Das Märchen vom Märchen
Als Schneewittchen der giftige Apfel angeboten wurde, hatte sie keine Wahl
Ja, die Geschichte muss sich von diesem Höhepunkt der Verwicklung aus, von diesem Punkt der Hoffnungslosigkeit zu einem glücklichen Ausgang hin entwickeln! Für die schwächlichen und sogar ein bisschen unbeholfenen Märchenhelden ist das ein ziemlich ungewisser Augenblick, obwohl jeder Zuhörer, Leser und Erzähler zuverlässig weiß, dass genau das passieren würde. Im Märchen. In ähnlichen, wirklichen Situationen verhält sich allerdings alles ganz anders!
Zumindest denken und reden wir so, wenn wir uns selbst oder anderen weise Ratschläge geben! Denn ein Märchen ist manchen Deutungen zufolge ein Synonym für das Unmögliche, für die Lüge, für die Illusion.
Doch prüfen wir einmal, ob das tatsächlich stimmt, oder ob das Märchen doch auch etwas ganz anderes ist, als die darüber kreisenden Gerüchte uns glauben lassen wollen. Außerdem. Jeder ehrliche Wirklichkeitsforscher muss sich ja früher oder später auch mit Märchen auseinandersetzen.
Also, um welche Geschichte handelt es sich, und worüber erzählt sie uns konkret?
Das Ziel und der Zweck jedes Märchens ist es, den Helden zu einem glücklichen Ende zu führen, aber auch, dass zu guter Letzt das Gute das Böse besiegt. Einzig aus diesem Grund existiert und wirkt dieses Muster schon Jahrtausende bei allen Völkern und Kulturen.
Ihr habt Euch sicher schon gefragt, vielleicht noch als Kind, was ein glückliches Ende, was gut und was böse ist. Und, wahrscheinlich ist Euch auch nicht ganz klar, warum wir vom Höhepunkt der Verwicklung ausgehen und nicht mit dem uns allen so gut vertrauten Beginn jedes Märchens:
Ein glückliches Ende im Kontext des Märchens bedeutet, dass der Mensch, der uns zu Beginn der Erzählung begegnet, obwohl er scheinbar dem Unglück, das ihn heimgesucht hat, nicht gewachsen ist, trotzdem alle Aufgaben gelöst und das Böse besiegt hat und ein Held geworden ist, inklusive aller Wohltaten, die so ein Sieg mit sich bringt! Dabei ist im Sinne des Märchens alles gut (gut=schön=golden), was ihm auf seinem Weg durch das Märchen hilft, sein Ziel zu erreichen, und böse ist alles, was dies zu verhindern trachtet. So haben wir, meine Lieben, das Märchen vom Märchen dort begonnen, wo wir es begonnen haben, weil genau das der entscheidende Punkt ist, in dem der Held erschaffen wird.
Ja, so ist das Märchen. Sehr unerbittlich. Da gibt es nicht viel freien Willen, Kalkül oder Kompromisse. Für keinen der Beteiligten. Das Märchen ist, was den Aufbau der Geschichte, die Erzählweise, die Szenographie und den Wirkungskreis der Aufträge seiner Akteure anbelangt, voller strenger Regeln, voller Zwänge und schwerer Aufgaben. Und dies, obwohl es von seltsamen Begebenheiten, ungewöhnlichen, zauberhaften Wesen und Gegenständen – die allem Anschein nach machen, was auch immer sie möchten, ohne irgendwelchen Regeln zu unterliegen – nur so wimmelt.
Und inmitten von alldem ist der Held immer, ausnahmslos immer: ein Mensch! Und zwar keiner mit aufgepumpten Muskeln, kein braungebrannter Held aus Filmen oder Werbungen, kein verwundeter, mythologischer Halbgott und auch kein Rebell und Rächer, der gegen alle Ungerechtigkeiten dieser Welt ins Feld zieht und ewig gegen Windmühlen ankämpft. Der Held ist ein gewöhnlicher, ganz gewöhnlicher Mensch, von dem niemand erwartet, dass er ein Held ist, auch nicht, dass er zu einem glücklichen Ende gelangen wird oder dass durch ihn das Gute das Böse besiegt – obwohl sich das immer, aber ausnahmslos immer genau so ereignet. Im Märchen. Und genau das ist ja auch die fragwürdigste, die kontroverseste Besonderheit des Märchens. Ihretwegen wird das Märchen im Widerspruch zur Wirklichkeit verstanden.
Dabei, das müssen wir natürlich betonen, hätte der Held es nie geschafft, das erwähnte Ziel zu erreichen, wenn er nicht irgendwo auf seinem Weg (zumeist nachdem der falsche Held besiegt worden ist und nachdem die Forderungen des Gebers des Zaubermittels erfüllt worden sind) einen Zaubergehilfen oder ein Zaubermittel (ein Wesen – z.B. ein Zauberpferd; oder Gegenstand – z.B. ein besonderes Schwert; oder ein Wissen – z.B. wo der Gegner verwundbar ist) erhalten hätte, also einen Beistand, der im ausschlaggebenden Augenblick (dem entscheidenden Kampf mit dem Gegner) ganz zweifelsfrei seine Rolle spielen wird.
Genau dieses Auftauchen des Zaubergehilfen und der Zauberhilfe deckt sich mit dem Ort und dem Augenblick im Märchen, in dem der unbeholfene Mensch, der uns zu Beginn der Erzählung begegnet die Möglichkeit bekommt, alle Fähigkeiten und Erfahrungen, die er sich auf seinem Weg durch die Geschichte angeeignet hat, anzuwenden und dann zum Helden wird. Und für uns, die Leser oder Zuhörer, ist das der Ort und die Zeit der endgültigen Übereinstimmung der Wirklichkeit mit dem Märchen oder aber des Widerstreites zwischen ihnen.
Und doch glauben wir nicht daran, dass diese dem Üblichen, Möglichen und Wirklichen angehören, da wir entweder sehr, sehr selten oder vielleicht auch nie Zeugen von etwas Ähnlichem waren. Vielleicht nur in Geschichten, in Träumen, in der Phantasie, in Filmen … Umso mehr, da wir zumeist glauben, dass die Zauberhilfe bedeutet, dass von nirgendwo jemand oder etwas auftauchen würde und dass es genüge, dass dieser jemand oder etwas kurz mit dem Zauberstab wedelt, um all unsere Probleme zu lösen.
Die Zauberhilfe stellt unsere Fähigkeit dar, den Wundern zu gestatten, durch die Risse der festen Fundamente des Alltags in unser Leben einzufließen! Zu einem solchen Einfließen des Märchens in die Wirklichkeit des Menschen kommt es aber fast ausnahmslos erst, wenn er sich in Augenblicken einer Lebensnot – eines Problems, das er unmöglich auf gewohnte Art und Weise oder mittels geläufiger Schwarz-Weiß-Logik lösen kann – eingesteht, dass all dies die eigenen Möglichkeiten übersteigt und er dann seinen Blick in die Höhen und Tiefen richtet, zu einer anderen höheren und tieferen Dimension der Wirklichkeit.
Wenn wir also zu einer inneren oder äußeren Wand gelangen, einer Wand, die um nichts mehr bittet, sondern eine fundamentale Veränderung in uns fordert, dann beginnen sich alle Rädchen unseres Märchenmechanismus zu drehen und zwingen uns, andere Lösungen zu finden, anzunehmen und anzuwenden. Logische Lösungen, aber trotzdem außerhalb der Grenzen der uns bekannten Logik. Vielleicht logisch-intuitive Lösungen, die sich in unserem Bewusstsein in Form von Eingebungen und tiefgreifenden, alles verändernden Erkenntnissen offenbaren. Diese anderen logisch-intuitiven Lösungen sind eigentlich das Wunder! Diese führen zu einem glücklichen Ende …
Die Schlussfolgerung (gegen die vermutlich auch der Herr C. G. Jung nichts einzuwenden hätte), zu der wir zum Ende dieses Märchens vom Märchen oder als Ankündigung und Anfang einer anderen Geschichte kommen könnten, wäre: In irgendwelchen tieferen und klügeren Schichten der menschlichen Seele, im Menschen selbst, hinter der ihm bekannten Wirklichkeit und des Alltags oder irgendwo darüber ist ein Prozess im Gange, der buchstäblich der Geschichte und der Struktur des Märchens folgt. Darum gehen uns Märchen so nahe.
- Glaubst du an Märchen?
- Welches ist dein Märchen?
- Erkennst du in deinem alltäglichen Leben das innere Stimmchen deines Zaubergehilfen?
- Glaubst du, dass sich in den „Gutenachtgeschichten für Kinder“ Lösungen vieler menschlicher Paradoxa verbergen und dass Kinder diese Lösungen logisch-intuitiv vielleicht besser erkennen als die Erwachsenen?
- Bist du offen für neue, andere Lösungen? Für Wunder?
Ein kurzer Überblick des Märchendramas, das sich auf der Bühne der menschlichen Seele abspielt
DIE HANDLUNGSROLLEN: (Einteilung übernommen von W. Propp, einem, was das Thema Märchen anbelangt, mir sehr nahe stehenden, älteren Märchenforscher):
- Held (er bricht auf, um etwas zu suchen, oder er flüchtet; er schafft es, die Aufgaben, die ihm der Geber des Zaubermittels auferlegt hat, zu meistern; er kämpft mit dem Gegner und gelangt am Schluss zur Hochzeit oder zum glücklichen Ende)
- Falscher Held (so wie der Held geht auch er auf die Suche, aber er schafft es nicht, die Aufgaben, die ihm der Geber des Zaubermittels auferlegt hat, zu meistern; er stellt unbegründete Forderungen an den Helden)
- Aussender des Helden (er schickt den Helden auf den Weg)
- Geber des Zaubermittels (manchmal stellt er dem Helden verschiedene Aufgaben, er gibt dem Helden das Zaubermittel, oder er verbindet ihn mit dem Zaubergehilfen)
- Gegenspieler (er richtet Schaden an, er jagt den Helden und kämpft mit ihm)
- Gesuchte Person (sie kennzeichnet irgendwie den Helden, sie spürt ihn auf und erkennt ihn, sie bestraft den falschen Helden, sie steht mit der Hochzeit und dem glücklichen Ende in Verbindung – oft handelt es sich um die Königstochter und ihren Vater)
- Zauberhelfer (er bringt den Helden von einem Ort zum anderen, er beseitigt Nöte und Mängel, er rettet den gejagten Helden, er hilft dem Helden beim Lösen von schwierigen Aufgaben, und er verwandelt den Helden)
HANDLUNG
- Erster Akt: Ein Unglück trifft den Helden, seine Familie oder das ganze Königreich. Der Held macht sich auf den Weg (entweder auf die Suche, oder er flüchtet).
- Zweiter Akt: Verlockungen. Der Held trifft den Geber des Zaubermittels und den falschen Helden. Er löst die Aufgaben des Gebers des Zaubermittels und erhält das Zaubermittel oder den Zaubergehilfen.
- Dritter Akt: Der Held kämpft mit dem Gegenspieler und gewinnt (der Kampf findet meistens drei Mal statt, und er ist jedes Mal unerbittlicher).
- Vierter Akt: Er kehrt nach Hause zurück. Er wird als Held wahrgenommen.
- Fünfter Akt: Der Held bekommt ein halbes oder das ganze Königreich. Hochzeit. Allgemeines Fest. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage!
Übersetzung aus der serbischen in die deutsche Sprache: Nebojša Barać
Credits
Image | Title | Autor | License |
---|---|---|---|
Schneewittchen | Patryk Kopaczynski | CC BY-SA 4.0 |
Bruno Bettelheim „Kinder brauchen Märchen“
http://www.amazon.de/Kinder-brauchen-Märchen-Bruno-Bettelheim/dp/3423350288
auch (zum Buch):
http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/25-2012-2/vomOrde.pdf