Der barmherzige Arzt an der Migrationsfront
Pietro Bartolo sieht aus wie jemand, der schon viel zu viel Leid und Tod gesehen hat. Aber trotzdem hat er noch Hoffnung.
Er ist Chefarzt des kleinen Krankenhauses auf der italienischen Insel Lampedusa, einem kleinen Fleck im Mittelmeer, näher an Tunesien und Libyen gelegen als an Sizilien oder dem Festland Italiens. In mehr als 20 Jahren an der Front der Migrationskrise, ist Dr. Bartolo über 250.000 Männer, Frauen und Kinder begegnet und hat diese untersucht. Manche von ihnen befanden sich bereits in Leichensäcken.
Viele von uns erinnern sich noch an ihn, mit der kleinen Favour im Arm auf einem Bild, das sich wie ein Lauffeuer um die ganze Welt verbreitete. Favour, deren Name „privilegiert“ heißt. Sie kam im Mai im winzigen Hafen der Insel an, ganz allein, erst neun Monate alt, mit einer kleinen, blauen, wollenen Mütze. Ihre Mutter, schwanger mit dem nächsten Kind, starb an Verbrennungen in dem Beiboot, das sie in Sicherheit hätte bringen sollen.
„Ich habe um Sorgerecht für sie angefragt, aber sie sagten, ich sei zu alt“, sagt Dr. Bartolo.
Für andere ist er der Arzt in dem preisgekrönten Dokumentarfilm Seefeuer (Fuocoammare), der das Leben auf der italienischen Insel behandelt. Da handelt es sich um eine Dokumentation über die europäische Flüchtlingskrise, die am 3. Oktober in Italien ausgestrahlt wurde – am ersten Jahrestag zur Erinnerung an die Opfer der Migration.
Seit dem 27. September ist er außerdem als der Arzt bekannt, der auf dem Cover des Buches Tears of Salt (Lacrime di sale) erschien, in welchem Dr. Bartolo über seine Kindheit auf Lampedusa schreibt und über den Kampf, mit dem er Tag für Tag am Hafen und in dem kleinen Inselkrankenhaus konfrontiert wurde. Ich bin froh, dass ich die Bekanntschaft dieses großartigen und wirklich barmherzigen Mannes machen durfte und eine sehr kurze aber wichtige Unterhaltung mit ihm führen konnte.
Dr. Bartolo beginnt zu reden, während hinter ihm auf einer Leinwand Bilder aus Lampedusa erscheinen. Das erste Bild ist ein Kreuz von Lampedusa (Croce di Lampedusa). Dieses Kreuz wurde von einem Zimmermann aus Teilen eines Bootes, das am 11. Oktober 2013 vor der Küste Lampedusas sank, gebaut.
An diesem Tag starben 311 eritreische und somalische Geflüchtete im Mittelmeer. 155 andere wurden von Inselbewohnern gerettet. Dieses Kreuz zeugt von der enormen Humanität der Menschen auf diesem kleinen Fleck Erde.
Manchmal fragen sie mich, warum die Menschen auf Lampedusa all dessen nicht müde werden und trotzdem noch jeden willkommen heißen. Ja, Lampedusa heißt seit 25 Jahren Migranten willkommen. Niemals eine Mauer oder Stacheldraht. Niemand wurde zurückgewiesen. Warum tun wir das? Weil Inselbewohner alles annehmen, was das Meer ihnen gibt. Wir heißen jeden willkommen, denn es sind Menschen. Sie sind wie wir.
Auf seiner Insel, die auf Europas meistgenutzten Migrationsroute liegt, gibt es keine Barrieren, keine Mauern, keine Grenzen.
Und selbst Dr. Bartolo versteckt sich nicht hinter Barrieren. Er filtert seine Worte nicht, während er über das berichtet, was auf Lampedusa geschieht.
„In einer Nacht kam ein Boot mit 250 Menschen. Ich musste die üblichen medizinischen Untersuchungen machen, um sicherzustellen, dass es keine ansteckenden Erkrankungen gab. Im Frachtraum war es stockdunkel und dann wurde mir bewusst, dass ich über die Körper von 25 toten Jungen lief“, Dr. Bartolo zeigt auf ein groteskes Bild hinter sich, Körper, die miteinander zu verschmelzen scheinen.
Sie erstickten innerhalb von 15 Minuten, nachdem skrupellose Schmuggler sie mit einem Rohr geschlagen hatten. Sie wollten nur etwas frische Luft. Was mich am meisten schockierte, war, dass sie keine Fingernägel hatten und Blut von den Wänden des Bootes tropfte. Sie versuchten zu entkommen. Sie schafften es nicht.
Bilder und Geschichten gibt es genug. Boote voller Menschen. Leichen. Eine Mutter mit ihrer neugeborenen Tochter, in einem Beiboot auf dem Mittelmeer, die Nabelschnur mit einer Haarsträhne abgebunden. „Wenn ich dieses Bild sehe, fühle ich mich schlecht. Die Mutter hat auf dem Beiboot ein Baby geboren und hat sich ihre Haare ausgerissen, um die Nabelschnur abzubinden. Es gab nichts, was sie sonst hätte benutzen können.“
„Das ist es, was am 3. Oktober 2013 passierte. An dem Tag, der unser aller Leben veränderte und ganz besonders das der Menschen von Lampedusa. An diesem Tag waren es 368.“ Die Leinwand zeigt Bilder von hunderten Leichensäcken.
In dieser Nacht riefen sie mich an und sagten, dass ein Schiff gerade gesunken sei. Ich war am Hafen und die ersten Boote, die kamen, waren die der Fischer von Lampedusa. Sie waren die ersten die eingriffen. Ein kleines Boot fasste 49 Menschen. Es ging ihnen nicht gut, aber sie lebten.
Dann kam ein Fischerboot mit 19 Überlebenden und vier toten Körpern auf dem Hüttendeck. Ich untersuchte ein Mädchen, das unter den Toten in einem Plastiksack lag.
Wie ich es immer mache, nahm ich ihr Handgelenk in meine Hände und ich fühlte einen Herzschlag. Und dann einen weiteren. Sie lebte. Wir hasteten zum Krankenhaus, wo wir sie intubierten und die Herz-Lungen-Reanimation begannen und schließlich, nach 15 Minuten, begann ihr Herz wieder zu schlagen. Ihre Lungen waren mit Wasser gefüllt und sie war in einem Koma, also brachten wir sie mit dem Hubschrauber nach Palermo.
Sie wurde nach einem Monat entlassen und lebt jetzt in Schweden. Nach drei Jahren, am 3. Oktober dieses Jahres, kam sie zurück nach Lampedusa und ich kann die Freude, die ich fühlte, nicht beschreiben. Dieses wunderschöne Mädchen zu sehen, wie sie lebend auf mich zukam und ich ja nur leblos in Erinnerung hatte.
Und sie sagte ‚Ich bin Kebrat‘. Sie war im vierten Monat schwanger. Sie fragte mich, ob ich der Pate ihres Sohnes werden wolle; wir werden sehen!
Dr. Bartolo lächelt, und wir fangen an zu klatschen. Dann wird er wieder ernst. Die kleinen Hoffnungsschimmer des Erfolges und des Lebens scheinen vor dem, was als nächstes passiert, zu verblassen.
„Nach Kebrat, nur noch tote Körper. 368 Leichensäcke zu entpacken. Siehst du diesen weißen Sarg?“, er zeigt auf die Leinwand. „Da drinnen sind eine Mutter und ihr Kind. Sie wurden, durch die Nabelschnur noch verbunden, gefunden. Ich habe sie nicht durchtrennt und sie zusammen in denselben Sarg gelegt.“ Er kämpft gegen Tränen an.
Die Menschen sagen zu mir: Du bist doch daran gewöhnt. Aber das stimmt nicht. Wie kann man sich an so etwas gewöhnen?
In den vielen Jahren, die Dr. Bartolo Migranten und Geflüchtete willkommen geheißen hat, haben sich sowohl die Fluchtmethoden, als auch die Verletzungen und Krankheiten, an denen sie leiden, verändert.
„Ihre Erkrankungen lassen sich auf die enorm schwierige Reise zurückführen. Fieber, Wassermangel, Krätze. Die gefürchtete Krätze, die in Wahrheit nichts Ernstes ist. Sie bringen keine ansteckenden Krankheiten. Und dann gibt es da die neueste, was ich die ‚Beiboot Krankheit‘ nenne.“
Dr. Bartolo erklärt, dass sich in den letzten Jahren vieles wandelte:
Migranten kamen üblicherweise selbstständig mit größeren Booten und kräftigeren Wasserfahrzeugen, die mit Diesel betrieben wurden, auf Lampedusa an. So geschah es bis 2013, als nach dem tödlichsten Schiffsunglück, das nur ein paar hundert Meter vor Lampedusas Küste stattfand, das Land darauf mit der Inkraftsetzung von Mare Nostrum antwortete.
Beiboote, die Migranten auf internationalen Gewässern transportieren, werden abgefangen. Die Mare Nostrum agieren bis 130 Meilen vor Lampedusas Küste. Andere Länder arbeiten mit Italien zusammen.
Auch jene, die keine Migranten oder Geflüchteten wollen. Sie retten sie einfach und lassen sie in Italien. Von dem Moment an, als Mare Nostrum vorgestellt wurde, benutzten Schmuggler kleinere Beiboote und weniger seetaugliche Wasserfahrzeuge, mit Benzin betrieben. Benzin läuft oft ins Boot rein und vermischt sich dort mit Wasser. Diese Mischung ist extrem gefährlich und frisst sich in die Kleidung und Haut der Menschen – mit der Folge von chemischen Verbrennungen und sich schälender Haut.
Bilder von verbrannten Körpern erscheinen auf der Leinwand. „Diese Verletzungen sind sehr ernstzunehmend, aber ich habe selten Menschen gesehen, die sich darüber beschwert hätten – und das schockiert mich. Sie sind durch die Hölle gegangen und beschweren sich nicht!“
Chemische Verbrennungen sind sehr schwer zu behandeln und führen oft zum Tod. „Das ist, was mit Favours Mutter passiert ist. Es wurde viel gesagt, über das kleine Mädchen, aber Tatsache ist, dass wir viel zu viele Kinder genau wie sie sehen und noch sehen werden.“
Und wenn wir von Gewalt und Traumata reden, sind es die Frauen und Mädchen, die am meisten leiden.
Sie alle kommen vergewaltigt an, manche von ihnen schwanger. Auch die kleinen Mädchen mit 12 oder 13 Jahren. Sie fragen nach Abtreibungen, auch wenn sie das in ihrer Kultur gar nicht dürfen. Sie können nicht mal auf den Bildschirm schauen, wenn ich ihnen das Baby zeige. Manche von ihnen wollen einfach sterben.
Dr. Bartolo zeigt uns das Video einer Bootsladung im Hafen von Lampedusa. Hunderte von Menschen, verletzte Frauen, die Route zu dem kleinen Krankenhaus.
Das nächste Video ist eines, das ich nie vergessen werde. Es zeigt die Bergung der Körper all jener, die ihr Leben im Mittelmeer am 3. Oktober 2013 verloren haben.
Da ist der Körper eines Kindes. „Das war das erste Kind, das ich sah, als ich den Reißverschluss des ersten Leichensacks öffnete. Da waren zu viele Kinder.“ Er kämpft wieder mit den Tränen.
Das ist menschliche Grausamkeit. Wir haben das kreiert! Jetzt müssen wir alles tun, was wir können, weil es einfach richtig ist, das zu tun. Das sind Menschen. Fleisch und Blut. Keine Nummern. Sie werden oft einfach nur als Nummern gesehen. Da waren 200, 500, 900.
Ich habe tausende von ihnen tot gesehen. Niemand kann sich an den Anblick des Todes gewöhnen. Für mich lohnt sich all das, auch wenn wir nur einen Einzigen retten. Die Priorität muss sein, Leben zu retten, öffnet die Grenzen, gebt ihnen das Leben, für das sie kämpfen.
Ich verlasse die Halle und fühle mich schwerer. Bilder und Videos sitzen in meinem Kopf fest. Die Worte von Dr. Bartolo klingen noch in meinen Ohren nach. Besonders jene, die er zum Ende der Konferenz sagte, als wir die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch hatten.
Wenn du Arzt bist, achte darauf, menschlich zu bleiben. Das ist das wichtigste überhaupt. Wenn du Menschen vor dir siehst und nicht Patienten, dann bist du auf einem guten Weg. Vergiss niemals menschlich zu sein.
Bleibe menschlich.
Öffne die Grenzen.
Öffne dein Herz.
Lass sie einfach herein.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Hannah Kohn