Der Weisheit letzter Schluss – Die Verwechslung von Symptom und Ursache

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 24/23

Vor wenigen Tagen hat sich eine verheerende Katastrophe im Mittelmeer ereignet, als ein mit Vertriebenen überfülltes Boot gesunken ist und der Großteil seiner Passagiere getötet wurde. Die Umstände, wie es zu dem Unglück kommen konnte, sind bislang nicht restlos geklärt. Kolportiert wird, dass die vor ihren Lebensumständen Flüchtenden jegliche Hilfe abgelehnt hätten. Andererseits gibt es Indizien, die belegen sollen, dass die ausbleibenden Hilfsmaßnahmen seitens der Küstenwache diese Tragödie zumindest mitverursacht haben.

Und da sind wir schon beim Thema, mit dem ich mich diese Woche beschäftigen will, nämlich der allgemein schon üblichen Verwechslung von Symptom und Ursache.

Im Zusammenhang mit dem Bootsunglück gab es da neben den verschiedenen Interpretationen des Unfallherganges sogleich durchaus menschenverachtende Kommentare. Die Spitze des Zynismus stellt für mich der Kommentar eines Mitglieds der Chefredaktion der Kleinen Zeitung (Beitrag hinter der Bezahlschranke) mit dem Titel „Offene Grenzen? Die Einladung kann tödlich sein“ dar, den ein Redaktionskollege dankenswerter Weise in unserer internen Debate-Gruppe gepostet hat. „Der Ruf nach mehr Aufnahme und einem Ende der Grenzzurückweisung klingt wunderbar human“, heißt es da und weiter: „Je weiter die EU ihre Tore öffnet, desto mehr Menschen werden unkontrolliert in verbrecherischer Schlepper-Regie – auch über die Meere – zu uns aufbrechen.“ Die Schlussfolgerung des Kommentators lautet: „Die weltweit verbreitete Botschaft muss lauten: Diese Reiserouten sind unerwünscht. Wer sie dennoch wählt, bricht die Regeln und riskiert sofortige Rückstellung. Gewiss, das geht hart an die Grenze der Menschlichkeit. Aber wir müssen aus zwei Übeln das kleinere wählen.“

In der Wiener Zeitung dann ein Gastkommentar zum selben Thema mit einem ganz anderen Impetus, der sich nicht mit der Bekämpfung von Symptomen, sondern mit der Analyse der Ursachen beschäftigt und damit den Finger auf die offenen Wunden „westlicher Kolonialpolitik“ legt. Der Historiker, Sozial- und Wirtschaftswissenschafter Rainer Stepan, der auch Referent für Mittelosteuropa bei Alois Mock war, kritisiert darin den nun neu errichteten „Eisernen Vorhang“ der Festung Europa. Er führt dazu Folgendes an: „Die Mauern um Europa gelten nur den Menschen, die nach Europa kommen wollen, um vor Verfolgung, vor Dauerhitze, Dürre, Hunger, Ausbeutung und anderem“ zu fliehen und die „durch Europa nicht mehr genügend Lebensgrundlagen haben – sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge also. Europa will diese armen Menschen jedoch nur ‚vor dem Ertrinken im Mittelmeer, vor den bösen, bösen Schleppern bewahren‘. Daher die Mauern, die ja auch diese armen Menschenleben schützen sollen, während wir Europäer lustig auch in Länder auf Urlaub fahren, die Diktaturen sind, die ihre eigenen Landsleute verfolgen und grausam foltern, …“. Er kritisiert die über die Zustände in diesen Ländern zu wenig informierten Referenten und Richter im Asylwesen und die politische Kurzsichtigkeit im Hinblick auf die Überalterung europäischer Gesellschaften. Seine Sorge gilt auch dem daraus weiter wachsenden Nationalismus und so kommt er zum Schluss: „Lernen Sie Zeitgeschichte und Landkarten lesen (das bedeutet Geopolitik), liebe Damen und Herren Politiker Europas, bevor wir später wieder sagen müssen: ‚Nie mehr wieder!‘ Und: ‚Wehret den Anfängen!‘“

Nun, ich gebe zu, dass es verdammt spät ist, Ursachen ändern zu wollen, die oftmals schon unumkehrbar sind. Die logische Konsequenz aber ist nicht ein Abschieben der Verantwortung auf die aus diesen Um- und Zuständen immer öfter Fliehenden. Diese verlassen ihre Heimat nämlich keineswegs aus Lust und Laune, sondern weil sie durch die dortigen Lebensbedingungen, die die westliche Zivilisation zumindest mitverursacht hat, zu Vertriebenen werden. Die logische Konsequenz ist es vielmehr, für sie und die Fehler der Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen und ihnen eine neue Heimat zu bieten. Das erfordert Denk- und Bewusstseinsarbeit und das Erkennen von Chancen, die in dieser Möglichkeit liegen. Zu idealistisch gedacht? Ja, vermutlich schon, womit auch ich eingestehen muss – wie schon in der Vorwoche thematisiert – , dass die Menschlichkeit des Menschen enden wollend ist und sich dieser Umstand politisch gut ausnützen lässt. Zukunftsträchtig ist er aber keineswegs. Denn die daraus folgenden Konsequenzen sind – wenn man sich genau hinzuschauen traut – absehbar. Und sie verheißen nichts Gutes.

„No problem can be solved from the same level of consciousness that created it“, soll Albert Einstein gesagt haben. Und da gebe ich ihm oder jenem, der diesen Gedanken in die Welt gesetzt hat, absolut Recht. Es ist wohl immer eine Frage des Bewusstseins, aber auch eine Frage der nötigen Hintergrundinformationen, um die Ursachen eines Problems zu erkennen und damit nicht ständig an irgendwelchen Symptomen herum zu doktern sondern deren Anlass zu verändern.

Dazu gibt es eine kleine metaphorische Geschichte, die ich hier aus der Erinnerung erzählen möchte: Ein am Ufer eines Flusses stehender Mensch sieht einen um Hilfe rufenden Ertrinkenden, springt ins Wasser und rettet ihn. Kaum ist er am Ufer, hört er den nächsten Hilfeschrei. Er springt neuerlich ins Wasser, um zu retten – und kommt aus dem Retten nicht mehr heraus, weil ihn ein Hilferuf nach dem anderen ereilt. Ungeklärt bleibt die Ursache, nämlich warum diese Menschen im Wasser sind und zu ertrinken drohen. Tja, Problemtrance verhindert Lösungsorientierung. Und in nicht wenigen Fällen ist sie sogar bewusst herbeigeführt, um „unerwünschte“ Klärung zu verhindern. Siehe das von mir ausführlich dargelegt Beispiel Vertreibung.

Aber auch bei anderen Themen, die ich hier kurz anführen möchte, lässt sich dieser unsägliche Zustand beschreiben:

Im Gesundheitssystem wird wesentlich mehr in die Verhinderung von Krankheiten durch Vorsorgeuntersuchungen oder deren Bekämpfung durch pharmakologische Interventionen, Krankenhausaufenthalte oder medizinisch lebensverlängernde Maßnahmen investiert, als durch das Schaffen von Lebensbedingungen, die eine möglichst lange, gesunde Existenz ermöglichen. Dazu gehören, wie der Arzt und Medizinhistoriker Gerd Reuther in einem Kamingespräch zu seinem neuen Buch über die Pandemiegeschichte Europas ausführt, das ich kürzlich mit ihm geführt habe und das demnächst bei Idealism Prevails veröffentlicht wird, gesunde Lebensbedingungen. Darunter versteht er vor allem saubere Luft, sauberes Wasser und gesunde Nahrungsmittel. Für mich zählen auch von Dauerstress freie Arbeitsbedingungen und eine gesicherte, von Armut befreite Existenzgrundlage dazu. Man müsste durchrechnen, ob die Investitionen in Letztere á la longue nicht noch dazu deutlich günstiger wäre.

Oftmals führen unsinnige Lebensumstände auch dazu, Suchtverhalten zu entwickeln, weil man auf der Suche nach eben jenem Sinn nicht fündig wird. Alkohol ist eine der begehrtesten und noch dazu legalen Drogen. Sie kostet halt, mal mehr, mal weniger. In Finnland, in dem in diesen Tagen die neue konservative Regierung aus vier Parteien (der nationalen Sammlungspartei Kokoomus, den nationalistischen Perusuomalaiset, den Schweden- und den Christdemokraten) ihre Amtsgeschäfte aufgenommen hat, war ursprünglich eine Legalisierung des Alkoholverkaufs von Wein in Supermärkten angedacht. Dazu muss man wissen, dass es in dem nordischen Land eine Art Prohibition gibt, die sich so auswirkt: Alkohol über 5,5 % Alkoholgehalt kann man nur in den eigens dafür eingerichtet staatlichen „Alko“-Läden bekommen und das bei eingeschränkten Öffnungszeiten. Das heißt, dass es in den Supermärkten nur Bier, Cider und Alkopops zu kaufen gibt, die diesen Grenzen entsprechen. Je größer die Menge und je höher der Alkoholgehalt, desto teurer die Ware. Die billigste 0,33l-Dose Bier ist nicht unter einem Euro zu bekommen. Zusätzlich gibt es auch für die Gastronomie strenge Auflagen bezüglich des Alkoholausschanks. Die diesbezüglichen Lizenzen, die man als Gastwirt erwerben muss, sind teuer und wirken sich auf die Preise von Alkoholika aus. So kostet ein Krügel Bier mitunter schnell einmal neun Euro. Trotz dieser restriktiven Maßnahmen ist Alkoholismus in Finnland allerdings ein dauerhaftes Problem. Die geplante Anhebung der Marke für den Verkauf von alkoholischen Getränken in Supermärkten auf einen Wert von 14% Alkoholgehalt wurde allerdings durch die Christdemokraten verhindert, die ihre Haltung zur Koalitionsbedingung gemacht haben. Guter alter Puritanismus und trotzdem möglicherweise nicht einmal zeitgemäße Klientelpolitik. Immerhin konnte ein „Kompromiss“ erreicht werden. Demnächst dürfen Alkoholika bis 8% auch in den Supermärkten verkauft werden. Im Hinblick auf die bevorstehenden Kürzungen im Sozial- aber auch im Bildungsbereich darf man nicht davon ausgehen, dass sich das Alkoholproblem dadurch wird lösen lassen. Aber immerhin wird die Mineralölsteuer gesenkt und damit das Autofahren günstiger, was angesichts einer weiteren Ausdünnung des öffentlichen Regionalverkehrs wohl existenziell ist.

Apropos Finnland:

Im vorigen Jahr wurde der Marktplatz der zweitgrößten Stadt des Landes neu gepflastert. Verwendet wurden dafür Pflastersteine aus China, weil sie billiger als heimische oder europäische Produktion waren. Diese verrückten Tatsachen spiegeln sich in vielen Lebensbereichen wieder, man kann sie vor allem auch beim täglichen Einkauf beobachten. Obst, Gemüse aber auch Weine aus dem fernen Ausland sind da meist billiger zu haben als die in der Nachbarschaft produzierten Produkte. Das hat Gerald Hofegger gemeinsam mit seiner Frau dazu veranlasst, das Konzept der Weltverträglichkeit zu entwickeln, das er im Rahmen eines Kamingesprächs mit mir und bei einer Veranstaltung von Idealism Prevails vorgestellt hat und das den Energiewert als wesentlichen Faktor für die Preisgestaltung ansetzt. Was in der Produktion mehr Energie braucht, soll teurer werden. Die logische Folgerung daraus ist, dass in der Nähe Produziertes trotz seines angemessenen Preises im Vergleich billiger wird.

Zu guter Letzt möchte ich noch auf die geplante Abschaffung von Bargeld zu Gunsten eines digitalen Zentralbankgeldes eingehen. Was so praktisch klingt, weil es Zahlungen vereinfacht, und uns aus Gründen der Verhinderung von Geldwäsche ans Herz gelegt wird, wird sich wohl als Bumerang erweisen. Bares zu haben bedeutet Freiheit. Und die gilt es zu bewahren. Punktum.

Auch hier ist Ursachenforschung angesagt. Möglicherweise steckt aber auch anderes hinter dieser geplanten Maßnahme – wie man in als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichneten Kreisen vermutet.„Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit“, ein vom ÖVP-Politiker Andreas Khol verkürzt zitiertes Bonmot des römischen Schriftstellers Aurus Gellius entfaltet seine volle Wirkung erst, wenn man es vollständig benennt:

„Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit und nicht der Macht.“

Daher gilt es den Mächtigen in allen Bereichen zu zeigen, was die Wahrheit der Zeit ist. Wir haben es also in der Hand. Nur wir.

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