Demokratie und Religion

Jan-Werner Müller
Gesellschaft

Veranstaltungsdaten

Datum
12. 12. 2016
Veranstalter
Bruno Kreisky Forum
Ort
Bruno Kreisky Forum
Veranstaltungsart
Vortrag, Diskussion
Teilnehmer
Jan-Werner Müller, Politikwissenschaftler, Autor
Isolde Charim, Kuratorin, Moderatorin

Jan-Werner Müller lädt ins Bruno Kreisky Forum zu einem Werkstattgespräch zu seinem Forschungsthema „Demokratie und Religion“, dem er sich im Zuge des Fellowships am IWM (Institut für die Wissenschaften des Menschen) widmet.

Was hat Müller zu dem Thema gebracht?

Erstens sei in Europa deutlich, dass die politische Welt immer noch entscheidend von einem christdemokratischen Hintergrund und seinen Ideen geprägt sei. Historikern allerdings scheint dies ideenhistorisch kaum bewusst.

Zum Zweiten kommt Müller über sein eigentliches Gebiet, den Populismus, zu dem Thema, denn viele der Parteien tragen das Wort „Volk“ im Namen, werden aber nicht mit Populismus in Verbindung gebracht. Müller stellt die Frage, ob diese Parteien andere Wege gefunden haben, an das Volk zu appellieren und ob man daraus etwas lernen könnte.

Drittens ist es die Frage nach der Demokratiefähigkeit des Islams. Denn bis weit ins 20. Jahrhundert wurden viele Dinge über den Katholizismus gesagt, die jetzt dem Islam zugeschrieben werden, wie z.B. dass die Religion (Katholizismus damals, Islam heute) prinzipiell demokratieunfähig sei. Müller gibt zu bedenken, dass es eventuell interessante Analogien und Lehren daraus zu ziehen gäbe.

Die Geschichte der Christdemokratie

Die Demokratie stellte ganz besondere Risiken und Gefahren für religiöse Akteure dar, denn vom Prinzip her stärke die Demokratie den Glauben an die menschliche Selbstermächtigung und die Illusion, dass wir unser Schicksal selbst bestimmen können. Das an sich sei schon eine Form des Stolzes und der Überzeugung, die mit christlichen Werten in Konflikt geraten könne.

Außerdem sei die Demokratie auch grundsätzlich institutionalisierte Unsicherheit, denn es gäbe Wahlen, deren Ausgang immer ungewiss sei – dies könne sowohl positiv als auch negativ aufgefasst werden.

Das sei für religiöse Akteure eine Herausforderung, denn wenn die ihrer Meinung nach „Falschen“ die Mehrheit bekämen, könnten sie vielleicht systematisch gegen die Kirche vorgehen. Für religiöse Akteure sei auch die Philosophie und der damit einhergehende Relativismus ein Problem, denn wenn man wie die Kirche absolute Wahrheitsansprüche habe, müsse man aus ihrer Sicht gar nicht abstimmen.

Der Kirche bliebe im Grunde nur ein Weg: Sie musste die Demokratie gewissermaßen bejahen, da sie aber auch eine Gefahrenquelle war, musste sie für religiöse Akteure sicherer gemacht werden.

Müller hat hierzu die These, dass drei Strategien wichtig wurden:

Erste Strategie: Das Beste ist, wenn das Volk so religiös wie möglich ist.

Die Demokratie bedeute eine Freiheitsmaximierung, wodurch die Menschen eine moralische Grundausstattung als Halt bräuchten – dafür sei der Katholizismus gut, da er Werte und Handlungsweisen vorgebe. Das System würde so also durch das Volk selbst reguliert.

Zweite Strategie: Es sollen Institutionen erstellt werden, die das Volk unter Kontrolle halten, wie ein Verfassungsgericht.

Ratzinger sagte dazu, die Demokratie ohne das Christentum sei Totalitarismus, und die Religion erst sei es, die die Moral liefern könne. Die Kirche sei also unabdingbar. Aus genau diesem Grund sei es auch so wichtig, dass die Kirche selbst nicht demokratisiert werde – denn sonst könne sie kein Gegengewicht mehr darstellen.

Dritte Strategie: Parteien sollen die Christdemokratie sicher machen.

Hans Maier, späterer Kultusminister Bayerns, betonte, dass Europa diese Parteien brauche, weil in Europa selbst keine christdemokratischen Gesellschaften existierten. Der Sinn dieser Parteien war es nicht, die Gläubigen möglichst sanft an die Demokratie heranzuführen; vielmehr sollten sie eine Abwehrfunktion haben, um Schutz vor einem allzu liberalen, zu säkularen Staat zu bieten.

Interessant sei gewesen, dass die Namen dieser Parteien sehr oft die Vorsilbe „Volk“ beinhalten. Hiermit sollte jedoch nur ausgedrückt werden, dass die Partei sich selbst als volksnah verstand, keineswegs aber war es eine grundsätzliche Zustimmung zur Demokratie.

Der Vatikan und die Christdemokratie

Zum Thema Vatikan und Christdemokratie stellt sich für Müller ein weiteres Problem heraus, denn die Zurückhaltung gegenüber der Christdemokratie habe auch einen ernstzunehmenden ideologischen Hintergrund: Die Kirche müsste sich dazu pluralistisch zeigen, als eine Partei unter vielen, wenn sie die Christdemokraten annehme. Das aber ist nicht die Haltung der Kirche. So war das Verhältnis des Vatikans zur Christdemokratie ein eher schwieriges.

Anfang der Fünfzigerjahre schlossen Kirche und Staat einen Deal, der historisch interessant war. Die religiösen Akteure sagten: „Wir wollen unsere Moralvorstellungen, und solange diese vorhanden sind, machen wir bei eurem Programm mit“, und die Neoliberalen (die sich damals auch selbst so nannten) sagten: „Gut, solange wir unsere Vorstellungen von sozialer Marktwirtschaft bekommen, machen wir bei euren katholischen Sachen mit.

Müller sieht dies als schlüssigste Erklärung dafür, dass eine Zusammenarbeit zustande kommt. Müller betont, dass es auch ganz anders hätte laufen können, denn mit vorherrschend zu dieser Zeit sei ein Zitat von Ernst-Wolfgang Böckenförde gewesen: „Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.

Heute würde aus diesem Satz herausgelesen, dass die Demokratie selbst fragil sei und mithin eine Injektion von Moral von außen (also von der Kirche) brauche. Ursprünglich aber bedeute der Satz genau das Gegenteil, denn er geht noch weiter:

Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit Willen eingegangen ist.

Der Kontext sei ursprünglich also gewesen: Geht das Wagnis ein! Es kann keine Garantie geben, die Demokratie ist eine strukturell offene Form, in der es gewisse Garantien nicht geben kann.

Das habe Böckenförde zu der Zeit zu unterstreichen versucht, indem er Zitate ausgrub, in denen die Kirche das Dritte Reich willkommen hieß. Das nutzte er für sich, indem er sagte: „Wenn ihr wieder das macht wie 1933: ‚wir Katholiken kümmern uns nur um einen kleinen Bereich, uns ist egal, was für ein Regime das ist‘, dann kann euch das auch wieder passieren.“ Diese Stellungnahme schlägt ein und wird mit der Zeit auch von vielen Katholiken akzeptiert.

Ab den Siebzigerjahren betont Böckenförde selbst dann wieder die andere Lesart, dass die Demokratie sehr wohl die Religion brauche, als strukturelle Regierungsform.

Das Zitat sei auf profunde Weise ambivalent und bediene damit ganz unterschiedliches politisches Publikum.

Christdemokratie und die drei Strategien heute

Müller sieht für die dritte Strategie, die Christdemokratischen Parteien, heute keine große Zukunft mehr, die deutsche CDU sei die große Ausnahme. Die Parteien haben heute nicht mehr die integrationspolitische Funktion, die sie in den 50ern und 60ern hatten. Ihnen ist ihre Basis, eine Koalition aus Bauerntum und Mittelstand bzw. Industriellen, abhanden gekommen.

Interessant ist laut Müller auch, dass in vielen Ländern wieder vermehrt ein Kulturkampf herrsche; er nennt hier Spanien, wo die katholische Kirche im letzten Jahrzehnt massiv mobil machte u.a. gegen den damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Zapatero, sowie Frankreich, wo hunderttausende Menschen auf die Straße gingen, um gegen gleichgeschlechtliche Ehen zu protestieren, und schließlich den zurückgetretenen Papst Ratzinger, der eine klar kulturkämpferische Haltung vertrat.

Mittlerweile gibt es außerdem wieder einige Parteien, die sagen: Christentum ist für uns kein Ethos, sondern nationale Identität. Hier nennt Müller Orbán, der sagt: „Ich offeriere euch ein europaweites ideologisches Angebot, kommt zu mir, ich bin der letzte authentische Vertreter einer christdemokratischen nationalen Grundhaltung mit streng konservativer Familienpolitik, ideologischer Durchformierung der Gesellschaft, und das wahre Europa ist konservativ.

Hier erkennt Müller eine Wiederkehr der ersten und z.T. zweiten Strategie, jedoch ohne die Annahme der Grundgedanken der pluralistischen Demokratie.

Liberalismus als Teil des Problems:

Der britische Theologe John Milbank führt ein antiliberales Programm. Er geht davon aus, dass das Problem des Liberalismus das genaue Gegenteil von dem ist, was Böckenförde gesagt hat. Denn der Liberalismus könne seine Voraussetzungen nicht nur garantieren, sondern sie auch tatsächlich verwirklichen, er werde somit zur self-fulfilling prophecy. Im modernen Staat werden wir also alle egoistische, aggressive Akteure. Das ist die Grundannahme, weshalb wir den Liberalismus als Ganzes möglichst hinter uns lassen sollten.

In der Ökonomie sollten wir uns wieder auf Ideen konzentrieren wie Solidarismus, Dezentralisierung, Gemeinwirtschaft, auf alles, was weggeht vom starken Staat und von einer Gegenüberstellung des starken Staats gegen ein atomistisches (kleinteiliges) Volk. Stattdessen sollten wir eine möglichst pluralistische, dezentrale, in verschiedene Institutionen gegliederte Politik haben. Müller sieht nicht, dass eine dieser Strategien 1:1 in die Gegenwart zu übersetzen wäre, aber das Bewusstsein dafür sei enorm wichtig.

Gespräch mit Isolde Charim

Ist Religion demokratiefähig?

Es gibt gute Gründe dafür, warum religiöse Akteure der Demokratie erstmal skeptisch gegenüber stehen, und das ist auch der Normalfall. Aber es gibt andere Kontexte, denn es besteht immer die Gefahr, dass die Politik überhandnimmt und die Religion korrumpiert.

Jan-Werner Müller und Isolde Charim

Zur Demokratie gehört auch eine demokratische Subjektivität, und die drei Strategien sind für mich alles Strategien, um diese Subjektivität durchzustreichen und auszuhebeln. Ich glaube, der wirkliche Kern all dieser Strategien, Abwehrinstitutionen, Abdichten der Demokratie gegenüber der Kontingenz, all das sind Formen, das genuin Demokratische eigentlich durchzustreichen.

Richtig, aber es gibt viele Theologen, Theoretiker und Philosophen, die genau das Gegenteil sagen: In gewisser Weise sei Demokratie ins Christentum angelegt.

Hier wird Maritain interessant, der sagte: „Ich bin antiliberal, Liberalismus ist für mich Materialismus, und wir brauchen etwas anderes, wir brauchen das Gedankengebäude des Personalismus, das ist alles, was ihr wollt an Menschenrechten, an Gleichstellung, und da ist die Gemeinschaft immer schon mitgedacht.

Das ist dann auch ein Gedankengebäude, welches für Gläubige akzeptabel ist, bei dem sie sagen können: „Das ist plausibel, das ist aus unserer Welt, ich bin nicht einfach übergelaufen zu den materialistischen Liberalen.“ Gleichzeitig war es auch plausibel genug für die Nicht-Gläubigen, weil man ihnen signalisieren konnte: „Wenn wir Katholiken jetzt eine Mehrheit haben, dann machen wir nichts autoritär, sondern haben die Gleichheit akzeptiert.

Wenn man jetzt den Brückenschlag macht zum Islam, dann ist die Frage ganz klar die nach einem solchen Gedankengebäude, mit dem Gläubige und Nicht-Gläubige leben können. Jeder könnte sich sicher sein, dass aufgrund dieser Ideale – sofern akzeptiert – nicht plötzlich eine Seite ausschert und sagt: „Jetzt, wo wir die Mehrheit haben, unterdrücken wir euch doch.

Es gab Politikwissenschaftler, die sagten: „Ihr müsst die nur mal machen lassen, wenn die an der Macht sind, haben die keine Zeit mehr für große ideologische Ideen, dann müssen sie Ergebnisse vorweisen.“ – Nach den Ereignissen von 2011 in Ägypten sieht diese Theorie allerdings nicht mehr so plausibel aus, und außerdem ist dieser Ansatz nicht demokratisch, da ja davon ausgegangen wird, dass schon im Vorfeld gesagt werden kann, wie es ausgehen wird.

Kommen wir noch einmal zu Böckenförde, der sagt: Der freiheitliche Staat lebt von den Voraussetzungen, auch wenn er das Wagnis um der Freiheit Willen eingegangen ist, braucht er diese Voraussetzungen, und dieses „Munitionsdepot“ kann er aus Sicht von Böckenförde nicht bereitstellen. Ist das nicht ein falsches Verständnis von Demokratie?

Einerseits ist der Satz eine Trivialität, denn kein politisches System kann sich selbst garantieren, es kann immer schief gehen, auch unter totaler Kontrolle, das alles fußt ja auf der Annahme, es könne ein System geben, das sich selbst garantieren könne, aber das stimmt ja nicht.

Das beste Gegenargument ist zu sagen: Wenn erstmal gewisse demokratische Grundpraktiken eingeübt sind, können sich sehr wohl Überzeugungen durchsetzen, wo man diese „Injektionen“ der moralischen Substanz von außen nicht mehr braucht.

Fairerweise muss man hier anfügen, dass Böckenförde auch sagte, dass es nicht Religion sein müsse, sondern das könne auch Wissenschaft sein, Kunst, es müsse nur irgendetwas anderes sein, es brauche den Gegensatz. In den späten 70er-Jahren gab es die „Grundwertedebatte“, wo Böckenförde Berater von Helmut Schmidt war und sich geweigert hat zu sagen, dass es immer die Religion brauche. Deshalb war auch die Kirche erbost über Böckenförde, dass er sein Amt nicht nutzte, um sich für die Kirche als Produzentin von Sinnhaftigkeit und Sittlichkeit stark zu machen.

Böckenförde ist eine komplexe Figur, die sich eine gewisse Demokratieskepsis aufrechterhielt, aber eben auch die anderen Facetten aufwies.

Fragen aus dem Publikum

Als Beispiel dafür, wo es geklappt haben soll, die Demokratie einigermaßen im Islam unterzubringen, wird immer wieder Tunesien genannt. Können Sie das näher erklären?

Es gibt hier unterschiedliche Sichtweisen:

Einerseits, dass es einigermaßen glimpflich ausgegangen ist; die Partei Ennahda hat gesagt, dass sie keinen islamischen Staat und die Religion aus der Politik heraushalten wolle. Ghannouchi sagte dazu: „Wir wollen die Kirche als Quelle haben, von Werten und gutem Verhalten, aber wir wollen das keinem aufzwingen.

In Tunesien hat aber (und das ist die andere Sichtweise) im Prinzip das alte Regime gewonnen, denn genug Menschen sind der Meinung, dass sich nichts geändert habe. Ernüchternd ist z.B., dass proportional zur Bevölkerungszahl Tunesien das Land ist, welches die meisten jungen Menschen an den IS verliert. Also laufen gerade aus dem Land, in dem es angeblich so gut geklappt hat, die meisten Menschen über, weil sie sagen: „Unser Land ist blockiert.“

Können Sie eine Definition von Demokratie geben?

Grundsätzlich braucht es in einer Demokratie immer die Anerkennung der Bürger als Freie und Gleiche.

Dann ist Teil der Demokratie immer die institutionalisierte Unsicherheit, denn es gibt Wahlen, und deren Ausgang kann niemand vorhersagen. Daher ist eine Aussage wie die von Hofer: „Er ist gezählt, aber nicht gewählt“ undemokratisch, denn in der Demokratie gibt es nur Zahlen, man muss das Wahlergebnis nicht gut finden, aber man muss es anerkennen.

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Jan-Werner Müller Jan-Werner Müller Hannah Kohn CC BY-SA 4.0
Jan-Werner Müller und Isolde Charim Jan-Werner Müller und Isolde Charim Hannah Kohn CC BY-SA 4.0