht der Welt zu ändern.
Auf, lasst uns zu ungestümen Tigern werden!
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