Als der blaue Vogel Brasilien verließ…
Als Journalistin bin ich es gewohnt, jeden Tag auf das schwarzweiße „X“ auf meinem Display zu klicken (das ja mal ein blauer Vogel war), um zu schauen, was die Welt so bewegt, welche Themen diskutiert werden und was passiert ist, während ich ein paar Stunden unaufmerksam war. Den ganzen September über sah ich aber nur ein Ladezeichen und alte Tweets. Nicht aber, weil ich keine Internetverbindung gehabt hätte, sondern weil X (Twitter) in Brasilien down war. Pünktlich zur ersten Runde der Kommunalwahlen am 6. Oktober wurde es wieder freigeschaltet.
Angeordnet wurde die Abschaltung von einem einzigen Mann. 21 Millionen konnten sich seit dem 1. September über diese Plattform nicht mehr informieren und in 280 Zeichen austauschen. Das Höchste Gericht Brasiliens, der Supremo Tribunal Federal (STF) hat sich mit X-Inhaber Elon Musk angelegt, der keinen rechtlichen Vertreter im Land benennen wollte und sich weigerte, Konten, die dem Gesetz widersprachen, abzuschalten. Der STF-Vorsitzende, Alexandre de Moraes, ließ den Kurznachrichtendienst am 1. September kurzerhand sperren. Zugriffe mit einem VPN-Client waren verboten und wurden mit bis zu 8000 Euro bestraft. Und das ausgerechnet vor den Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen im Oktober. Erst als Musk 18 Millionen Reais zahlte, Rachel de Oliveira Conceicao als rechtliche Verantwortliche benannte und Inhalte löschte, war X wieder zugänglich.
Brasilien ist das erste demokratisch regierte Land, in dem X abgeschaltet wurde. Die Meinungen dazu gehen auseinander: Manche verstehen es und finden es richtig, die Verbreitung von Falschinformationen zu unterbinden – oder dessen, was als solche angesehen wird. Andere sehen es als Zensur oder sogar Diktatur eines Einzelnen an. Und das sind nicht wenige: Die Avenida Paulista war am 7. September voller Demonstranten. Der frühere Präsident Jair Bolsonaro hielt eine flammende Rede, in der er Moraes einen „Diktator“ nannte. Auch in der Hauptstadt Brasilia demonstrierten die Menschen gegen die Entscheidung. Alle Proteste verliefen friedlich, zwischen den Menschen, die die Straßen in Grün und Gelb tauchten, verkauften Straßenhändler gegrillten Mais und kalte Getränke an die Demonstranten, die auch ihre Kinder mitgebracht hatten.
Viele X-Nutzer fühlten sich von der Außenwelt abgeschnitten, konnten sich nicht mehr so wie gewohnt mitteilen, wie ein Reporter von der „Associated Press“ aus Sao Paulo berichtete. Das Gefühl ist nicht ganz weit hergeholt: Die Möglichkeit sich zu informieren und auszutauschen beschränkt nicht nur die breite Bevölkerung, auch investigativer und kritischer Journalismus ist davon betroffen. Was „trendet“ gerade, welche Themen setzen die Entscheidungsträger auf die Tagesordnung und was ist in der Nacht auf der Welt passiert? Die Neuigkeiten der Twitter-Blase sind ungefilterter als das, was von Journalisten in Zeitung und Fernsehen präsentiert wird.
Die Frage, die also bleibt, ist folgende: War die Abschaltung von X Zensur oder ein Schutz vor der Verbreitung von Falschinformationen?
Eine neue rechte Partei steht in den Startlöchern
Dass Präsident Lula (Partido des Trabalhadores, kurz PT) und Moraes damit aber unbeschadet davonkamen, zeigte sich nach den Stichwahlen der Kommunalwahlen am 27. Oktober: Lulas Partei gewann sogar ein Drittel mehr Gemeinden als 2020. Währendessen machen sich die Rechten bereit, diese Situation für ihre Zwecke zu nutzen – allen voran der frühere Präsident Bolsonaro. Er ist nach wie vor beliebt, hat aber Konkurrenz von einer politischen Gruppe vorwiegend junger Brasilianer, deren natürliches Umfeld nicht mehr die Straße, sondern das Internet ist: Die Brasilianische Freiheitsbewegung, Movimento Brasiliero Liberal (MBL). Intelligent durchdacht und mit kurzen, würzigen Videos und lockeren Umfragen unter jungen Menschen sprechen sie viele Brasilianer an. In Sao Paulo unterstützen sie nach dem Rückzug ihres Kandidaten Kim Kataguiri Bürgermeister Ricardo Nunes (MDB), der erneut gewonnen hat. In ein paar Jahren könnten sie aber zu einem echten Konkurrenten für PT werden, auch wenn es Renato Battista nicht in die Abgeordnetenkammer der Stadt geschafft hat. Aber die politische Landschaft in Brasilien ändert sich.
Dieser Beitrag ist auf dem Blog Pillars of Truth erstveröffentlicht worden
Bildnachweis Moraes: Creative Commons, Credits: Marcelo Camargo
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