Als Ärztin in Nepal: Mein erster Tag

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Lebenswelten

Da ich gestern ziemlich früh zu Bett ging, bin ich schon um sechs Uhr wieder wach und beginne meinen Tag mit ein bisschen Joggen rund um das Fußballfeld vor meinem Zimmer. Die Sonne ist noch nicht ganz da, aber es ist bereits wieder ausreichend Feuchtigkeit in der Luft – und schon nach ein paar Minuten schwitze ich.

Nach meinem Workout genieße ich eine kalte und erfrischende Dusche, ziehe meinen Arztkittel an, den ich von Zuhause mitgebracht habe, und gehe frühstücken. Da ich spät dran bin, ist fast kein Roti (ein flaches nepalesisches Brot, auch Chapati genannt) mehr da, und mir wird normales Brot angeboten. Das geschieht in Nepal nicht oft, da die meisten Menschen hier nur Chapati essen und gar nicht wissen, wie westliches Brot hergestellt wird. Während ich mein Frühstück genieße, höre ich wiederholt, wie das Wort Didi an unsere Köchin gerichtet wird. Weil ich nicht weiß, was das heißt, nehme ich an, dass es ihr Name ist – und nenne sie nun ebenso Didi.

Direkt nach dem Frühstück, um neun Uhr, trifft sich das gesamte Krankenhauspersonal zur Morgenbesprechung. Alle Krankenschwestern sind weiß gekleidet in traditionellen, weiten Aladdin-Hosen. Alle anderen tragen blaugraue Kleidung. Das irritiert mich ein wenig, aber bevor wir über den vorherigen Tag und die Gesundheit der Patienten reden, starten wir den Tag mit Gesang und Gitarrenspiel, gefolgt von Gebeten und vorgelesenen Bibelversen.

Mir fällt auf, dass sich viele Patienten nähern, um aus kürzester Distanz Zeuge dieses wundervollen Rituals zu werden: Sie stehen vor der Tür oder blicken durchs Fenster herein. Der gesamte Raum ist erleuchtet mit dieser extrem positiven Energie, die sich bis nach draußen ausbreitet, durch das Krankenhaus – es hat etwas Magisches. Mir gefällt das sehr und sehe dies als einen großartigen Start in den Tag. Nach der Schichtübergabe werden wir dem Team vorgestellt und jeder heißt uns mit einem großen, herzerwärmenden Lächeln willkommen.

Morgentliches Meeting

Gleich nach der Besprechung machen wir die Runde und erkundigen uns nach dem Befinden der Patienten. Sie warten alle bereits in ihren Betten, und zum Glück scheint es allen soweit ganz gut zu gehen. Das Chaujahari-Krankenhaus ist das größte Krankenhaus in den sieben Bezirken in der Gegend, es besteht aus drei Hauptabteilungen und zwei kleineren Abteilungen mit insgesamt 40 Betten.

Die Abteilungen scheinen ziemlich leer zu sein, was daran liegt, dass Erntezeit ist und die meisten Menschen mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie entscheiden sich gegen einen Krankenhausbesuch, denn dieser würde einen Ernteverlust für sie bedeuten. Während wir durch das Krankenhaus gehen, höre ich überall das Wort Didi und frage mich, warum jede in diesem Dorf den gleichen Namen hat …

Als wir mit der Runde fertig sind, zeigen die Ärzte mir das Krankenhaus: Es gibt einen Kreißsaal, zwei Operationssäle, einen Überwachungsraum, eine Notaufnahme, ein Labor, einen Radiologie-Raum und auch eine Apotheke. Obwohl das ziemlich groß erscheinen mag, erzählen sie mir, dass sie versuchen, sich noch weiter zu vergrößern. Manchmal ist das Krankenhaus nämlich so voll, dass die Menschen in den Gängen oder sogar draußen schlafen müssen. Die Ärzte lassen mir die freie Wahl zu helfen, wo ich möchte, und ich entscheide mich an meinem ersten Tag für den Überwachungsraum.

Das Krankenhaus ist offen gebaut, und da die Sonne hereinscheint, wird es sehr heiß; tatsächlich befinden wir uns in der Monsun-Saison, aber leider hat es bis jetzt noch nicht geregnet. Zum Glück verfügt der Beobachtungsraum über einen Ventilator, der mir die Möglichkeit bietet, mich von der Hitze zu erholen und mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können.

Ich beginne mit dem Ultraschall von schwangeren Frauen und kontrolliere den Gesundheitszustand ihrer Babys. Manche Frauen fragen mich nach dem Geschlecht ihres Babys. Ich würde es ihnen gerne sagen, darf das aber nicht, denn traurigerweise gab es Fälle, in denen Familien sich für eine Abtreibung entschieden, weil sie kein Mädchen zur Welt bringen wollten.

Beobachtungsraum

Nach einiger Zeit kommt einer der Ärzte herein und sagt, dass wir ihm bei einem Notkaiserschnitt assistieren können. Ich folge ihm, wechsle meine Kleidung, wasche mich und betrete den Operationssaal. Mir fällt auf, dass die Mutter sehr nervös und ängstlich ist, kurz vorm Weinen – und obwohl wir nicht dieselbe Sprache sprechen, versuche ich, sie zu beruhigen und es ihr angenehmer zu machen.

Kurz vor der Operation halten wir uns alle an den Händen, und der zuständige Arzt spricht ein Gebet – erst danach macht er den ersten Schnitt. Zwanzig Minuten später ist ein gesundes nepalesisches Mädchen auf der Welt, und alle sind glücklich und erleichtert. Jetzt gehen wir alle zusammen zum Mittagessen. Das Wort Didi geht mir nicht mehr aus dem Kopf und ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was es wirklich heißt …

Didi ist nämlich nicht der Name aller Frauen hier im Dorf, es heißt einfach „Schwester“. Darauf wäre ich im Leben nie gekommen! Aus Respekt nutzen Männer und Frauen das Wort Didi, um sich auf Frauen zu beziehen, und das Wort Bhaiya, um sich auf Männer zu beziehen – auch, weil sie glauben, dass sie alle Brüder und Schwestern sind.

Obwohl ich mir ziemlich dumm vorkomme, weil ich dachte, dass es ein Name sei, gefällt mir diese Art des Umgangs miteinander, wo alle sich als Bruder oder Schwester ansprechen. Es ist das erste Mal, dass ich davon höre.

Mein Tag im Krankenhaus endet gegen 16 Uhr, sobald der Ultraschall für die schwangeren Frauen fertig ist. Ich gehe nach Hause, um meine Kleidung zu wechseln und besuche danach den örtlichen Basar und das Dorf – zusammen mit den Japanerinnen. Als wir das Krankenhausgelände verlassen, kommen wir an einigen örtlichen Geschäften vorbei, in denen sie Früchte und Gemüse sowie vor Ort zubereitetes Essen verkaufen.

Basar vor dem Krankenhaus

Wir nähern uns einer sehr einfachen, flachen Straße, die uns einen guten Ausblick auf die Felder mit den Büffeln und Ziegen, den Fluss, die Häuser und das gesamte Umfeld ermöglicht. Während wir unseren Weg fortsetzen, sehen wir viele einheimische Kinder, die herumlaufen und innehalten, um uns zu begleiten und uns Fragen zu stellen: „Wie heißt du? Wo gehst du hin? Woher kommst du? Wie geht es dir?“ etc. Das sind die Sätze, die sie auf Englisch lernen, aber als wir antworten, verstehen sie uns leider nicht wirklich.

Nach einem 20-minütigen Spaziergang, der uns noch entlang weiterer Felder und Geschäfte und sogar an einer Schule vorbei führt, erreichen wir den Hauptbasar. Es ist eine lange, gerade Straße voller Geschäfte links und rechts, die nach ein paar Metern bergab führt. Die Menschen bieten uns alle möglichen Sachen an: Materialien für Kleidung, Kochutensilien, Früchte, lokale Accessoires (Armreifen, Fußketten, Ohrringe, Ketten, Nasenringe, Haaraccessoires etc.), und es gibt sogar Schneider und Friseure.

Da wir die einzigen Touristen im ganzen Dorf sind, sind alle sehr neugierig auf uns und grüßen uns mit „Namaste“. Mir ist sehr bewusst, dass alle Augen auf uns gerichtet sind. So nett es auch ist, derart willkommen geheißen zu werden, so extrem fühlt es sich für mich an, dass ich mich so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befinde. Ich weiß, dass ich mich daran werde gewöhnen müssen, aber ich weiß auch, dass das Zeit brauchen wird.

Nachdem ich einige Läden besucht habe, kaufe ich ein wenig Stoff und bringe es zur nächsten Schneiderin, da ich mir von ihr eine Kurta nähen lassen möchte. Diese besteht aus einem Oberteil, welches einem Kleid ähnelt, einer Hose und einem Schal, der genutzt wird, um die Brust zu bedecken. Sie sagt mir, ich solle in zwei Tagen wiederkommen. Ich bin schon jetzt sehr aufgeregt, wie es wohl aussehen wird.

Schneiderin

Nach dem Abendessen beten wir für unsere Patienten und für die christlichen Priester. Die nepalesische Regierung verfolgt die Priester seit Neuestem, und einige landeten schon im Gefängnis, weil sie das Evangelium verbreiteten. Anstatt mit Wut und Trauer zu reagieren, entscheidet sich die christliche Gemeinschaft dazu, mit Gebeten und Vergebung für die Autoritäten zu antworten.

Heute habe ich viel über die nepalesische Kultur gelernt und muss sagen, dass ich großen Gefallen an ihr finde. Ich bin positiv überrascht über die große christliche Gemeinschaft im Krankenhaus (bevor ich nach Nepal kam, glaubte ich, dass jeder in dem Land der buddhistischen Religion folge), und ich mag die Gebete und den Gesang am Morgen, vor den Operationen und am Nachmittag sehr.

Weiters berührte mich Folgendes: Die beiden jungen Ärzte, die im Krankenhaus arbeiten, müssen alle Felder der Medizin abdecken (Gynäkologie, Orthopädie, Pädiatrie, Psychiatrie etc.) – sie machen buchstäblich alles. Sie müssen alle möglichen Operationen durchführen (manchmal müssen sie bezüglich des Materials kreativ werden, weil so manches nicht verfügbar ist) und zu jeder Zeit in Bereitschaft sein; ich bewundere sie sehr und finde einfach großartig, was sie tun.

Es war ein sehr geschäftiger und erfolgreicher erster Tag voller neuer Eindrücke, Erfahrungen und Emotionen. Ich kann es kaum erwarten, mehr zu erleben.

Namaste

Übersetzung Englisch-Deutsch: Hannah Kohn

Credits

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Schneiderin Schneiderin Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Auf dem Weg zum Basar, die traditionelle “Kurta” tragend Auf dem Weg zum Basar, die traditionelle “Kurta” tragend Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Labor Labor Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Haupteingang des Krankenhauses Haupteingang des Krankenhauses Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Cover-picture Cover-picture Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Frauenfrisör Frauenfrisör Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Männerfrisör Männerfrisör Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Hauptbasar Hauptbasar Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Örtliches Accessoires-Geschäft Örtliches Accessoires-Geschäft Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Örtliches Geschäft Örtliches Geschäft Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Auf dem Weg zum Basar Auf dem Weg zum Basar Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Basar vor dem Krankenhaus Basar vor dem Krankenhaus Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Beobachtungsraum Beobachtungsraum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Warteraum Warteraum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Apotheke Apotheke Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Vor dem Krankenhaus - die Menschen bevorzugen es draußen zu schlafen, da es drinnen zu heiß ist Vor dem Krankenhaus – die Menschen bevorzugen es draußen zu schlafen, da es drinnen zu heiß ist Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Blutdruck-Messung Blutdruck-Messung Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Hintereingang des Krankenhauses Hintereingang des Krankenhauses Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Hauptabteilungsraum des Krankenhauses Hauptabteilungsraum des Krankenhauses Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Morgentliches Meeting Morgentliches Meeting Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0