Cybermobbing: Die soziale Vereinsamung einer Generation
„Wenn du fette Sau 10 Kilo abnimmst, ist das so, wie wenn ein Panzer sein Nummernschild verliert.“
Die Schüler stehen im Pulk zusammen und schütteln sich vor Lachen. Alle glotzen in ihre Smartphones. Haben sie ein lustiges Katzenvideo gesehen? Oder einen Witz gehört? Nein, sie sind auf der Insta-Seite einer Mitschülerin und lesen sich die dort abgegebenen Kommentare gegenseitig vor. „Fette Sau“ ist dabei noch relativ harmlos. „Fotze“ und „Hure“ scheinen sich besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Aber nur bei den anonymen Hetzern. Das ohnmächtige Opfer selbst, das diese Kommentare mit Tränen in den Augen alleine in einer Ecke des Schulhofes stehend liest, ist gerade dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Laut einer aktuellen Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing e.V. vom Oktober 2024 gaben bei einer deutschlandweiten repräsentativen Umfrage unter Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren 18,5% der befragten Schülerinnen und Schüler an, Opfer von Cyberattacken gewesen zu sein. Ausgrenzung, Mobbing und Cybermobbing unter Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren in der Gesellschaft potenziert. Laut der Studie sind mindestens zwei Millionen Schüler in Deutschland in den zurückliegenden beiden Jahren Opfer von Cybermobbing geworden. Das Erschreckende: in den meisten Fällen ist der Tatort die Schule. „Mittlerweile sagen fast 70 Prozent der Lehrer, dass sie diesem Thema an der Schule nicht mehr gewachsen sind. 2022 sagten das nur 42 Prozent“, meint Uwe Leest vom Bündnis gegen Cybermobbing. Dieser negativen Entwicklung muss unsere Gesellschaft Rechnung tragen, aber wie will sie ihrer Herr werden? Und wer soll das leisten? Und wie?
Neben dem Elternhaus fällt vor allem Lehrern eine besondere Aufgabe zu, die Jugendlichen vor dieser Art von digitaler Gewalt zu schützen, bei der es um viel mehr geht als um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen, wie sie es schon immer gab. Hier liegt eine völlig andere, anonyme Art der Konfrontation vor. Der Hauptverbreitungsweg von Hass und Häme scheint dabei WhatsApp zu sein (77 %), gefolgt von TikTok (57 %), Snapchat (50 %) und Instagram (45 %). Allesamt soziale Medien, die die Möglichkeit schaffen, jemanden anzugreifen, ohne ihm dabei in die Augen sehen zu müssen. Laut der JIM-Studie 2023 sind Jugendliche durchschnittlich 224 Minuten täglich im Netz unterwegs. Aufgrund der Anonymität der Täter und der daraus resultierenden Ohnmacht stürzen viele Opfer des Cybermobbings in eine tiefe Depression. Jeder vierte befragte Jugendliche hat bei der Cybermobbingstudie angegeben, schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben aufgrund des Mobbings. Das sind 500.000 Schülerinnen und Schüler, die überlegt haben, ob sie sich das Leben nehmen sollen, weil sie den Druck aus den sozialen Netzwerken nicht mehr aushalten. Man kann davon ausgehen, dass die oben genannten statistischen Erhebungen 1:1 übertragbar sind auf Jugendliche in Österreich.
Schule ist der Ort, wo junge Menschen am ehestens Opfer von Cybermobbing werden können. Aber Schule ist auch der Ort, wo man das Problem an der Wurzel anpacken kann und muss. Bei einem guten Schulklima, einem wertschätzenden Umgang miteinander, sowie Lehrerinnen und Lehrern, die ihren Schülerinnen und Schülern zeigen, dass sie Interesse an ihren Ansichten, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten, aber auch ihren Ängsten und Sorgen haben, ist die Gefahr, Opfer von Cybermobbing zu werden, deutlich geringer. Lehrer müssen ihre Schüler im Fokus haben und sich Zeit nehmen für Gespräche. Es ist wichtig, dass in der Schule der soziale Umgang miteinander vorgelebt und der Druck herausgenommen wird. Verbote und Strafandrohungen, so wirksam sie in Einzelfällen und als präventive Maßnahmen auch sein können, erweisen sich oft als unzureichend, da das Mobbing meist anonym und außerhalb des Unterrichts stattfindet. Als deutlich effektivere Methode hat sich die unmittelbare Konfrontation von Opfern mit (potentiellen) Tätern herausgestellt. Wer anderen mit Respekt und Empathie begegnet, wird diese mit großer Wahrscheinlichkeit nicht beleidigen oder diskriminieren. Aber Respekt und Empathie lernt man nicht in der Theorie, sondern nur in praktischer Anwendung.
Die Mediation ist ein sehr wirksames Mittel, um Mobbing zu vermeiden oder zu reduzieren, sowohl präventiv wie rehabilitativ. An unserer Schule haben wir sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Schülerinnen und Schüler frühzeitig, das heißt ab Klasse 7, als Streitschlichter auszubilden. Sie übernehmen dann ohne Anwesenheit von Erwachsenen die Streitschlichtung, in der niemandem Vorwürfe gemacht werden. Es gibt hier auch keine eindeutige Zuordnung der Opfer- oder Täterrolle, sondern es geht einzig darum, den Sachverhalt aufzuklären und beiden Seiten die Möglichkeit zu geben, zu sprechen, zuzuhören und sich am Ende die Hand zur Versöhnung oder Entschuldigung zu geben. Wenn Jugendliche, die sich verbal oder physisch aggressiv gegenüber Mitschülern verhalten, in einem ruhigen Gespräch mit Gleichaltrigen sowohl ihr eigenes Verhalten als auch die Gefühle des Anderen reflektieren, erweist sich dies als deutlich effektiver, als wenn sie zu einem Rapport zur Schulleitung bestellt werden, wo meist eine Atmosphäre von Angst und Vorwurf dominiert. Auch bewährt hat sich eine Methode, die ich als Sportlehrer öfter angewendet habe: die Schüler, die sich im Ballsport am wenigsten an die Regeln halten und vor allem durch Foulspiel auffallen, werden zu Schiedsrichtern gemacht, deren Aufgabe es ist, auf die Einhaltung der Regeln zu achten. Der Sinnes- und Verhaltenswandel der Betroffenen aufgrund des Perspektivenwechsels ist verblüffend. Dies lässt sich auch auf die Mediation übertragen, indem man gerade diejenigen, die sich häufig aggressiv gegenüber anderen verhalten, zu Streitschlichtern ausbildet.
Aus meiner Praxis als Mediator erinnere ich mich an einen besonders krassen Fall eines Schülers, der immer wieder vermeintlich schwächere Mitschüler massiv beleidigte und körperlich anging. Gespräche mit den Eltern und der Schulleitung waren wirkungslos, selbst ein dreitägiger Schulausschluss zeigte keinen Erfolg, die Sanktionsmöglichkeiten des Bildungssystems schienen erschöpft. In einem Vier-Augen-Gespräch zwischen dem Schüler und mir stellte sich heraus, dass er selbst schon in der Grundschule Mobbingopfer gewesen war und sich nicht anders zu helfen wusste, als nun seinerseits Mitschüler zu attackieren. Es drohte der endgültige Schulausschluss, was ihn nicht zu beeindrucken schien. Er schien in einem Teufelskreis gefangen, aus dem er keinen Ausweg sah, da ihm das Stigma als Mobber anhaftete. Auf meine Frage, was er sich wünsche, wenn er die Möglichkeit hätte, sagte er, er würde gerne eine weiße Weste haben und nochmal ganz von vorne anfangen. Das war der Moment, wo ich ihm anbot, an der Ausbildung zum Streitschlichter teilzunehmen. „Ausgerechnet ich?“, fragte er mich ungläubig. „Ja, ich halte dich für ganz besonders geeignet, weil niemand besser weiß, was Mobbing bedeutet, als du.“ Tatsächlich durchlief er den Ausbildungsprozess und entwickelte sich zu einem der besten Mediatoren an der Schule. Er fiel niemals mehr durch unerwünschtes Verhalten auf und machte am Ende ein sehr gutes Abitur.
Nun ist es sicher nicht praktikabel, jeden foulspielenden Fußballer zum Schiedsrichter oder jeden mobbenden Schüler zum Streitschlichter zu machen, aber diese Beispiele zeigen doch, dass es keine festgefahrenen und irreparablen Verhaltensmuster bei jungen Menschen gibt. Sie müssen ihre Grenzen ausloten und machen dabei zwangsläufig auch Fehler. Wenn man ihnen eine Chance gibt zur Einsicht und ihnen mit Respekt und Empathie begegnet, kann man schon vieles erreichen.
Jeder Klassenlehrer sollte pro Woche mindestens eine Stunde zur Verfügung haben, in der in praktischen Übungen, Rollenspiel und offenen Gesprächen mit Betroffenen unmittelbar die Bedeutung und Auswirkung von Cybermobbing reflektiert wird. Darüber hinaus muss die Zahl an Schulsozialarbeitern und Schulpsychologen drastisch gesteigert werden. Wir müssen digitaler Gewalt an Schulen endlich die Aufmerksamkeit widmen, die sie fordert. Zur Erinnerung: allein in Deutschland wurden 2 Millionen junger Menschen zwischen 12 und 20 Jahren in den letzten beiden Jahren Opfer von digitaler Gewalt! Tendenz steigend. Wenn wir diese Zahlen grob auf Österreich übertragen, haben wir es hier mit über 100.000 jungen Menschen zu tun, die jedes Jahr auf digitalem Wege von anderen seelisch malträtiert werden. Damit kommt ein Tsunami traumatisierter Jugendlicher auf unsere zu, die früher oder später therapiert werden müssen. Aktuelle Studien zu aggressivem Verhalten Jugendlicher zeigen deutlich, in welche Richtung das geht. Auch unter der Lehrerschaft wird sich dies mit zunehmender Krankheitsquote und Burnout bemerkbar machen. An „regulären“ Unterricht ist dann bald nicht mehr zu denken.
https://www.youtube.com/@kafkakannsteknicken/videos
Credits
Image | Title | Autor | License |
---|---|---|---|
1280-720-max (6) | Wolfgang Müller | CC BY SA 4.0 |
Diskussion (Keine Kommentare)