Ankunft am Everest-Basislager: ein emotionales Erlebnis
Heute ist ein großer Tag, denn das Everest-Basislager ist nicht mehr weit – morgen werden wir es erreichen. Hoffentlich! Ich bin sehr aufgeregt, aber auch etwas nervös, denn heute werden wir in Lobuche ankommen, das 4940 Meter hoch liegt.
(aus „Letzter Akklimatisierungstag“ )
Als ich dort meine Augen öffne, ist mein erster Gedanke: „HEUTE ist der Tag, in nur ein paar Stunden werden wir am Everest-Basislager ankommen. So lange sind wir schon unterwegs, und heute werden wir es endlich erreichen!“ Ich erlebe einen Mix aus Gefühlen: Aufregung, Glück, Traurigkeit, Angst, um nur einige davon zu nennen. Natürlich will ich die Trekkingtour vollenden und das Ziel erreichen, und doch bin ich für das Ende dieser Reise noch nicht bereit, weil sie so großartig war.
Beim Frühstück sind Fatima und ich die ersten, die unten auf die anderen warten – das ist auf der ganzen Tour noch nie vorgekommen. Wir verstehen die Welt nicht mehr, denn sonst sind wir immer spät dran, und die anderen müssen auf uns warten. Was geht hier vor? Wir warten eine Stunde oder so, und als die Zeit vergeht, tauchen alle nach und nach auf: unsere Gruppe, die Inder und ein paar Italiener, die wir unterwegs getroffen haben. Sie erzählen uns, dass sie die Nacht über nicht schlafen konnten wegen der Symptome der akuten Höhenkrankheit. Die meisten sehen aus wie Zombies, und alle haben schlechte Laune.
Es ist sieben Uhr morgens, und das Wetter passt zur Stimmung: Es ist sehr neblig, feucht und kalt. Aber wir sind alle schon so weit gekommen, und daher werden wir gemeinsam weitergehen und uns wieder einmal auf den Weg machen. Mit etwa 15 Leuten verlassen wir das Gästehaus, und die, denen es besser geht, motivieren die anderen und geben ihnen Kraft, und wir wissen, dass alles gut gehen wird.
Die Stimmung in der Gruppe verbessert sich, und bald werden Erzählungen darüber ausgetauscht, warum wir diese Tour unternehmen. Die Zeit fliegt dahin, während wir mit dieser oder jener Person reden. In Gorak Shep (5140 m) machen wir eine Mittagspause. Dabei zerfällt unsere große Gruppe, wir bleiben mit den Indern zusammen. Während der Mittagspause ist niemand hungrig, zumeist wegen der Höhenkrankheitssymptome. Ich bestelle ein Sherpa Stew (ein lokales Gericht), und als ich nach links schaue und die Flaggen durchsehe, die an der Wand hängen, traue ich meinen Augen nicht: Da hängt eine Flagge an der Wand, und es ist nicht IRGENDEINE – nein, es ist die Flagge der Organisation, für die Fatima und ich auf der griechischen Insel Lesbos während der Flüchtlingskrise gearbeitet haben, nur zwei Monate, bevor wir nach Nepal gekommen sind. Die Flagge der Health Point Foundation!
Ich weiß, dass Cejil, ein Inder, der ebenfalls für HPF gearbeitet hat, vor einigen Monaten zum Everest-Basislager gewandert ist, aber ich wusste nicht, dass er eine Flagge hier gelassen hatte.
Sofort laufe ich hinüber zur Inhaberin und frage sie, ob ich die Flagge abnehmen kann, weil ich sie gerne mit zum EBC (= Everest Base Camp) nehmen und später zurückbringen würde. Als sie zustimmt, bin ich super aufgeregt! Gleich nach dem Mittagessen lassen wir unsere großen Rucksäcke in unserem Zimmer, nehmen nur das Nötigste mit und brechen zum EBC auf.
Als wir losgehen, ist nicht die beste Energie in der Luft, weil alle mit den jetzt wieder stärkeren Höhenkrankheitssymptomen zu kämpfen haben. Zum Glück ist der gesamte Weg von Gorakh Shep zum EBC ein flacher Pfad, sodass keine extreme Anstrengung nötig ist. Plötzlich bleibt einer von uns stehen und schreit: „Lawine!“ Für eine Sekunde bleibt mein Herz stehen. Doch zum Glück zeigt er in die entgegengesetzte Richtung, weit genug weg von uns, sodass keine Gefahr besteht.
Als wir weitergehen, kommen uns ein paar Jaks mit ihren Treibern entgegen. Der Pfad, auf dem wir uns befinden, ist so schmal, dass wir ihnen ausweichen müssen.
Es ist kalt, zwar über dem Gefrierpunkt, aber weil es ziemlich windig ist, bilden sich kleine Eiskristalle auf meinem Gesicht, und meine Augen tränen durch den Wind. Der Pfad zum EBC ist größtenteils eben, und daher fällt das Atmen viel leichter als auf dem Weg von Dingboche nach Lobuche, der die meiste Zeit anstieg.
In Anbetracht der Schmerzen, die sie in diesem Moment fühlen müssen (von denen ich glücklicherweise nicht betroffen bin, weil ich schon vor einigen Tagen begonnen habe, eine Prophylaxe gegen die Höhenkrankheit zu nehmen), finde ich es erstaunlich, welche Kraft und Entschlossenheit alle zeigen. Einige von uns haben wirklich zu kämpfen, aber niemand wagt es aufzugeben. Ich bin stolz!
Das EBC ist nun in der Ferne zu sehen, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Wir steigen einen schmalen Pfad ab, der von Eis bedeckt ist, und versuchen, dabei nicht auszurutschen und zu stürzen – und da sind wir, im Everest-Basislager. Ich sehe mich um und bin ein bisschen „verwirrt“.
Ohne diesen Stein würde ich nicht glauben, dass ich am Everest-Basislager bin. Unser Führer sieht meine Enttäuschung und sagt, dass es hier so aussieht, weil der heutige Tag, der 31. Mai, das Ende der Saison ist – von Juni bis August besteigt niemand den Gipfel des Everest wegen der Monsun-Saison.
Wir legen unsere Rucksäcke ab und machen ein paar Gruppenfotos vor den Gebetsfahnen. Dann zeige ich meine Dankbarkeit, indem ich ein paar Gebete für meine Lieben und für die sichere Ankunft spreche. Wir erkunden das Gelände ein wenig, doch bevor wir es richtig kennenlernen, müssen wir schon wieder gehen, weil nicht empfohlen wird, länger als 20 Minuten in dieser Höhe zu bleiben.
Das Gefühl „Wow, du hast es zum Everest-Basislager geschafft!“ hat sich in mir noch nicht wirklich durchgesetzt. Ich fühle keinen Unterschied, aber ich glaube, die Veränderung wird sich mit jedem Tag nach und nach stärker zeigen, und ich werde die Dinge realisieren, die mich geformt und verändert haben dank dieser faszinierenden Trekkingtour …
Gute Nacht
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake