Der Mensch produziert Chaos
Damit diese ganze Geschichte einen Sinn ergibt, ist es wichtig zu erwähnen, dass auf einer Reise nach Südafrika ungefähr acht Monate zuvor mein Freund neben mir ausgeraubt worden war. Es geschah mitten am Tag, auf einer Straße voller Menschen, die Polizei ging vorbei und niemand half uns auf irgendeine Art. Danach hatte ich immer ein Gefühl von Unsicherheit und Angst, weil die sehr schwache Selbstsicherheit, die ich zuvor hatte, weg war.
Ich hatte bisher mit der Gewissheit gelebt, dass man sicher sein sollte, wenn Menschen um einen herum sind, wenn man in der Innenstadt ist und – am wichtigsten – wenn Polizei in der Nähe ist. Diese Gewissheit war nun wie weggeblasen. Nach diesem Vorfall hatte ich nichts mehr, worauf ich mich verlassen konnte. In meinem Kopf konnte jederzeit alles passieren, und niemand würde irgendetwas dagegen tun. Und ich war auf die Idee gekommen, alleine nach Marokko zu reisen …
(aus Erste Begegnung)
Der nächste Tag kam.
Es war Zeit für mich, Geld zu holen, um die Unterkunft bezahlen und ein paar Lebensmittel einkaufen zu können. Es war nur noch eine einzige Flasche Wasser übrig. Ich wollte nicht rausgehen, also wartete ich ein bisschen und verbummelte noch etwas Zeit. Gegen Mittag ging ich endlich nach unten und fragte nach dem Weg zum nächsten Geldautomaten. Ich bekam eine ungefähre Erklärung, schaute auf die Karte und ging los, verwirrt und ängstlich.
Ich wurde sehr ängstlich, noch mehr als zuvor; ich merkte mir jeden einzelnen Stein in den Wänden, um den Rückweg zu meiner Unterkunft wiederfinden zu können.
Ich versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Ich hielt meinen Blick gesenkt, ignorierte die Männer, die mich anschauten oder mir ziemlich aufdringlich die Waren anboten, die sie verkaufen wollten. Alles um mich herum machte mir Angst. Jede Person war ein möglicher Angriff. Ich wusste ja nicht, ob ich diesen Leuten vertrauen konnte und wie sie miteinander umgingen.
Doch in meinem Kopf war es totenstill. Es war still, weil ich paralysiert war von all dem, was um mich herum geschah. Versteht mich nicht falsch, ich war schon in sehr ähnlichen Umgebungen gewesen, in Situationen, die viel gefährlicher und viel eigenartiger waren als diese. Und da wusste ich noch nicht, wie viele Welten der Planet Erde birgt!
Ich sah jeden, der an mir vorüberging, ganz vorsichtig an. Einmal kam ein Mann auf mich zu, so wie Dutzende andere. Er sah in meine Richtung, und ganz plötzlich öffnete er seine Arme und rief irgendetwas. Mein Herz begann zu rasen, meine Beine waren wie Pudding und meine Hände kalt und zittrig wie die Blätter eines Baums im Winter. Im nächsten Moment sah ich, dass er mit jemandem sprach, der hinter mir war. Ich hatte also gar keinen Grund zur Sorge.
Nach kurzer Zeit gab ich auf und ging zurück zum Hostel.
Ich hatte einen Freund, der am nächsten Tag nach Marrakesch kommen wollte. Ich überlegte mir, dass ich heute einfach das Essen auslassen würde, obwohl mein Magen rumorte. Ich hatte noch ein bisschen Wasser übrig, würde also problemlos überleben. Ich legte alles in die Hände des nächsten Tages; dann würde ich rausgehen müssen, um meinen Freund zu treffen, dann hätte ich keine Wahl mehr. Morgen würde ich also losgehen, um Geld zu holen, etwas zu essen und mich normal zu benehmen.
P.S.: Es ist sehr wichtig zu betonen, dass das, was ich hier erzähle, nicht die Realität von Marokko ist. Die Realität von Marokko ist das, was du erfahren wirst, wenn du dort hinfährst. Mir ging es so, weil ich bis oben hin aufgeladen war mit verschiedenen Gefühlen, die ich nicht auf gesunde Art verarbeitet hatte. Versteht also meine Geschichten bitte als Bericht einer Reise zu mir selbst und nicht als ein Reisetagebuch für Marokko mit konkreten Tipps!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
[…] (aus: Der Mensch produziert Chaos) […]