Der Weisheit letzter Schluss – Existierst du noch oder lebst du schon?

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 18/24

1862 schrieb der französische Schriftsteller und Politiker Victor Hugo im Vorwort zu seinem Roman Les Misérables folgende Worte:

Tant qu’il existera, par le fait des lois et des mœurs, une damnation sociale créant artificiellement, en pleine civilisation, des enfers, et compliquant d’une fatalité humaine la destinée qui est divine ; tant que les trois problèmes du siècle, la dégradation de l’homme par le prolétariat, la déchéance de la femme par la faim, l’atrophie de l’enfant par la nuit, ne seront pas résolus ; tant que, dans de certaines régions, l’asphyxie sociale sera possible ; en d’autres termes, et à un point de vue plus étendu encore, tant qu’il y aura sur la terre ignorance et misère, des livres de la nature de celui-ci pourront ne pas être inutiles.

In einer von mir verfassten deutschen Übersetzung, klingt das wie folgt:

So lange durch das Bestehen von Gesetzen und Sitten eine soziale Verdammnis existiert, die inmitten der Zivilisation künstlich Höllen erschafft, und das Schicksal, das göttlich ist, durch menschliche Bestimmung verkompliziert wird; solange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Erniedrigung des Mannes durch das Proletariat, der Verfall der Frau durch den Hunger, die Verkümmerung des Kindes durch die Umnachtung, nicht gelöst sind; solange, in bestimmten Gegenden, soziales Ersticken möglich ist; in anderen Worten, und von einem noch weitergehenden Gesichtspunkt aus, solange es in der Welt Ignoranz und Armut gibt, können Bücher wie diese nicht unnütz sein.

So hoffe ich, dass auch Worte wie meine nicht unnütz sein werden, wenn ich mich heute – natürlich auf einem völlig anderen Niveau – mit Fragen von Arbeit und Armut beschäftige und mit der zeitlosen Debatte, wer in einer Welt wie unserer im 21. Jahrhundert nicht nur eine Existenz- sondern auch eine Lebensberechtigung hat. Aus meiner Sicht besteht zwischen den beiden Begriffen ein feiner aber wirkungsvoller Unterschied.

In der Kürze meiner Ausführungen dazu mag manches auch verkürzt sein, wichtig jedoch ist mir, einen Gedankenanstoß zu geben, um diesem fundamentalen Thema den nötigen Platz in unserem gesellschaftlichen Diskurs einzuräumen.

Dachten wir nicht alle, dass die Zeiten von Armut und Elend längst hinter uns liegen oder – besser gesagt – nur ein Thema in den Staaten jenseits des so genannten Westens seien und wir sie daher locker ignorieren konnten? Dachten wir nicht alle, dass in unseren Breiten goldene Zeiten angebrochen seien, in denen das gute Leben für alle möglich ist? Dachten wir nicht alle, dass es nicht mehr nur um ein bloßes Erhalten der Existenz geht, sondern dass wir uns tatsächlich ein Leben in Würde und Freude gönnen können?

Trotz aller beruhigenden Worte, die uns Politiker zum Thema Wohlstand bzw. Armut schon fast tagtäglich spenden, ist die Lage mitunter sogar existenzbedrohend, vom Leben ganz zu schweigen. Eine der wesentlichsten und kaum beachteten Grundlagen dieser Misere ist aus meiner Sicht das grundlegende Misstrauen in den Menschen. Dadurch entsteht die völlig falsche Schlussfolgerung, dass man ihn dazu verpflichten muss, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, um das Nötige für seine Existenz zu verdienen. Erich Fromm hat schon vor knapp 60 Jahren, nämlich im Jahr 1966, einen Aufsatz über „Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle“ veröffentlicht. Kurz zusammengefasst lässt sich sagen: Menschen, die psychisch und physisch gesund sind, finden eine für sie passende Beschäftigung, die auch einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft leistet. Demnach wäre ein garantiertes bedingungsloses Einkommen für alle eine gute Möglichkeit, die soziale Frage zu lösen.

In den letzten Jahren ist eine diesbezügliche Debatte wieder verebbt: auf der einen Seite hält man diese Variante (auf Basis unseres aktuellen Wirtschafts- bzw. Geldsystems) für unfinanzierbar; andererseits befürchtet man, dass durch ein Grundeinkommen Abhängigkeiten entstehen und das Leben nicht freier sondern eingeschränkter wird, weil es – an bestimmte Bedingungen geknüpft – quasi eine Art „Sozialhilfe neu“ wird.

Bevor wir aber die Diskussion über die Formen der Existenzberechtigung führen, müssen wir uns unserer aktuellen Sichtweise bewusst werden, die ein Existenzrecht mit der Pflicht zur Erwerbsarbeit verbindet, die in den letzten Jahren in einer wachsenden Zahl von Fällen offenbar nicht einmal mehr für eine basale Existenz, geschweige denn für ein gutes Leben, reicht. Wenn ich auf diese Weise denke, dann hat das dramatische Konsequenzen; ebenso, wenn ich Fromms Grundlagen folge. Ich wünschte mir letzteres, muss aber feststellen, dass in diesen seither vergangenen sechs Jahrzehnten eine ganze Menge mit der Psyche der Menschen passiert ist. Die Frage, die sich stellt, ist jene: Ist ein Mensch tatsächlich in der Lage, eine Beschäftigung zu finden, die ihm, aber auch der Gesellschaft nützt? Einerseits sind da die vielen ehrenamtlichen Aufgaben der so genannten Zivilgesellschaft, die immer noch – wenn auch immer weniger – Unterstützer finden; zum anderen gibt es in unserer Gesellschaft viele relevante Aufgaben, die unentgeltlich ausgeübt werden (müssen), wie etwa das ausschließliche Elternsein. Ich bin der Überzeugung, dass es mit dem nötigen (politischen) Einsatz möglich ist, alternative Gesellschaftsmodelle zu entwickeln, die einen wirklichen Quantensprung zum Wohle aller Beteiligten ermöglichen. Und da bin ich wieder und bleibe gerne bei Fromms Gedanken. Ich kenne eine ganze Menge Leute, die davon profitieren würden – und das große Ganze gleich dazu.

Momentan müssen wir uns aber noch mit der Frage der Ernährungsarmut herumschlagen, die die einen – wie etwa die Armutskonferenz – als bedrohliches Szenario darstellen und die die anderen – wie etwa Jan Kluge von Agenda Austria in einem Gastkommentar in der Kleinen Zeitung vom 7.5.2024 – relativieren und von „gekauften Studien“ sprechen. Es ist auch die Frage, wie man Ernährungsarmut definiert: Ist diese Bezeichnung der Tatsache geschuldet, dass sich 12 % der Österreicher nicht mehr drei Mahlzeiten am Tag leisten können oder jener Erkenntnis, dass die Qualität der Nahrung immer schlechter wird (Stichwort: „Ein Burger ist ein günstiges und ausreichendes Mittagessen …“), die man sich um das Geld leisten kann. Letzteres ist ein nicht zu unterschätzendes Problem, da es direkte Auswirkungen auf das Sozialsystem hat, wenn Menschen aufgrund dieser Mangelernährung krank werden und Leistungen aus der Gesundheitskasse in Anspruch nehmen.

Oder wir betrachten das Thema aus der Sicht der Industrievertreter, die die „Unzahl an Feiertagen“ in Österreich scharf kritisieren und ein Überdenken der diesbezüglich geltenden Regelungen fordern. Andererseits bedeuten freie Tage ja auch Erholung, die zur Produktivität der Mitarbeiter beiträgt; und die Freizeitbeschäftigung der Menschen ist ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor.

Auch hier ist es wichtig, das Gesamtszenario nicht aus den Augen zu verlieren, und den eigenen Standpunkt immer auch im Hinblick auf dieses zu überprüfen und notfalls auch anzupassen.

Um dieses Gesamtbild zu vermitteln, sind unter anderem auch die Medien gefragt. Der von „Reporter ohne Grenzen“ dieser Tage veröffentliche Index der Pressefreiheit bescherte Österreich ein weiteres Abrutschen um drei Ränge auf Platz 32. Diese Ergebnisse decken sich auch mit jenen, die der Österreichische Journalistenclub (ÖJC) in einer Umfrage erhoben hat. Rund 65 Prozent der Teilnehmenden gaben an, nicht über vorgeschlagene Themen berichten zu können, „weil das Medium diese grundsätzlich ablehnt oder potenzielle Werbekunden nicht vergrault werden sollen.“Wahrgenommen wird auch eine Verschlechterung des Ansehens von Journalisten, was deren Arbeit behindert. Hinterfragt werden muss bei Erhebungen dieser Art immer auch das Setting. Das deutsche Multipolar-Magazin kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die Behandlung oppositioneller Medien im Pressefreiheitsindex nicht berücksichtigt wird und wundert sich über die Verbesserung von Deutschland und der Ukraine in diesem Ranking.

Zudem wird differenzierte Berichterstattung oder Meinungsäußerung als bedrohlich wahrgenommen, weil sie die öffentlich kolportierte Meinung hinterfragt, mitunter sogar konterkariert. Das musste vor einiger Zeit einmal mehr auch der ehemalige griechische Finanzminister und DIEM25-Gründer Yanis Varoufakis zur Kenntnis nehmen, als man ihm verbot, auf einem Palästina-Kongress in Berlin seine differenzierte Rede zu halten.

Was es mit dem medial durch Recherchen der Tageszeitung „Der Standard“ als „Fall Schilling“ titulierten Ereignis auf sich hat, wird sich in der Öffentlichkeit wohl niemals restlos klären lassen. Von den einen als Schmutzkübelkampagne und von den anderen als notwendiger Bericht über die mutmaßlich fragwürdigen Charaktereigenschaften einer jungen Frau, die politische Verantwortung übernehmen will, dargestellt, lässt es für mich zwei wesentliche Fragen unbeantwortet: Was ist privat und was politisch relevant? Welche Persönlichkeitsstruktur haben bzw. brauchen Menschen, um sich in der (Spitzen-)Politik durchzusetzen? Darüber wird in der aktuellen Debatte leider wegen des nach dem STANDARD-Bericht erfolgten Hin und Her leichtfertig hinweggesehen. Was ich aus persönlicher Erfahrung und jener aus meinem direkten Umfeld weiß, sind hehre Ziele für die Gesellschaft zwar politisch höchst relevant, in der Umsetzung aber für jene leichter, die in ihrer Persönlichkeit eine gewisse Distanz zum allzu Menschlichen pflegen. Das aber schadet letztlich dem Ergebnis und stellt aus meiner Sicht das gesamte politische Handeln in Frage. Wer das Menschliche aus den Augen verliert, der kann keine authentische Politik für Menschen machen.

Aber auch jene, die Politiker, die sie wie oben beschrieben erleben, mit gewaltsamen Mitteln über deren „Fehlverhalten“ aufmerksam machen wollen, müssen sich an den Prämissen für einen menschlichen Umgang miteinander messen lassen. Es geht nicht an, dass Politiker auf die eine oder andere Weise aggressiv angegriffen werden, weder verbal noch physisch. Farbbeutelwürfe, Rempeleien oder verletzende körperliche Attacken, von denen zuletzt vermehrt zu lesen war, sind keine hilfreichen Warnrufe, weil sie diese konterkarieren. Es wird dann nicht über das eigentliche Thema gesprochen, sondern über die Täter und ihr Verhalten. Auf diese Weise wird das angepeilte Ziel nicht erreicht. Auch hier sind Worte und das konsequente verbale Vorbringen immer noch die probateren Mittel, die mit langem Atem auch zum Erfolg führen können. Der ehemalige evangelische Pfarrer Martin Arnold hat dazu in seinen Überlegungen zur von ihm so genannten „Gütekraft“ spannende Ansätze formuliert, die auf den Grundlagen von Hildegard Goss-Meyer, Mohandas Karamchad Gandhi und Bart de Ligt basieren. Oder wie es Arnold selbst formuliert: „Gütekraft bedeutet mehr, als keine Gewalt auszuüben. Gütekraft ist ein mögliches Element oder ein möglicher Aspekt des Prozesses aktiver Konfliktbearbeitung.“ Und genau darum geht es: Wie kann ich Konflikte so austragen, dass sie ihr konstruktives und not-wendendes Potential entfalten können?

Apropos Konfliktbearbeitung: Die NATO, die sich in ihrem Selbstverständnis als Friedensorganisation sieht, Konflikte aber gerne dadurch löst, dass sie Gegner allein mit ihrem Waffenrepertoire bedroht, lässt weiterhin nichts unversucht, weitere Mitglieder zu rekrutieren. Ganz oben auf der Liste steht auch unser seliges Österreich, dass sich zwar seinerzeit im Staatsvertrag zur immerwährenden Neutralität verpflichtet hat, spätestens seit dem EU-Beitritt aber permanent mit der Frage der gegenseitigen militärischen Unterstützung der Bündnispartner konfrontiert ist. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat dieses Thema nochmals an Dynamik gewonnen. Kürzlich hat die Tageszeitung „Die Presse“ von einem bereits im Dezember erfolgten Schreiben an das Militärbündnis seitens der neutralen Staaten Österreich, Malta, der Schweiz und Irland berichtet. Die sich selbst als WEP4 (vier westeuropäische Partner) bezeichnenden Staaten haben darin ganz konkrete Vorschläge zur Vertiefung der Zusammenarbeit gemacht, u.a. den regelmäßigen Austausch und die Möglichkeit, um an zusätzlichen Übungen teilzunehmen, einen privilegierten Zugang zu Dokumenten und Informationen der NATO auf Basis gegenseitigen Vertrauens sowie den verstärkten Austausch von Aufklärungsdaten. Auf Kritik seitens der Opposition, allen voran des bereits wahlkämpfenden SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler, reagierte man seitens der Verantwortlichen beschwichtigend. Zwar schaffe die Neutralität allein keine Sicherheit, ein NATO-Beitritt sei aber „selbstverständlich kein Thema“.

In all diesen Ereignissen zeigt sich – also nicht nur beim Thema Geld – eine Einschränkung von Existenz- bzw. Lebensberechtigung. Aber: Wer sind wir, dass wir einander das Leben schwer machen und die Berechtigung auf dieses Leben im schlimmsten Fall sogar absprechen? Was jeder Einzelne beitragen kann, ist schnell erklärt: Es geht um Wertschätzung und Kritikfähigkeit, um Feedback-Kenntnisse und die Grundannahme, dass der Mensch nicht des Menschen Feind ist – außer er wird dazu gemacht. Die zuletzt genannte Gefahr ist permanent vorhanden. Dazu tragen Erziehung, Politik, aber auch Medien bei. Jene, die in diesen Aufgabenfeldern arbeiten sind daher besonders gefordert, einer zunehmenden Gedankenlosigkeit bis hin zur Verrohung der Sitten entgegenzutreten und als Vorbilder jene Werte vorzuleben, die es braucht, dass das Leben weiterhin, wieder oder endlich gut ist.

Bildrechte Lena Schilling: https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:PK_Vorschlag_EU-Spitzenkandidatin_Lena_Schilling_%2853497645921%29.jpg

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WG – 2024 KW18-DE-FB+IPHP Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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