Magersucht

Anorexia nervosa - Teil 1
Gesellschaft

Veranstaltungsdaten

Datum
21. 2. 2017
Veranstalter
Mini-Med Studium
Ort
Van-Swieten-Saal der Medizinischen Universität Wien
Veranstaltungsart
Vortrag
Teilnehmer
Ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz, Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Leitung der Ambulanz für Essstörungen im Kindes- und Jugendalter, AKH Wien

Am 21.02.2017 fand um 19:00 Uhr im Van-Swieten-Saal der Meduni Wien ein Mini-Med Vortrag zum Thema „Zu wenig und zu viel: Haben wir ein gestörtes Verhältnis zum Essen?“ statt. Als Vortragende konnten die renommierten Prof. Andreas Karwautz (Leiter der Ambulanz für Essstörungen im Kindes- und Jugendalter am AKH Wien) sowie Fr. Prof. Ursula Bailer (Leitung der Ambulanz für Essstörungen am AKH Wien) gewonnen werden. Der erste Teil zum Thema Anorexia nervosa wurde von Prof. Karwautz referiert.

Professor Karwautz begann seinen Vortrag mit diesen Worten: „Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit diesem Thema (…). Es ist kein ganz leichter Job, den wir da tun, das können Sie mir glauben.“ Gleichzeitig strich er aber auch heraus, dass es sich bei essgestörten Patienten um wertvolle Menschen handle und die Beschäftigung mit ihnen genauso eine große Freude sei.

Anorexia nervosa

Laut Prof. Karwautz können Essstörungen im gesamten Spektrum – zwischen üppiger Weiblichkeit und gesellschaftlichem Schlankheitsideal – auftreten. Das Zitat einer damals 35-jährigen Kate Moss: „Nothing tastes as good as skinny feels“, beschreibt er als Katastrophe für sich und seine Berufskollegen, da dies durchaus bereits ein Anreiz für den Einstieg in die Magersucht bzw. andere Essstörungen darstellen könne. Dies sei insbesondere der Fall, wenn solche Aussagen auf selbstunsichere Gemüter treffen würden.

Er definiert Essstörungen nicht als Ernährungsstörungen, sondern schwere psychiatrische Erkrankungen, welche mit körperlichen Komplikationen einhergehen können. Die wichtigsten Vertreter sind die Magersucht (Anorexia nervosa), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) sowie die Binge-Eating-Störung. Diese Störungen kämen zu 90% beim weiblichen Geschlecht vor.

Folgende sechs Symptome seien praktisch bei allen Essstörungen vorhanden:

  • Körperschemastörung (sich selbst anders wahrnehmen als man in Wirklichkeit ist)
  • Figurzentriertheit und Gewichtsphobie
  • Reduktion der Nahrungszufuhr
  • Reduktion der Nahrungsvielfalt
  • Essattacken
  • kompensatorische Maßnahmen, um Gewichtszunahme zu verhindern

Weitere spezifische Symptome umfassen unter anderem das Wiederkäuen der Nahrung (Hochwürgen) sowie das Kauen und Ausspucken von Nahrung.

Es handele sich bei der Erkrankung allerdings nicht um eine Erkrankung des 20. Jahrhunderts: Ein Bericht aus 1694 beschreibt die Erkrankung bei einem jungen Mädchen aus der Sicht eines niedergelassenen Arztes. In Ermangelung von Erklärungen für ihr Verhalten sowie einer Therapie verstirbt das Mädchen innert 3 Monaten.

Die Kriterien der Anorexia nervosa laut ICD-10:

  • ein tatsächliches Körpergewicht von mindestens 15 % unter dem zu erwartenden Gewicht oder ein Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger (bei Erwachsenen)
  • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von energiereicher Nahrung und zusätzlich mindestens eine der folgenden Möglichkeiten:
  • selbstinduziertes Erbrechen
  • selbstinduziertes Abführen
  • übertriebene körperliche Aktivität
  • Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika
  • Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung
  • endokrine Störungen, bei Frauen manifestiert als Amenorrhö, bei Männern als Libido- und Potenzverlust
  • bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklung gestört (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung)

Auch auf die Phänomene „Bikini Bridge“, „Thigh Gap“ „Collarbone“ bzw. „Bellybutton Challenge“, „A4 waist challenge“, anhand welcher sich junge Mädchen insbesondere in sozialen Medien aneinander messen, ging Prof. Karwautz anhand von Bildern kurz ein.

Von den beiden Subtypen der Anorexia nervosa, dem „restriktiven Typ“ und dem „Purging-Typ“, mache man sich um Letzteren aus medizinischer Sicht mehr Sorgen. Bei diesem Typ bestehe neben einer eingeschränkten Kalorienaufnahme noch eine exzessive Sportausübung bzw. das Verwenden von Abführmitteln. Neben intensivmedizinischen Aufenthalten bestehe für die Patienten im schlimmsten Fall die Gefahr des Todes.

Im Hintergrund anorektischer Essstörungen stehe häufig auch ein großer Perfektionismus, es treffe häufig die vermeintlich „perfekten“ Kinder. Auch eine Selbstwertproblematik, Kritik durch die Eltern bzw. eine biologische Veranlagung zum Übergewicht könnten eine Rolle bei der Entstehung spielen.

Das völlige Fehlen einer Einsicht, welche körperlichen Schäden durch die Erkrankung bereits bestünden bzw. entstehen, sei ebenfalls typisch.

Wie jede Suchterkrankung „gebe“ die Anorexie den Patienten auch etwas. Bei einer großen Befragung unter essgestörten Patienten gaben diese unter anderem an, „Sicherheit“, „Stärke“ und „Selbstvertrauen“ durch die Krankheit zu gewinnen. Dies sei als Aufgabe für die Therapeuten zu sehen. Wolle man die Krankheit überwinden, sei es unabdingbar dafür zu sorgen, dass der Patient Sicherheit, Stärke etc. aus anderen Gebieten gewinnen könne.

Die gravierendsten Fälle seien jedoch jene, in welchen die Krankheit „identitätsbildend“ sei. Identifiziere sich die Person mit der Krankheit, sei eine Beeinflussung sehr schwierig. Den „Wunsch zu sterben“ als Motiv habe Prof. Karwautz in der Praxis erst sehr selten gesehen.

Essstörungen kämen selten isoliert vor, seien in der Praxis häufig vergesellschaftet mit anderen Störungen, allen voran Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen, Suizidgedanken, Zwangssymptomatik sowie Suchterkrankungen.

Als Arzt sei es somit wichtig, neben der Essstörung andere eventuell behandlungswürdige Störungen abzuklären.

Häufigkeiten der Anorexie

Die Lebenszeitprävalenz (Häufigkeit im Lebenszeitverlauf) liege bei maximal 4%, die Punktprävalenz (Häufigkeit zu einem gewissen Zeitpunkt) bei ca. 0,2 bis 0,8%. Sie beginne meist zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr einer Person. Die durchschnittliche Behandlungsdauer sei mit ca. 5 Jahren als lange anzusehen. Damit sei sie die dritthäufigste langdauernde chronifizierende Erkrankung beim Jugendlichen (nach Asthma und Adipositas).

Anmerkung der Autorin: Subsyndromale Symptome einer Essstörung (Symptome, die nicht stark genug für die Diagnose als klinisch anerkanntes Syndrom sind) weisen laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts 21.9% aller 11- bis 17-Jährigen auf (Quelle: Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KIGGS des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland).

Die Häufigkeit der Erkrankung sei damit nicht so hoch, einmal ausgebrochen jedoch brauche der Patient sehr lange, um wieder gesund zu werden. Je schwerer das Körpergewicht des Patienten sei (zwischen dem 90. und 97. Perzentil), umso gefährdeter sei er für die Entwicklung einer Essstörung.

Risikofaktoren der Magersucht

Um nur auf die wichtigsten Befunde einzugehen, nannte Prof. Karwautz das weibliche Geschlecht, eine genetische Komponente (diese mache ca. 50% aus und liege in einer Störung der Regulierung des Neurotransmittersystems), Persönlichkeitsfaktoren, familiäre sowie soziale Risikofaktoren.

Therapie der Magersucht

In Österreich sei die Therapie für Essstörungen im Allgemeinen extrem heterogen, in Gegenden Osttirols beispielsweise gäbe es keinerlei Experten für die Erkrankung. Es fehle in Österreich insbesondere im ländlichen Raum an speziellen Ambulanzen, an Tageskliniken sowie Wohngemeinschaften für Betroffene im Rahmen der Nachsorge.

Die Aufgaben des Behandelnden liege zunächst im Beraten und im Initiieren von Selbsthilfe (z.B. mit Hilfe von Büchern). Eine Behandlung sollte ambulant und möglichst interdisziplinär (Fachärzte, Psychotherapeuten etc.) erfolgen. Sollte eine ambulante Behandlung nicht ausreichend sein, empfiehlt sich eine stationäre Therapie möglichst im Rahmen von Schwerpunktstationen mit besonderem Know-how für diese Erkrankung. Leider gäbe es in Österreich keine spezialisierte Klinik für Essstörungen wo dies sozusagen auch „außen draufstehe“.

Prof. Karwautz erläutert die Behandlungsmöglichkeiten in Österreich

Jede Einrichtung verwende ihr eigenes Konzept, am Patienten selbst arbeiteten im Rahmen eines multidisziplinären Vorgehens neben Ärzten auch Pflegekräfte, Psychologen, Psychotherapeuten, Diätologen, Pädagogen und Sozialarbeiter. Hier sei insofern sehr viel zu tun, da es oft in unterschiedlichsten Lebensbereichen Probleme gäbe. Alle diese Probleme müssten angegangen werden, da ansonsten keine Rekonvaleszenz möglich sei.

Hier sei ebenfalls das Einbeziehen von Eltern und Familie unabdingbar. Diese seien primär zu stützen und aufzuklären, manchmal sei eine umfassende Familientherapie notwendig.

Die bestmögliche Behandlung sei nur möglich, wenn die Erkrankung früh erkannt werde. Leider kämen häufig Patienten zu den Kliniken, welche schon sehr lange oder sehr schwer erkrankt seien.

Als wichtigste Warnsignale gelten jede Diät und jeder Gewichtsverlust bei Kindern/Jugendlichen, das Verstecken des Körpers unter weiter Kleidung, das Vermeiden des Essens im sozialen Kontext, extreme sportliche Betätigung sowie übertriebenes Lernverhalten.

Da nach neuen Forschungen der Hungerzustand den Teufelskreis aufrechterhalte, sei es sehr wichtig, frühzeitig eine Gewichtszunahme beim Patienten anzustreben. Die durch die Essstörung eingeschlagene „Entwicklungssackgasse“ sei ohne das Einsetzen der Eltern als Ressource kaum durch die Kinder/Jugendlichen zu verlassen. Als Kliniker brauche es unbedingt „Geduld und einen langen Atem“, schließlich sei mit einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von fünf bis sechs Jahren zu rechnen. So lange müsse man dranbleiben können, einem ungeduldigen Kliniker rät Prof. Karwautz vom Bereich der Essstörungen ab.

Insbesondere litten auch die Eltern magersüchtiger Kinder unter massivem Druck und Stress, dieser sei vergleichbar damit, ein schizophreniekrankes Kind (der schwersten Erkrankung der Psychiatrie überhaupt) zu haben. Daher biete man derzeit im AKH ein Unterstützungsprogramm für Eltern essgestörter Kinder an. Dieses Programm werde sehr gut angenommen und sei bereits zu zwei Dritteln durchgeführt.

Prof. Karwautz widmet sich daraufhin dem Fall Isabelle Caro. 2007 ließ sie sich nackt für eine Kampagne gegen die Magersucht ablichten. Aufgrund von Beschwerden wurden die Plakatwände in Paris nach wenigen Tagen wieder abgenommen. Caro selbst habe darstellen wollen, wie man nach einer jahrzehntelangen Magersucht aussehe und somit eine Warnung an andere abgeben. Mit 25 sei Caro schließlich an den Folgen ihrer Anorexie, einer Lungenentzündung mit einem Körpergewicht von 32 Kilo, verstorben.

Prof. Karwautz über Isabelle Caro

Verlauf der Erkrankung

Obwohl Dr. Karwautz bereits über 1000 Jugendliche behandelt habe, sei noch keine einzige seiner Patienteninnen im Jugendalter verstorben. Wenn, dann versterbe eine Anorektikerin im Erwachsenenalter nach einer jahrelangen Erkrankungsdauer. Ca. 6000 Patienten würden weltweit jährlich an der Erkrankung versterben. Für 75-80% der Betroffenen sei jedoch eine Heilung möglich.

Fazit

Im Rahmen eines Fazits betonte Prof. Karwautz, dass eine Heilung zwar möglich sei, jedoch großer Geduld bedürfe.

Je früher die Behandlung eines Betroffenen beginne, umso besser stünden seine Chancen auf eine erfolgreiche Therapie.

Eine verlängerte Behandlungsdauer ergebe sich insbesondere durch mangelnde Motivation der Betroffenen zur Therapie, Fehlbehandlung, Unverständnis seitens der Umgebung sowie ein Nicht-Erkennen der Erkrankung. Sollte ein persönlicher Verdacht bestehen, rät Prof. Karwautz zum offenen Ansprechen.

Wichtig sei jedoch ein unterstützendes, jedoch konsequentes Vorgehen, in dessen Rahmen Schuldzuweisungen vermieden werden.

Orthorexie

Die Orthorexie („pathologisches Gesundessen“) wurde 1997 erstmals im Yoga Journal beschrieben. Es handle sich dabei um Menschen, welche nur explizit gesunde Nahrung zu sich nehmen würden, im Bioladen einkauften usw. Dies geschehe wohl aus einer großen Angst heraus, bei falscher Nahrungsaufnahme (etwas Ungesundes) könne etwas passieren. Man könne den Eindruck gewinnen, dass diese Erkrankung zunehme, schließlich zeigten dies unterschiedliche Studien.

Da jedoch die verwendeten Verfahren stark variierten, schwanke auch die gefundene Prävalenz zwischen 6% und 90% der Bevölkerung. Diese Angabe beschreibt Prof. Karwautz als „wertlos“. In einer rezenteren Studie sei zusätzlich der Leidensdruck erhoben worden, da dieser für die Erkrankung eine große Rolle spiele. Diese verbesserte Studie habe eine Prävalenz von unter 1% ergeben, was Prof. Karwautz für näher an der Wahrheit hält. Er beschreibt somit den „Hype“ um die Orthorexie für verfehlt.

Mit diesen Worten beschließt Prof. Karwautz seinen Vortrag und somit den ersten Teil der Veranstaltung. Im zweiten Teil geht Fr. Ao. Univ.-Prof. Dr. Ursula Bailer FAED, als Leiterin der Ambulanz für Essstörungen am AKH Wien auf die Binge-Eating Störung sowie die Bulimia nervosa ein.

Credits

Image Title Autor License
Prof. Karwautz über Isabelle Caro Prof. Karwautz über Isabelle Caro Johanna Bickel CC BY-SA 4.0
Prof. Karwautz erläutert die Behandlungsmöglichkeiten in Österreich Prof. Karwautz erläutert die Behandlungsmöglichkeiten in Österreich Johann Bickel CC BY-SA 4.0
Anorexia nervosa - Teil 1 Anorexia nervosa – Teil 1 Johanna Bickel CC BY-SA 4.0