Der Weisheit letzter Schluss – Das „Verbildungssystem“ und seine Folgen

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 44/23

„Non scholae sed vitae discimus“ – ein Satz, der bis heute der Schule oder von ihr ins Stammbuch geschrieben wird, je nach Perspektive. Und je nach Perspektive besitzt er seine Richtigkeit – oder eben nicht. Tatsache ist aber auch, dass er so von Seneca – dem Jüngeren wohlgemerkt und nicht jenem, mit dem man sich im Lateinunterricht herumschlagen musste – nicht ausgesprochen wurde. Vielmehr kritisierte er die „Schule“ seiner Zeit, die völlig anderen Gegebenheiten entsprach als die Bildungsinstitution, die wir heute damit bezeichnen, mit der genau umgekehrten Formulierung. Auch ihm war die Schule suspekt, weil man in ihr nicht lebenstüchtig wurde.

Der Professor und Leiter des Zentrums für Persönlichkeitsbildung und Begabungsförderung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreichs Thomas Mohrs, den ich in meinen Zeiten als Verantwortlicher für die von mir initiierte Sendereihe „Nie mehr Schule“ im mehr oder weniger freien Wiener Radio Orange 94.0 kennenlernen durfte, und der mich einmal auch als Referent für eine von ihm organisierte pädagogische Tagung engagiert hatte, lässt seinen Gedanken zum österreichischen Schulsystem in einem Gastbeitrag im STANDARD freien Lauf. Er spricht an und aus, was auch mir in meinem Leben als Schüler, Vater und Lehrer schmerzlich bewusst geworden ist, spricht von entwürdigender Beschulungsschule, Stoffstopfgänsepädagogik und Verbildungssystem; aber auch von Raum, Zeit und Muße (auf dessen altgriechisches Pendant scholé sich der Begriff Schule eigentlich bezieht), die es braucht, um das zu lernen, was fürs Leben tatsächlich wichtig ist: zum Beispiel Ernährungsbewusstsein, Kreativität, soft skills wie Empathie, Solidarität, Hilfsbereitschaft oder andere lebenspraktische Kenntnisse wie den Abschluss eines Versicherungsvertrages sowie das Hinterfragen von Konsumverhalten, u.v.a.m.

Entscheidend ist im Bildungsprozess immer das Interesse des Lernenden: ohne dieses ist jegliches Bemühen der Vermittlung von Inhalten verlorene Liebesmüh’. Ebenso geht es um eine von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung getragene Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Auch die kommt – weil das Gegenteil aus meiner Erfahrung dem Schulsystem immanent ist – viel zu kurz. Und auch Demokratie kann man in diesen Strukturen, die – wie die deutsche Psychologin Franziska Klinkigt meint – potentiell gewaltvoll sind, nicht lernen; eher das Gegenteil.

Irgendwie stellt sich für mich in diesem Zusammenhang die Frage, wer denn nun die Initialzündung für einen Neustart im Bildungsbereich geben sollte – nachdem so viele Versuche so elend gescheitert sind. Sind es die Lernenden oder die Lehrenden? Henne oder Ei? Und tatsächlich geben die einen ja schon seit Jahrzehnten wesentliche Hinweise, in dem sie sich dem System auf die eine oder andere Weise verweigern – und die anderen rufen in ihrer Not nach weiteren Reformen, die sie beim Unterrichten entlasten sollen. Beides bleibt allerdings ungehört und auch die „PädagogInnenbildung NEU“ wird ihrem postulierten Anspruch nicht gerecht. Es bräuchte mehr solche Menschen wie Thomas Mohrs, die denen, die sich Lehrer nennen wollen, zeigen, worauf es ankommt.

Demnächst werde ich die Hintergründe seiner Analyse mit ihm im Rahmen eines Kamingesprächs für die unabhängige Medienplattform Idealism Prevails bereden dürfen, worauf ich mich wirklich schon sehr freue. Denn Menschen wie er haben des Pudels Kern, also den versteckten Lehrplan, unseres Bildungssystems erkannt, nennen ihn beim Namen und geben wertvolle Hinweise, was sich wie ändern muss, um den jungen Menschen zu entsprechen – und damit nichts weniger als die Zukunft der Gesellschaft zu sichern, die nicht im mehr vom Selben sondern in der Bereitschaft zum Angehen der notwendigen Veränderungen besteht. Thomas Mohrs hat zudem den langen Atem, den es braucht, denen, die das Bestehende in Beton gegossen haben, entgegen zu treten und sie letztlich zu entmachten.

Betrachtet man das Weltgeschehen dieser Woche, so lassen sich in allen Belangen auch Rückschlüsse auf die von Mohrs so genannte Verbildung der die Weltgeschicke leitenden Mächtigen ziehen.

Fangen wir diesmal beim Sport und den unsäglichen Machenschaften des Weltfußballverbandes FIFA an. Deren Präsident Gianni Infantino hat es dieser Tage doch tatsächlich geschafft, Saudiarabien eine Weltmeisterschaft zuzuschanzen. Nachdem Australien „offiziell“ die Bewerbung für die „Spiele“ im Jahr 2034 zurückgezogen hat, war der Weg frei für dieses Lieblingsprojekt des umtriebigen FIFA-Bosses. Dass dabei weiterhin alle mitspielen, mag mit den vielen Millionen, wenn nicht sogar Milliarden zusammenhängen, die in diesem Business zur Verteilung kommen. „Pecunia non olet“ soll schon der römische Kaiser Vespasian seinem ihn und seine Steuerpolitik kritisierenden Sohn zugerufen haben. Und tatsächlich kann der Geruch des Geldes, das bekanntlich kein Mascherl hat, einen tatsächlich nur im übertragenen Sinn zum Kotzen bringen. Aber immerhin.

Kann die SPÖ tatsächlich den Turnaround schaffen und mit ihrer proklamierten neuen Lichtgestalt Andreas Babler die Wähler von einer notwendigen sozialdemokratischen Wende im eher konservativen Österreich überzeugen? Vor dem am kommenden Samstag stattfindenden Parteitag in Graz deutet nichts darauf hin – und auch nachher wird es ein langer Marsch werden, um am Wahltag in rund einem Jahr die Menschen von der eigenen Politik zu überzeugen. Die vermeintlich populistischen Ankündigungen, den stetig steigenden Lebenshaltungskosten durch das Festschreiben einer Deckelung in der Verfassung Einhalt zu gebieten, ist wohl nicht nur dem Linzer SPÖ-Bürgermeister Luger zu steil gedacht. Auch mit dem Einführen einer weiteren Urlaubswoche (die aus meiner Sicht die Wirtschaft nicht zum Erliegen bringen wird, sondern möglicherweise sogar einen positiven Effekt haben könnte, weil sie der Erholung und Regeneration der Arbeitnehmer dient und so ihre Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst) oder dem Nachholen von Feiertagen ist wohl kaum ein potentieller Wähler hinter dem Ofen hervor zu holen. Und wenn man das Programm bzw. die Anträge zum Parteitag betrachtet, dann fällt auf, dass das Thema Bildung keine Rolle spielt. Was wiederum den Verdacht nährt, dass gebildete Menschen keine gute Basis für Populismen aller Art sind, wie sie in der Politik in allen Lagern gerade in Mode sind, und daher auch keine Bereitschaft besteht, das derzeit herrschende „Verbildungssystem“ zu ändern.

Apropos Macht: Der Kampf um dieselbe führt ja meist zu unseriösen und wirkungslosen Konfliktlösungsstrategien, die den Kampf selbst zum Instrument machen. Wie sich das auswirkt, erleben wir seit etwas mehr als einem Jahr quasi direkt vor unserer Haustür und ansonsten auch an allen Ecken und Enden der Welt. Es gab und es gibt meiner Wahrnehmung nach in der gesamten Weltgeschichte keine Epoche, in der es tatsächlich weltweit eine längere zusammenhängende Friedensperiode gegeben hat. Und das gilt im 21. Jahrhundert immer noch. Wenn man den Grundgedanken von Frederic Vester, der als Vater des vernetzten Denkens bezeichnet wird, folgt, dann ist Bildung die Lösung aller Probleme. In seinem Spiel-Hit aus den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem Namen Ökolopoly ist die einzige Strategie eine friedliche Gesellschaft zu schaffen, die auch im Wohlstand lebt und sich in ausreichendem Maß „reproduziert“, die Investition in Bildung. Ob es tatsächlich so einfach ist, wage ich nicht zu beurteilen, dass aber die richtige „Bildung“ – und nicht das, was uns als solche verkauft wird – tatsächlich Wunder wirken kann, hat sich in so manchem Leben schon eindrücklich bewahrheitet. Herzensbildung inklusive. Auf seiner Website finden sich übrigens auch die Ergebnisse einer von ihm ausgearbeiteten Studie zur Terrorprävention.

Ob eine Initiative der ÖVP Oberösterreich beim Kommunalpolitischen Forum, zu dem alljährlich im November Gemeindefunktionäre nach Bad Schallerbach eingeladen werden, Früchte tragen wird, lässt sich noch nicht abschließend bewerten. Diesmal wurde die „Herzlichkeitsbeauftragte“ Mahsa Amoudadashi als Gastrednerin engagiert, um darzulegen, „wie sich mit Wertschätzung Begeisterung übertragen lässt“. Erfahrungsgemäß verpuffen solche Impulse schon am nächsten Tag im politische Alltag.

Aber, was soll man sagen, wenn sich der österreichische Bildungsminister Polaschek einmal mehr selber beklatscht, weil durch seine Initiative „Klasse Job“ die Zahl der Lehramtsstudierenden im Wintersemester im Vergleich zum Vorjahr um 17 Prozent gestiegen ist. Über die Inhalte des Studiums, wie Thomas Mohrs das fordert, braucht man natürlich nicht zu diskutieren, auch nicht über die Quote derjenigen, die nach ihrem Abschluss tatsächlich in den Schuldienst wechseln bzw. diesem dauerhaft zur Verfügung stehen. Zahlenspiele wie diese lassen sich auch ohne Kenntnisse in höherer Mathematik als das entlarven, was sie tatsächlich auch sind: unseriöse Versuche der Schönfärberei.

Apropos Mathematik: Mit einem Grundverständnis für das unbeliebte, weil inhaltlich völlig überladene Fach, hätte man schon längst erahnen können, dass das „SIGNA-Imperium“ des Tiroler Investors René Benko auf tönernen Füßen steht. Wie lange kann eine wirtschaftliche Strategie gut gehen, die in erster Linie daraus besteht, Immobilien günstig zu kaufen, um sie wenig später um das Vielfache zu verscherbeln? Dieser Hintergrund bestand offenbar auch bei all seinen Engagements im Handel, sei es der deutsche Kaufhof oder die Möbelkette Kika/Leiner. Nun ist aber Schluss damit, denn die Mitinvestoren, darunter Baulöwe Hans-Peter Haselsteiner, haben Benko aus dem Sattel gehoben und die operativen Geschäfte an den deutschen Sanierer Arndt Geiwitz übergeben. Eine kürzlich kolportierte Insolvenz der SIGNA-Gruppe soll jedenfalls nicht bevorstehen, die Leichenfledderei kann dennoch ungeniert beginnen.

Der Abstieg Benkos beschleunigte sich augenscheinlich auch mit dem Ausstieg von Sebastian Kurz aus der österreichischen Politik. Deren Naheverhältnis hat mutmaßlich dazu beigetragen, dass Risse im Gebälk von SIGNA kein Thema wurden. Der Ex-Kanzler ist ja seit seinem mehr oder weniger unfreiwilligen Abgang als Unternehmer tätig. Schon im Oktober hat er mit dem israelischen Erfinder der Spionagesoftware Pegasus Shalev Hulio, die gegen Journalisten und hochrangige Politiker eingesetzt wurde, das Start Up „Dream Security“ gegründet – welch ein euphemistischer Name. Dieses soll sich dem Schutz kritischer Infrastrukturen wie Energie- oder Wasserversorgung vor Hackern und Terroristen widmen. Als Kunden kommen staatliche Einrichtungen in Europa in Frage – und zu ihnen hat Kurz ja beste Kontakte. Der Prozess wegen Falschaussage geht dieser Tage in die nächste Runde, auch im schweizerischen Untergrundblättle hat dieser Niederschlag gefunden. Im Beitrag mit dem Titel „Kurzer Prozess“ wird versucht, die Vorgänge einzuordnen und herauszufinden, wem sie denn nun wirklich nützen.

Kürzlich hat die Redaktion von Idealism Prevails ein E-Mail des Jugendforschers Prof. Bernhard Heinzlmaier erreicht, in dem er ironisch bzw. sarkastisch darauf hinweist, dass Kinder in Schweden dazu „gezwungen“ werden, ein Wikingermuseum zu besuchen und Runen zu schreiben, weswegen man – seinen Worten nach – eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft übermitteln sollte. Seine Verbitterung ist nachvollziehbar, wurde er doch im August dieses Jahres deswegen angezeigt, weil er bei der Präsentation einer Studie ein T-Shirt mit Runenschrift – genauer gesagt mit dem Schriftzug der niederösterreichischen Heavy Metal Band Steinalt – getragen hatte, das von den Grünen als mutmaßlich nationalsozialistisch erkannt worden war. Da von der zuständigen Staatsanwaltschaft aber kein Anfangsverdacht erkannt werden konnte, wurden die Ermittlungen eingestellt. Wahrhaft gebildete Menschen hätten auf diese Intervention mit hoher Wahrscheinlichkeit verzichtet, aber die von Thomas Mohrs konstatierte und von mir in allen meinen „Rollen“ im Bildungssystem wahrgenommene Verbildung führt nicht selten auch dazu, dass einem nichts wirklich zu blöd ist. In Kürze werde ich die Gelegenheit haben, mit Bernhard Heinzlmaier in einem Kamingespräch dazu und zur überbordenden Political Correctness im Allgemeinen zu reden.

Machen wir abschließend noch einen kurzen Blick über den „großen Teich“. Das Bildungssystem in den USA ist ja durchaus zu hinterfragen: es hat viele Baustellen, deren Benennung den Rahmen meines Wochenkommentars sprengen würde. Dass sich nun die Bekämpfung der Abtreibung zum Bumerang für die Republikaner – auch bei den Präsidentschaftswahlen 2024 – erweisen könnte, dazu gab es am traditionellen Wahltag am zweiten Dienstag des Monats November schon heuer einen Vorgeschmack. In Ohio entfielen 57% der in der Befragung abgegeben Stimmen auf eine Verfassungsänderung, mit der der Zugang zur Abtreibung ermöglicht werden soll „und das trotz einer ganzen Reihe von Hindernissen in einem durchweg republikanischen Bundesstaat, in dem sich republikanische Mandatsträger einheitlich gegen die Maßnahme ausgesprochen hatten.“ Und in Virginia behielten die Demokraten nicht nur die Kontrolle über den Senat des Bundesstaates, sondern konnten auch die Kontrolle über das lokale Repräsentantenhaus übernehmen. Das Recht auf Abtreibung wurde dort zwar nicht explizit zum Wahlkampfthema; tatsächlich dürfte es aber wahlentscheidend gewesen sein. Dass diese Entscheidungen etwas mit dem Bildungsstand der Menschen zu tun haben, lässt sich nicht wirklich beweisen, es ist aber auch nicht auszuschließen.

Womit sich der Kreis schließt und mir am Ende nur noch folgende Bemerkung am Herzen liegt: Nehmen wir das aktuell herrschende Bildungssystem nicht als naturbedingt oder gar gottgegeben, sondern erkennen wir es als das, was es ist: Es ist menschengemacht und daher – wie so vieles andere in dieser Welt auch – von Menschen jederzeit veränderbar.

Bildrechte Sebastian Kurz

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2020_Sebastian_Kurz_Ministerrat_am_8.1.2020_(49351572787)_(cropped).jpg

Credits

Image Title Autor License
WG – 2023 KW44-DE-PC Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
Der-Weisheit-letzter-Schluss-Das-Verbildungssystem-und-seine-Folgen