Das Varna-System

Karma - Das Futter für die Seele
Meinung

Das Kastensystem ist eine unbestreitbare Realität der indischen Sozialstruktur. Seine erheblichen Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Leben vieler Inder seit uralter Zeit sind nicht zu leugnen. Der Einfluss des Kastensystems in Indien ist allumfassend, weil die praktischen Auswirkungen, die sich daraus ergeben, jeden einzelnen Aspekt des indischen Lebens durchdrungen haben. Das Kastensystem hat nicht nur die Sozialstrukturen und das Glaubenssystem in Indien maßgeblich beeinflusst, sondern seit jeher auch die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten dieses Landes.

Das Kastensystem ist eine moderne Ausprägung des alten Varna-Systems. Der Begriff „Varna“ stammt aus dem Sanskrit und bedeutet so viel wie zählen, klassifizieren, beschreiben oder auch wählen. Die früheste Erwähnung des Varna-Systems wurde im Vers „Purusa Sukta“ im Rigveda gefunden. Der Rigveda ist einer der vier Veden; die drei anderen sind das Yajurveda, der Samaveda und der Atharvaveda. Die Veden sind im vedischen Sanskrit verfasste antike Schriften oder auch Wissenssammlungen. Nach der Auffassung des Hinduismus wurden die Veden von den Weisen des alten Indiens nach göttlichen Offenbarungen verfasst.

Tatsächlich wird das Varna-System in vielen anderen alten Texten, die sich auf dem indischen Subkontinent entwickelt haben, intensiv diskutiert, wie etwa im Manusmriti, in den Dharma-Shastras sowie in buddhistischen Texten ebenso wie in Texten des Jainismus wie den Adi Puranas.

Entsprechend diesen alten Texten wurde die Gesellschaft in vier Varnas eingeteilt: BrahmanenKshatriyas, Vaishyas und Shudras. Viele Formen der Diskriminierung, die im heutigen Indien stattfinden, liegen im Varna-System begründet, und man geht allgemein davon aus, dass diese vier Varnas eine hierarchische Natur haben. Auch unsere gegenwärtige Sozialstruktur ist stark durch das Varna-System beeinflusst, dessen Zuordnungen grundsätzlich mit der Geburt verbunden sind. Weiterhin wird das Varna-System im Sinne von Reinheit und Unreinheit verstanden.

Doch lässt sich dieses Verständnis mit den Veden und den vielen anderen antiken Texten eigentlich gar nicht begründen. Ich möchte hier daher ein alternatives Verständnis des Varna-Systems vorstellen, das von den antiken Texten ausgeht.

Entsprechend der Veden repräsentieren die vier Varnas – Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas and Shudras – den Mund, die Arme, die Schenkel und die Füße eines Pirat Purusha (Purusha bedeutet Mann), eines urtümlichen Purusha. Auf der Basis einer solchen metaphorischen Kategorisierung begann der Glaube zu wurzeln, dass die Brahmanen eine hohe und die Shudras eine niedere Stellung einnehmen.

Das verbreitete Missverständnis, dass die Shudras niedrig und unrein seien, entstammt der Fehlinterpretation dieser Deutung, dass die Shudras die Füße des Pirat Purusha repräsentieren. Selbst heute noch ist es den Shudras in bestimmten abgelegenen Dörfern nicht gestattet, das Haus eines Brahmanen zu betreten, weil sie als unrein gelten. Doch auch wenn solche Praktiken an manchen Orten Indiens noch immer üblich sind, sind sie keineswegs im gesamten heutigen Indien verbreitet.

Doch alte indische Schriften verbinden auch die Erde mit den Shudras, und die Erde hat die Aufgabe, Gottes Schöpfung mit Nahrung, Wasser und Luft zu versorgen.

Eine andere Bedeutung von Varna ist Farbe. In den altindischen Schriften werden auch drei mentale Zustände oder körperliche Konstitutionen als Varnas oder Farben beschrieben. Diese drei Gunas, die das „Tri-Guna“ bilden, sind „Sattva„, „Rajas“ und „Tamas„. „Sattwa“ wird mit der Farbe Weiß verbunden, „Rajas“ mit Rot und „Tamas“ mit Schwarz.

Im alten Indien war die Gesellschaft so organisiert, dass verschiedene Gruppen unterschiedliche Aufgaben für die reibungslose Funktion und das Wohlergehen der Gesellschaft übernahmen. Und das Varna-System war die Manifestation dieser Organisation. Tatsächlich war das Varna-System vielen Gelehrten dieser alten Texte zufolge eher ein Ideal als eine soziale Realität. Weiterhin wurde das Varna auch so verstanden, dass es auf dem Karma einer Person basiert, also auf ihren Taten.

Menschen, die im Sinne der intellektuellen und spirituellen Erweckung der Gesellschaft handelten oder ihr Leben diesem Ziel widmeten, wurden Brahmanen genannt. In anderen Worten: Menschen, die „Sattva guna pradhan” waren, deren ganze körperliche Zusammensetzung „Sattvik“ war, wurden als Brahmanen betrachtet.

Menschen von „Sattvik guna“ sind jene, deren natürliche Neigung es ist, sich um Selbstbeobachtung oder Selbstbewusstwerdung zu bemühen; die an einer Kontrolle über ihre Sinne arbeiten und daran, sich selbst äußerlich wie innerlich rein zu halten, die sich also um die Reinheit ihres Denkens bemühen. Solche Menschen haben normalerweise ein Interesse am Studium der alten Schriften wie der Veden und der Upanishads, um den „Brahman“ zu verstehen und den spirituellen Pfad zu suchen.

Auf der anderen Seite zeichnen sich Menschen, die “Rajas guna pradhan” sind, durch Mut, Furchtlosigkeit und Klugheit aus. Wenn solche Menschen die Verantwortung für den Schutz und die Verwaltung ihrer Gemeinschaft oder sogar eines ganzen Reiches oder Staates übernahmen, wurden sie Kshatriyas genannt.

Diejenigen, die sich dazu entschieden, ihre Leute zu führen und zu beschützen, die auf dem Schlachtfeld niemals zurückwichen und von uneigennütziger Natur waren, wurden als Kshatriyas kategorisiert – so wie Könige und andere Anführer, wenn sie die Verantwortung zum Schutz und zur Führung der Menschen ihres Reiches übernahmen.

Auf ähnliche Weise wurden die Menschen, die „Rajas“ und „Tamas guna pradhan“ waren, als Vaishyas angesehen, wenn ihnen die Aufgabe zufiel, die Gesellschaft mit Nahrung und anderen alltäglichen Notwendigkeiten zu versorgen.

Diese Menschen waren mit Produktion und Handel beschäftigt, um die materiellen Bedürfnisse ihrer Gesellschaft zu erfüllen. Die Menschen, die “Tamas guna pradhan” waren, wurden dagegen als Diener ihrer Gesellschaft angesehen und übernahmen daher entsprechende Verantwortlichkeiten. Sie wurden als Shudras angesehen.

Mahavira, der vierundzwanzigste Tirthankar des Jainismus, sagte im “Uttaradhyana Sara”, dass eine Person durch ihr Karma, also ihre Taten, zum Brahmanen, Kshatriya, Vaishya oder Shudra werde. Diese Auffassung des Varna wird auch von Buddha im “Suttanipata” beschrieben und unterstützt. Die alten Schriften wie die Veden und Puranas sind ein Beleg für die alternative Auffassung, die das Varna-System nicht mit der Geburt verknüpft, so wie es heute verstanden wird. Es war vielmehr ein System, das auf dem Karma und den Taten einer Person basierte.

Im alten Varna-System wurde niemand als überlegen oder unterlegen angesehen. Es wurde vielmehr davon ausgegangen, dass es für das Wohlergehen und das reibungslose Funktionieren einer Gesellschaft notwendig ist, dass jede Person entsprechend ihrer Fähigkeiten und Vorlieben in einer Synergie arbeitet.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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Karma - Das Futter für die Seele Karma – Das Futter für die Seele Nagarjun Kandukuru CC BY 2.0