Das Leben im Flüchtlingslager
Du kannst es dir nur vorstellen. Wirklich fühlen kannst du es nicht. Das Gefühl, vertrieben zu sein, das Gefühl der Unsicherheit, der Unterdrückung, der Angst; das Gefühl, mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zugleich zu leben; das Gefühl, mit dem Tod zu leben. Es ist mein Zuhause, und doch ist es das nicht. Ich darf es nicht mein Zuhause sein lassen. Ich fühle mich hier zu Hause, und doch fühle ich mich noch immer nicht beheimatet.
Ich versuchte, zu verstehen, was er mir zu sagen versuchte. Ich wollte mehr von ihm hören, denn er war in einem Flüchtlingslager geboren worden. Ich führte diese ernste Unterhaltung mit einem Palästinenser, als der Bus zum Stehen kam und wir unseren Gruppenleiter „Yalla, yalla“ rufen hörten. Das ist ein üblicher Ausdruck im Arabischen, der „los“, „gehen wir“ oder „eilt euch“ heißen kann. Um ehrlich zu sein, waren wir jetzt, als die Reise ihrem Ende entgegen ging, von diesen zwei Wörtern, „Yalla, yalla“, schon ziemlich genervt. Weil wir immer dann, wenn wir einen Ort zu genießen begannen, den Gruppenleiter „Yalla, yalla“ rufen hörten, „Los, wir müssen gehen!“
Wir stiegen aus dem Bus. Wir waren im Flüchtlingslager Al-Jalazone, sieben Kilometer von Ramallah entfernt. Unser Gruppenleiter gab uns einige Anweisungen, was wir tun durften und was nicht.
Uns wurde weiterhin gesagt, dass wir die Gruppe auf keinen Fall verlassen sollten, weil die Flüchtlingslager wie Labyrinthe seien und wir dort leicht verloren gehen könnten. Es könne für jemanden, der sich verirrt habe, wegen der Sprachbarriere ziemlich schwierig sein, zur Gruppe zurückzufinden.
Ich begann, ein bisschen herumzugehen und Fotos von den Wänden voller Graffiti zu machen, von Plakatflächen, von engen Alleen und von allem anderen, das mein Interesse erregte. Die Wände waren voller Malereien und voller Poster von Märtyrern: Es waren diejenigen, die von den IDF (Israeli Defense Forces, das israelische Militär) getötet worden waren, diejenigen, die während Demonstrationen und bei Konfrontationen mit israelischen Soldaten ums Leben gekommen waren, sowie diejenigen, die den Tod dem Leben vorgezogen hatten, um ihr Land zu befreien. Die Gesichter der Märtyrer wurden durch ein paar Angaben kommentiert: ihr Alter, das Datum, an dem sie die Welt verließen, sowie die Umstände, unter denen sie zu Märtyrern wurden.
Die Gemälde und die Poster der Toten überall an den Wänden waren für mich ein wenig verstörend. Ich begann mich zu fragen, wie die Familien dieser Toten sich fühlen, wenn sie die Bilder ihrer ums Leben gekommenen Angehörigen überall und täglich zu sehen bekommen. Es würde sie wohl dazu zwingen, den Schmerz und die Belastung, die sie einst durchgemacht haben, wieder und wieder zu erleben. Ich fragte mich, ob sie wirklich wollten, dass dieser Schmerz einmal nachlässt. Wollen sie wirklich, dass ihre Wunden heilen? Ich glaube, sie wollen das vermeiden.
Was sonst könnte die Motivation sein, Graffiti von Märtyrern an die Wände zu malen oder ihre Poster an alle möglichen Flächen zu kleben? Dabei geht es nicht nur um das Gedenken. Es geht darum, den Widerstandsgeist der Überlebenden zu stärken, sogar im Angesicht des Todes.
Ich glaube, eines der ersten Dinge, die wir uns bei einem Flüchtlingslager vorstellen, ist die Tatsache, dass es völlig überbelegt ist. Mit Menschen überfüllte Straßen und Plätze. Genau dieses Bild hatte auch ich im Kopf, als wir zum Lager Al-Jalazone fuhren. Zu meiner Überraschung waren die Straßen jedoch völlig leer. Wir sahen in den Läden die Besitzer derselben und sonst noch ein paar wenige Einheimische. Es war völlig anders als erwartet. Ich konnte nicht verstehen, wie das möglich war.
Ich hatte den Willen und den Plan, mich mit einigen Bewohnern des Lagers zu unterhalten. So viele Fragen waren in meinem Kopf. Doch mein Verstand wurde mutlos, als ich die engen, verlassenen Straßen durchstreifte.
Mir wurde klar, dass Erfahrungen aus erster Hand etwas ganz anderes sind, als irgendwo etwas über ein Flüchtlingslager und die Situation darin zu lesen. Während wir durch die Straßen gingen, wurde uns erzählt, dass die Lager noch immer unter längeren Stromabschaltungen leiden. Die Bewohner müssen jeden Tag Stunden ohne Elektrizität auskommen. Manchmal gibt es über mehrere Tage keinen Strom, und noch weitere ähnliche Probleme plagen diese Siedlungen.
Was mich wirklich verstörte, waren die Erzählungen über nächtliche Razzien des israelischen Militärs in den Flüchtlingslagern:
Uns wurde erzählt, diese Militärrazzien seien so häufig und so üblich, dass die Bewohner Witze machten: Wenn mal zwei oder drei Tage lang keine Soldaten da waren, müsse beim israelischen Militär etwas nicht stimmen.
Er erzählte seine eigene Geschichte: Er habe sein Studium nicht rechtzeitig beenden können, weil er während seiner Prüfungszeit mehrere Male aus seinem Haus gezerrt und von den israelischen Soldaten geschlagen wurde. Er habe Monate im Krankenhaus verbracht und dadurch mehrmals seine Prüfungen versäumt.
Er sagte:
Flüchtlingslager sind sehr verwundbar, es gibt dort keine Sicherheit. Deine Familie ist nicht sicher, vor allem die jungen Männer der Familie. Sie können jederzeit abgeholt und vom israelischen Militär jahrelang festgehalten werden, und es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Es gibt kein Rechtssystem, das uns beschützt.
Ich konnte die Verzweiflung in seinen Augen sehen. Dann hörte er plötzlich auf zu sprechen und lächelte. Die Verzweiflung in seinem Blick wich einem zarten Hoffnungsschimmer, als er sagte: „So ist das Leben in Palästina. Aber wir werden niemals aufgeben.“ Wir alle lächelten zurück und setzten unseren Rundgang fort.
Ich fühlte mich völlig verwirrt durch den schon zur Gewohnheit gewordenen Gefühlsmix, der sich in mir verquirlte, als ich durch die verschiedenen Städte und Ortschaften im Westjordanland tourte. Ich war so glücklich, dort zu sein. Es war mein Traum. Doch die Geschichten von Leiden und Schmerz, von Tragödien und Übergriffen, die uns zugetragen wurden, machten alles sehr schmerzlich für mich. Alle meine glücklichen Momente waren zugleich belastet mit niederdrückenden Gefühlen. Ich fühlte mich wie eine große Kiste voller Widersprüche.
Wir stiegen wieder in den Bus, der in der Nähe wartete. Es war Zeit zu gehen. Ich war mit vielen Fragen in diesen Ort gekommen. Einige davon wurden beantwortet, andere nicht. Doch als ich das Lager verließ, hatte ich viel mehr Fragen als bei meiner Ankunft.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake