Darshan – Ammas Segen
Das Wort Darshan bedeutet wörtlich „sehen“. Es ist eine Zeremonie, in der Amma (die „Mutter der Liebe“) ihre positive Energie überträgt, indem sie jeden umarmt, der das wünscht; sie ist ab dem frühen Morgen anwesend und bleibt so lange, bis niemand mehr wartet – und wenn es 20 Stunden dauert, niemand wird ausgelassen und alle haben die Möglichkeit, ihr zu begegnen.
Meine Mitbewohnerin weckt mich um fünf Uhr, weil sie zu einem frühmorgendlichen Meditationskurs geht. Danach schlafe ich noch eine Stunde. Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich die Stiege hinunter, um mich zu meinem Jogakurs zu begeben.
Der Jogakurs dauert eine Stunde, und danach bin ich bereit für ein leckeres Frühstück mit frisch gebackenem Maisbrot und Kaffee. Nach dem Frühstück setze ich mich in die Haupthalle, wo bereits viele Leute in einer Schlange warten, um am Darshan teilzunehmen. Die Halle füllt sich schneller, als ich überblicken kann. Amma ist noch nicht da, aber eine Videoaufnahme von ihren Lehren wird abgespielt. Alle hören begierig zu.
In der Zwischenzeit sind rechts von mir einige der freiwilligen Helfer bereits dabei, das Mittagessen vorzubereiten. Ein kleines Mädchen hilft ihrer Mutter beim Käseraspeln. Links sehe ich eine große indische Schulklasse, die gerade angekommen ist, sowie eine Gruppe älterer indischer Frauen.
Ich denke nach und frage mich: „Würde etwas wie dies, wo alle einander respektieren und sich um einander kümmern, auch außerhalb eines Aschrams funktionieren?“
Nach einer Weile trifft Amma ein und kündigt an, dass sie zunächst zwei Paare verheiraten und danach den Darshan beginnen werde. Mein Zug fährt bereits um fünf Uhr nachmittags ab, und vor mir stehen schon viele Leute in der Schlange – ich hoffe sehr, dass ich noch drankomme, bevor ich weg muss.
Amma hat mit dem Darshan begonnen, und auf einem großen Videomonitor ist zu sehen, wie sie einen nach dem anderen umarmt. Während ich warte, sagt mir eine verantwortliche Person, ich solle meditieren und über das nachdenken, was passieren wird. Ich tue das, schaue aber trotzdem hin und wieder auf den Monitor. Inzwischen sind Stunden vergangen, und Amma sitzt noch immer in exakt derselben Position da; sie hat sich keinen Zentimeter bewegt und ist nicht auf die Toilette oder zum Essen gegangen. Sie hat noch immer denselben Gesichtsausdruck wie zu Beginn, diesen freundlichen und warmen Ausdruck. Sie hat ein stets lächelndes Gesicht, weil ihr Herz lächelt, und glänzende Augen, die nichts als Frieden und Liebe ausdrücken.
Die Menschen bringen Blumen und Süßigkeiten, um sie zu ehren – in der indischen Kultur ist es ein Zeichen von Respekt, ein kleines Geschenk zu übergeben, wenn man jemanden besucht. Einige brechen vor ihr in Tränen aus, andere wollen einfach nicht damit aufhören, sie zu umarmen und zu küssen. Ich kann all die Gefühle um mich herum spüren; die Atmosphäre ist unglaublich, und alleine schon der Blick auf den Bildschirm macht auch mich sehr emotional…
Die Schlange vor mir wird kürzer und kürzer, und als ich schon fast die Bühne erreicht habe, auf der Amma sitzt, bittet man mich, aus Sicherheitsgründen meine Tasche und mein Handy wegzulegen. Danach betrete ich endlich die Bühne, aber auch dort warten noch etliche Leute – es wird noch Stunden dauern. Ich mache mir Sorgen, dass ich es in meiner knappen Zeit nicht mehr schaffen werde; ich spreche eine der Freiwilligen an und erzähle ihr von meinem Problem. Sie ist so freundlich, einige Arrangements zu treffen, sodass ich ein paar Plätze vorrücken kann. Ich bin so erleichtert!
Bald bin ich dran, und ich beginne, ein wenig nervös zu werden; ich weiß nicht einmal, wo dieses plötzliche Gefühl herkommt, es ist fast so, als hätte ich eine Prüfung zu bestehen!
Endlich bin ich dran.
Ich knie vor ihr nieder, und einer der Helfer nimmt meine Arme und legt sie auf Ammas Stuhl. Ein anderer Helfer drückt mich fest an ihren Körper. Amma fragt mich, welche Spreche ich spreche. „Deutsch“, antworte ich, und daraufhin flüstert sie auf Deutsch in mein Ohr: „Meine Liebe, meine Liebe!“
Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit mit ihr verbringen können, es ging alles so schnell. Aber ich verstehe, dass das nicht möglich ist, weil so viele Leute warten, um den Darshan zu empfangen.
Ich bin wirklich froh, dass ich die Möglichkeit hatte, das Leben im Aschram zu erleben, auch wenn es nur für eine sehr kurze Zeit war. Es ist eine „ideale“ Welt innerhalb einer anderen Welt, fast schon unwirklich. Ein Traum, eine Utopie. Stress, Hektik, Armut, Diskriminierung, Kämpfe – all dies existiert hier nicht; es geht nur um Liebe und Respekt und darum, sich um die Person neben dir zu kümmern, weil alle Brüder und Schwestern sind.
Im Aschram ist niemand gezwungen zu arbeiten; aber die Menschen sind hier glücklich, weil sie bekommen, wonach sie gesucht haben, und daher möchten sie etwas von dem, was sie erhalten haben, zurückgeben.
Als ich den Aschram verlasse und zurück in die reale Welt gehe, warten die Rikschafahrer bereits auf ihre nächsten Kunden. Sie profitieren von der isolierten Lage des Aschrams und berechnen viel zu viel für den kurzen Weg zum Bahnhof…
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
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Darshan – Ammas Segen | Isabel Scharrer | CC BY-SA 4.0 |