Als Ärztin in Nepal: Einzigartige Erfahrungen
Heute beim Aufwachen bin ich extrem müde, weil ich wegen der Hitze in der Nacht nicht schlafen konnte. Ich zwinge mich aus dem Bett, ziehe meine Laufsachen an, schalte meine Musik ein gehe raus.
Dieses Mal entscheide ich mich dazu, die Felder entlang zu laufen, in Richtung des Flughafens. Als ich das Gebäude verlasse, kann ich spüren, wie mich alle ansehen, aber ich versuche, das soweit wie möglich zu ignorieren. Für die Einheimischen sehe ich wahrscheinlich aus wie jemand vom Mars, weil in dieser Gegend sonst niemand joggen geht.
Sie greifen nach meiner Hand und beginnen, Fragen zu stellen. Es scheint der Höhepunkt des Tages für sie zu sein. Ich freue mich, dass ich sie zum Lachen bringen kann, aber ich will auch mein Workout zu Ende bringen. Ich laufe und spiele eine Weile mit ihnen und entschließe mich dann, schneller zu werden, um sie abzuhängen. Eins oder zwei sind wirklich schnell und können noch eine Weile mithalten, aber bald geraten auch sie außer Atem.
Ich winke ihnen aus der Ferne, beende mein Workout und kehre zurück, um mich für das Frühstück fertigzumachen. Mit zehn Kindern zu joggen war ein einzigartiges Erlebnis für mich, und ich glaube, ich werde mich daran gewöhnen müssen, wenn ich mit meinem morgendlichen Sportprogramm weiter machen will…
Normalerweise ist das Frühstück meine liebste Mahlzeit, aber heute gibt es nur ein paar Cornflakes zusammen mit ein paar trockenen Nudeln von gestern Abend. Die Kombination aus Cornflakes und trockenen Gemüsenudeln macht diese Mahlzeit zu meinem zweiten einzigartigen Erlebnis heute – ich habe zuvor nicht im Traum daran gedacht, sowas auszuprobieren.
Aber wer bin ich, dass ich darüber klagen könnte? Immerhin ist das ein anderes Land mit anderen Gewohnheiten. Ich frage mich, welche einzigartigen Erlebnisse dieser Tag noch bringen wird …
Als ich zum Krankenhaus gehe, bereite ich mich mental auf einen Tag voller Überraschungen und neuer Erfahrungen vor. Während unseres morgendlichen Rundgangs lerne ich einige neue Patienten kennen, die in der letzten Nacht aufgenommen wurden.
Ich möchte euch von drei verschiedenen Patienten erzählen, deren Geschichten mich am meisten berührt haben:
Die erste Patientin ist ein dreizehnjähriges Mädchen; sie kam gestern Abend hierher und ist so dünn, dass man buchstäblich ihre Knochen sehen kann. Was noch mehr schockiert: Sie sieht aus, als ob sie schwanger sei. Zum Glück ist das aber nicht der Fall. Ihr Bauch ist extrem aufgedunsen, weil sie an Aszites leidet, einer Krankheit, bei der sich Flüssigkeit in der Bauchhöhle sammelt. Ich habe schon zuvor Fälle von Aszites gesehen, aber niemals in diesem Ausmaß und NIE bei einem so jungen Mädchen!
Sie sieht definitiv so aus, als ob sie extrem verängstigt sei und Schmerzen habe. Ihr Vater ist bei ihr, weil ihre Mutter vor einigen Jahren gestorben ist. Sie hatten einen langen Weg zum Krankenhaus – mehr als drei Tage zu Fuß. Ihr Vater hat lange darüber nachgedacht, ob er seine Tochter zu uns bringen sollte oder nicht; ein Grund dafür ist, dass er noch zehn andere Kinder hat, die er alleine zu Hause lassen musste, und ein anderer, dass er einfach kein Geld hat, um die Behandlung zu bezahlen.
Vielleicht verschlechterte sich der Zustand seiner Tochter so sehr, dass er schließlich nicht mehr anders konnte, als Hilfe zu suchen. Glücklicherweise hat das Krankenhaus derzeit so viele Spenden erhalten, dass es den weniger Bevorteilten eine kostenlose Behandlung und kostenloses Essen anbieten kann. Die Patienten bekommen Reis und Linsen, müssen aber selbst kochen.
Ich habe das Glück, meine Freiwilligenzeit an einem Krankenhaus zu verbringen, das derzeit in der Lage ist, allen zu helfen; es ist berührend zu sehen, wie dankbar diese Patienten sind. Nach der körperlichen Untersuchung des Mädchens erzählt mir der Arzt, dass der Vater schon vor zwei Monaten mit seiner Tochter zum Krankenhaus gekommen sei. Das Mädchen wurde auch aufgenommen, doch dann entschied sich der Vater entgegen den Rat der Ärzte, das Krankenhaus wieder mit ihr zu verlassen. Deswegen hat sich der Zustand seiner Tochter entscheidend verschlechtert. Hoffentlich kann das Chaurjahari-Team ihr diesmal die nötige Behandlung geben, damit es ihr bald wieder besser geht.
Der zweite Patient ist ein zehnjähriger Junge, der sich bei einem Sturz von einem Baum einen offenen Bruch seines rechten Arms zugezogen hat. Seine Mutter ist Witwe und Hausfrau mit zwei Kindern. Sie hat keine Küche zur Verfügung und ein Einkommen von nur etwa 250 Nepalesischen Rupien (ca. 2,15 Euro) pro Tag.
Er ist schon seit mehr als einer Woche im Krankenhaus, weil seine Wunde noch regelmäßig gereinigt werden muss. Seine Mutter, seine Großmutter und seine jüngere Schwester sind mit ihm hier, weil ihr Dorf zwei Tagesmärsche entfernt ist. Nach einer Weile wird auch seine Mutter sehr krank, und so müssen sie noch länger hierbleiben. Das ist ein Problem, denn es ist Erntezeit, und sie haben niemanden, der sich um ihre Felder und ihre Ernte kümmern kann. Ich habe den Jungen schon oft gesehen, er hat immer einen sehr traurigen Gesichtsausdruck und lächelt kaum.
Der dritte Patient ist ein Mann mittleren Alters, der vor einigen Tagen ins Krankenhaus gekommen ist. Er leidet an einer bakteriellen Hautinfektion, einer Cellulitis, die zu einem Geschwür an seinem Unterschenkel geführt hat. Seit einigen Tagen versuchen die Ärzte, die Einwilligung seiner Familie zu erhalten, um das Bein zu öffnen und den Eiter abzuleiten, sodass es heilen kann.
Aber da alle mit den landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt sind und die Familie weit entfernt lebt, konnten sie bisher nicht kommen. Heute traf sein Sohn ein, aber er ist minderjährig und musste daher von einem Polizisten begleitet werden. Nach nepalesischem Recht kann ein Minderjähriger allerdings keine Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung geben. Das Chaurjahari-Team ist gezwungen, noch einen weiteren Tag auf die Ankunft seiner Angehörigen zu warten.
Einige verlieren durch den Mangel an Ausbildung und medizinischen Einrichtungen noch immer ihr Leben, zum Beispiel durch eine Lungenentzündung – die (in den meisten Fällen) mit Antibiotika leicht behandelt werden kann.
Ich bin begeistert vom medizinischen Team in diesem Krankenhaus! Sie sorgen für eine sehr positive Arbeitsumgebung, in der alle zusammenarbeiten, jeder fragt jeden um Rat oder Hilfe, unabhängig von der Position in der Hierarchie. Es ist wie eine kleine Familie, die neue Mitglieder mit offenen Armen empfängt und dir das Gefühl gibt, sehr willkommen zu sein.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
Leider wird uns viel zu selten klar, wie klein unsere Probleme sind.