Das Vogelkrankenhaus: Schönheit im Chaos
Delhi ist eine riesige, chaotische Stadt, und obwohl dort Millionen und Millionen Menschen um mich herum sind, bekomme ich manchmal das Gefühl, alleine zu sein. Jeder hat es eilig, läuft hierhin und dorthin und rempelt einen dabei an. Wo immer man hingeht, findet man einen Haufen von Menschen vor.
In dieser Metropole ist es – wie vermutlich in vielen großen Städten – schwer, Frieden und Harmonie zu finden, weil man den Stress förmlich in der Luft spüren kann und es fast unmöglich erscheint, davon Abstand zu bekommen. Da ich immer in kleineren Städten gelebt habe, ist es schwer für mich, mit dem Großstadtleben Schritt zu halten. Ich bin daran gewöhnt, mit dem Fahrrad zu fahren oder einfach zu Fuß zu gehen anstatt die U-Bahn zu benutzen oder lange im Verkehr festzustecken.
Wenn ich gelegentlich jemanden freundlich anlächle, wie ich es von Zuhause gewohnt bin, sehen die meisten mich nur ganz überrascht an, als ob sie so etwas noch nie zuvor erlebt hätten, und ich bekomme fast den Eindruck, dass sie es als negativ auffassen. Das Stadtleben scheint sehr rau zu sein, die Menschen sind angespannt und gereizt und in schlechter Stimmung. Daher bricht leicht Streit aus; eine Kleinigkeit, wie zu lange auf das Essen warten zu müssen oder im Verkehr festzustecken, kann schon ausreichen, um die Leute die Beherrschung verlieren zu lassen – ich habe das selbst gesehen.
Doch ich glaube, wenn ich ständig dort leben müsste, würde ich mich ebenfalls anders fühlen und mich anders verhalten; das ständige Gedränge, die schmutzigen und staubigen Straßen, der chaotische Verkehr mit all der Huperei, die Hitze usw. – all das sind Faktoren, die ständig auf das Gemüt einwirken und einen im Inneren schlecht gelaunt und verbittert machen können. Das Gute ist aber, dass es in all diesem Chaos und diesem Wahnsinn doch auch viele positive Dinge in Delhi gibt. Man muss nur danach suchen!
Ich möchte hier von einem ganz besonderen und einzigartigen Erlebnis erzählen, das ich kürzlich hatte:
Ich war in Alt-Delhi unterwegs, einem der am dichtesten bevölkerten Viertel Delhis, und suchte verzweifelt nach einer Toilette. Für Männer gibt es dort offene Urinale, durch die es in den Straßen unglaublich stinkt, aber für Frauen ist es ein wenig komplizierter. Nach einer Weile sehe ich nicht weit entfernt einen McDonald’s, das einzige wirkliche „Restaurant“ mit einem Sitzbereich. Doch als ich es betrete, sagen sie mir zu meiner Enttäuschung, dass sie keine Toilette haben. Ich gehe also noch weiter, bis zum Ende der Straße, und an der großen Kreuzung sehe ich inmitten des Chaos einen Tempel – den Roten Tempel Sri Digambar Jain, auch bekannt als Lal Mandir.
An dieser Stelle möchte ich ein paar Dinge über den Jainismus einfügen, da viele Menschen (so auch ich, bevor ich nach Indien kam) nichts über diese faszinierende Religion wissen: Jainismus oder Jain Dharma ist eine alte indische Religion.
Es gibt zwei Hauptsekten unter den Jainisten: Die Digambara, die keinerlei Kleidung tragen, und die Shvetambaras, die einen weißen Lendenschurz tragen. Die Mönche und Nonnen der Digambara-Sekte tragen einen Besen aus Pfauenfedern bei sich, mit dem sie den Boden fegen, bevor sie ihn betreten oder sich darauf niederlassen. Und warum? Um nicht auf irgendwelche Insekten oder andere winzige Tiere zu treten. Faszinierend, oder?
Ich frage den Herr am Eingang, ob sie eine Toilette haben und ob ich den Tempel betreten dürfe, und er antwortet sehr freundlich und mit der Andeutung eines Lächelns: „Ja – ziehen Sie Ihre Schuhe aus und treten Sie ein.“ Ich mache das und gehe über einen langen roten Teppich bis zu dessen Ende, dann sehe ich rechts von mir das Symbol für die Toilette und fühle mich unglaublich erleichtert.
Da ich sehr neugierig bin, was das sein könnte, steige ich die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. An den Wänden hängen zahlreiche Gemälde; Gemälde von Anhängern des Jainismus und von Mahavira selbst, dem letzten spirituellen Lehrer dieser Religion. Vor allem zwei der Bilder erregen meine Aufmerksamkeit: Eines zeigt einen Jain, der in dem bekannten Lotossitz des Joga (dem Padmasana) in der Natur mit dem Rücken zu einem Baum sitzt und meditiert, von Tieren umgeben. Das andere zeigt Mahavira, stehend und mit einer Schlange neben ihm. Obwohl viele Schlangen giftig und potenziell tödlich sind, werden sie in der indischen Kultur verehrt. Die Schlange auf dem Gemälde hat Mahavira gerade gebissen, doch anstelle von Blut tritt Milch aus der Wunde.
Die Bedeutung der Bilder ist die Forderung, nichts und niemanden zu verletzen oder zu töten für etwas Schlechtes (so wie es der Schlangenkönig Mahavira angetan hat), sondern den Übeltäter stattdessen auf den richtigen Pfad zu führen. Indem er Milch – die in der indischen Kultur als etwas sehr Gutes und Positives angesehen wird – anstelle von Blut sehen ließ, lehrte Mahavira den Schlangenkönig, der seine Tat daraufhin bereute.
Im dritten Stock angekommen, öffne ich die Tür und betrete einen Raum, auch dieser voller Gemälde und mit bedeutungsvollen Geschichten, die an die Wände geschrieben sind. Ich bleibe stehen und lese. Ein Gemälde zeigt einen Mann und eine Taube auf einer Waage sowie einen Falken, der sie beide beobachtet. Daneben steht die folgende Geschichte: GNADE. Der mutige und gnädige König gab Teile seines eigenen Fleisches und schließlich sein ganzes Leben, um eine Taube (einen Halbgott) davor zu bewahren, zur Beute eines Falken (ebenfalls ein Halbgott) zu werden. Beide Halbgötter verneigten sich im Bewusstsein ihrer Göttlichkeit und segneten den König für seine Bemühung, den Schmerz zu lindern.
Tiere spielen eine sehr wichtige Rolle und tragen eine symbolische Bedeutung. Sie werden als Boten der Götter oder selbst als Gottheiten angesehen und daher als heilig verehrt. Ihre Rolle ist so bedeutend, dass der König sich selbst opfern wollte, um die Taube zu retten. Unten rechts ist ein Symbol zu sehen, eine Swastika; sie ist ein sehr altes Symbol für Glück und Wohlbefinden, das Hitler unglücklicherweise als Hakenkreuz zu einem Symbol des Bösen machte.
Danach beginne ich, den Gang hinunter zu gehen. Rechts und links von mir sind etliche Käfige, links die etwas größeren, rechts die kleineren. In jedem dieser Käfige befinden sich Vögel verschiedener Arten. Ich sehe vier große Falken links von mir, verschiedenfarbige Papageien und Wellensittiche zu meiner Rechten und auch eine Menge Tauben. Einige der Tiere haben einen Verband an ihren Beinen, andere liegen einfach da und ruhen sich aus.
Ich bleibe vor dem Taubenkäfig stehen und beobachte eine Taube, die ununterbrochen mit zur Seite geneigtem Kopf im Kreis läuft. Dann höre ich in einiger Entfernung Schritte und eine Stimme, die mir sagt, dass die Taube paralysiert sei. Der Mann stellt sich als der Tierarzt des Vogelkrankenhauses vor. Er erzählt mir von seiner Arbeit und wie alles begann.
Ein Team aus qualifizierten Technikern und Ärzten versorgt verletzte Vögel, die unterschiedlichste Leute zu ihnen bringen oder die sie selbst auf den Straßen finden. Im Moment gibt es dort ungefähr 5.000 Vögel verschiedener Arten in unterschiedlichem Gesundheitsstatus.
Gesunde Vögel, wie etwa die, die von ihren Besitzern aufgegeben wurden, lässt man zweimal die Woche draußen fliegen. Fast jeden Tag werden 50-60 neue Vögel ins Krankenhaus eingeliefert, noch einmal fast dieselbe Zahl wird im Außendienst behandelt. Neben der Behandlung der Tiere bietet das Krankenhaus auch Beratungen für Vogelliebhaber per Telefon oder Email an. Dabei werden einfache Dinge vermittelt wie Erste-Hilfe-Techniken, das Bereitstellen von Wasser und Körnern, aber auch der Ratschlag, dass man Vögel nicht in Käfigen halten solle oder Tipps wie das Verhüllen von Deckenventilatoren mit Drahtgittern, um Verletzungen bei Vögeln zu vermeiden.
Das Vogelkrankenhaus ist 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr geöffnet, doch da die Besuchszeit um neun Uhr abends endet, bittet mich der Tierarzt hinaus. Obwohl ich gerne noch länger geblieben wäre, sehe ich das ein und bedanke mich für die Möglichkeit des Besuches und für das nette Gespräch.
Gerade als ich die Treppe hinuntergehe, kommen mir zwei Leute mit einer Schachtel mit einem verletzten Vogel entgegen, und alles was ich denken kann ist: Wow, es ist wirklich aufregend, dass so etwas in der Welt existiert, vor allem in einer der belebtesten Gegenden Delhis! Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen und hätte nie gedacht, dass es so etwas wie ein durch Spenden finanziertes Vogelkrankenhaus überhaupt gibt. Ich bin wirklich beeindruckt!
Diesen Ort und diese wundervollen Menschen kennenzulernen machte mich wirklich glücklich und erfüllt, und mir wurde stärker als je zuvor klar, dass es Schönheit überall gibt, auch mitten im größten Chaos. Man muss nur daran glauben und danach suchen!
Viel Glück bei der Suche 🙂
Was denkt ihr über das spendenfinanzierte Vogelkrankenhaus?
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
Wirklich interessant, hàtte mir nie so eine Einrichtung vorgestellt, da sieht man was der religiòse Glaube fúr eine Kraft auslòst. Bravo, Interessanter Bericht, mache so weiter, Grússe Rudi
Danke 🙂 Ja genau, manchmal löst der Glaube eine positive Kraft aus wie in diesem Fall und manchmal leider eine negative..