Was schenken wir unseren Kindern – #03: Autonomie
Zwei grundlegende seelische Bedürfnisse bilden sich bereits vor der Geburt. Sie sind so sehr mit unserem Menschsein verknüpft, dass wir uns ein Leben lang danach sehnen und uns deshalb darum bemühen, diese beiden Bedürfnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen zu kombinieren.
Das eine ist die Verbundenheit mit geliebten Menschen.
Das andere ist der Wunsch, das eigene Leben autonom zu gestalten.
Liebe und Autonomie
Wie stark der Drang nach der Verbindung beider Bedürfnisse ist, sehen wir am Beispiel der Bindungstheorie (vergleiche „Was schenken wir unseren Kindern 2 – Resilienz“). Laut dem Kinderpsychologen Bowlby, wechseln sich Bindungsverhalten und Explorationsverhalten wechselseitig ab. Ist eines aktiviert, tritt das andere in den Hintergrund, aber Kinder brauchen beides, um sich gesund entwickeln zu können. Und dasselbe gilt für Liebe und Autonomie. Nur wenn wir beides erleben dürfen, fühlen wir uns angenommen und geborgen.
Eltern, die ihr Kind frei von Erwartungen liebevoll annehmen können und ihre Hauptaufgabe darin sehen, das Kind auf seinem ureigenen Weg ins Leben zu unterstützen und zu schützen, erhalten ihm seine Würde.
Dabei bedeutet die Kombination der beiden seelischen Grundbedürfnisse keinen Widerspruch. Wer dieser Meinung ist, verwechseln möglicherweise Autonomie mit Egoismus und Verbundenheit mit Abhängigkeit. In einem hierarchischen System wie dem, in dem wir leben, gibt es in allen Lebensbereichen einen Überlegenen und einen Unterlegenen. Der Überlegene lässt die Autonomie des Unterlegenen nicht oder nur in Grenzen zu. Er bestimmt also, wieviel Autonomie einem anderen zuteil wird bzw. werden darf.
Hierarchische Strukturen
Je strenger die Struktur, desto geringer die persönliche Autonomie oder Freiheit. In solch einer Struktur werden Menschen bewertet. Je besser ihre Bewertung ausfällt, desto größer sind die Chancen in der Hierarchie ein Stück weiter nach oben zu kommen. Das passiert nicht nur im beruflichen Zusammenhang, sondern auch im privaten Umfeld, auf den sozialen Medienplattformen und im Freundeskreis. In den meisten Fällen steckt keine böse Absicht dahinter. Wir kennen es eben nicht anders und sind es so gewohnt. Deshalb ist wichtig, zu realisieren, dass wir Menschen durch dieses Verhalten einander unbeabsichtigt zum Objekt machen.
Damit, so interpretiere ich den Hirnforscher Gerald Hüther, ist gemeint, dass die Beziehung zwischen zwei Menschen in den meisten Fällen eine Funktion oder einen Nutzen erfüllen soll. Der eine Mensch ist das Ziel von Wünschen, Vorstellungen, vielleicht sogar von Träumen des anderen. Sobald das der Fall ist, darf der andere nicht mehr ein autonomes Subjekt bleiben, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sein ureigener autonomer Wunsch zufälligerweise genau den Wünschen, Vorstellungen und Träumen des anderen entspricht, ist gering. Widersetzt sich ein Mensch den Zielsetzungen des anderen indem er ein autonomes Selbst bleibt, so entspricht er nicht den Erwartungen des anderen. Das führt häufig zu Enttäuschungen bis hin zum Verlust der Liebe.
Wie Menschen zu Objekten werden
Das „Objektisieren“ beginnt schon in der Kindheit. Kinder sind so sehr daran gewöhnt, dass sie als brav oder nicht brav bezeichnet werden, dass sie einander bereits im Kindergarten entsprechend bewerten. Die eine Gruppe besteht aus den besonders braven Kindern, die eine fast panische Furcht davor entwickeln, womöglich etwas nicht Braves zu tun. Sie lassen sich zum Objekt machen, damit sich ihr Wunsch nach Liebe und Anerkennung erfüllt. Die andere Gruppe von Kindern nimmt in Kauf, als nicht brav zu gelten, weil ihr Drang nach Autonomie stärker ist. Sie lassen sich nicht zum Objekt machen, verzichten dafür eher auf Zuneigung und Akzeptanz – natürlich gibt es diverse Abstufungen von kindlichem Verhalten dazwischen.
Beide bzw. alle Gruppen, egal ob sie sich am Brav-Sein oder am Nicht-Brav-Sein messen, reagieren auf die Wünsche, Vorstellungen und Bewertungen der anderen. Entweder indem sie sich so weit verbiegen, dass sie auf ihr Selbst und ihre Autonomie verzichten, um geliebt, gemocht sowie positiv bewertet zu werden. Oder sie akzeptieren negative Bewertungen, die bis hin zu Ablehnung führen können, um sie selbst sein zu dürfen und ein Subjekt zu sein bzw. zu bleiben. Warum können wir unseren Kindern nicht beides zugestehen? Was hindert uns daran, sie zu geliebten Subjekten reifen zu lassen?
Das Streben nach Kohärenz
Unser Hirn strebt in seinem Tun ständig nach Kohärenz, also nach einem Zustand, in dem sich unser Leben stimmig anfühlt, eben nach jener einleitend erwähnten Kombination aus aufrichtiger Verbundenheit mit der Gesellschaft und der gelebten Autonomie.
Im Zustand der Inkohärenz merken wir, dass etwas nicht rund läuft, und sind im permanenten Versuch, diese Spannung zu beseitigen, das Problem zu lösen. Das kostet viel Mühe und wird umso anstrengender empfunden je weniger wir uns der Ursache bewusst sind, denn dann kämpfen wir gegen etwas an, was wir nicht benennen können. Wir spüren nur, wir fühlen uns nicht wohl, erkennen aber nicht, dass es daran liegt, dass wir an einem Mangel an Würde leiden.
Wenn Erziehung darauf abzielt, ein Kind zum Objekt der Wünsche von Erwachsenen zu machen, dann ist sie übergriffig. Das ist keine Sozialisation, sondern Dressur und erlegt diesem eine schwere Bürde auf, weil der Verlust entweder von Liebe oder von Autonomie Gefühle von Widerstand oder Isolation oder Wut oder Angst erzeugt.
Die Gewohnheit, den Wünschen eines anderen Menschen zu entsprechen, beispielsweise jenen des Vaters oder der Mutter oder der Großeltern, setzt sich über die Kindheit hinweg fort und wird nicht mehr hinterfragt. Diese „Objektisierung“ setzt sich in Form von Bewertung in der Schule fort, wo es gute oder schlechte Schüler, fleißige und faule, zuverlässige und unzuverlässige, pünktliche und unpünktliche gibt. Irgendwann empfinden wir Bewertungen als etwas ganz Selbstverständliches und genauso selbstverständlich wird in Freundschaften und Liebesbeziehungen bewertet. Männer bewerten Frauen und Frauen bewerten Männer, indem sie ihre Erwartungen auf den Partner projizieren.
Die rosarote Brille
Wenn die Liebe frisch ist, spüren wir die Zuneigung und Anerkennung des anderen, der uns in seiner Verliebtheit das Gefühl gibt, uns so zu lieben, wie wir sind. Das vereint unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse auf perfekte Weise und vermittelt uns ein besonderes Glücksgefühl. Erst mit der Zeit, wenn beide einander näher kennengelernt haben, zeigt sich, ob sich das erfüllt, was man sich vom anderen erwartet hat. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die „Objektisierung“ des Partners, der das in vielen Fällen zulässt, einerseits nämlich der vermeintlichen Hoffnung wegen, das zuvor empfundene Glücksgefühl dann wieder zu spüren und andererseits aus Angst, den geliebten Menschen zu verlieren – beides bedeutet den Verlust der Autonomie.
Wer sich in dieser Situation seiner Würde bewusst ist, wird sich den Erwartungen des anderen nicht beugen. Er wird nicht auf seine Autonomie verzichten, muss im Gegenzug allerdings damit rechnen, möglicherweise die Zuneigung zu verlieren.
Beides, der Verlust der Autonomie oder der Liebe, versetzt uns in einen inkohärenten Zustand. Der Schuldige dafür ist vermeintlich der Partner, der es nicht versteht, unseren Wunsch nach Liebe und Autonomie gleichermaßen zu erfüllen. Der Verlust der Kohärenz resultiert in Trennungen, Scheidungen und gespaltenen Familien. Viele dieser Probleme werden in der Gesellschaft verortet, in der die einen noch immer patriarchalische Elemente und einen veralteten Blick auf die Rolle der Frau sehen, während andere den allgegenwärtigen Kampf der Geschlechter und der Generationen für die vielen Herausforderungen im täglichen Leben verantwortlich machen. Doch tatsächlich könnte die Gleichwertigkeit von Mann und Frau ganz ohne gegenseitige Beschuldigungen, Unabhängigkeitskampf und zerrüttete Familien gelebt werden, nämlich indem die Gesellschaft die Ursache des Problems erkennt.
Jeder einzelne Erwachsene, der versteht, wie es gelingt, die Würde jedes Menschen aufrecht zu erhalten, kann dazu beitragen, dass sich die gesamte Gesellschaft verändert.
Zeit für Liebe
Liebe hat natürlich viele verschiedene Facetten. Liebe Kindern gegenüber ist anders als jene zu Freunden, diese wiederum anders als sexuelle Liebe oder die Liebe, die man für einen Elternteil empfindet. Aber im Grunde sind alle positiven Gefühle ein Ausdruck von Liebe, die dazu führen, bewusst und gerne jemanden in seiner Autonomie und Entwicklung zu unterstützen.
Und mit der Liebe kommt die Würde und mit der Würde der Respekt – auch kleinen Kindern gegenüber: sie zu grüßen, ihnen zu danken und hervorzuheben, was sie gut können anstatt zu korrigieren oder zu kritisieren. Respekt wendet sich ab von Gewalt, von körperlicher, verbaler und seelischer. Stattdessen erzeugt er im Gegenüber die Bestätigung: „Ich bin gut so, wie ich bin.“
Credits
Image | Title | Autor | License |
---|---|---|---|
PNG – 016-YOUTUBE-PC | Wolfgang Müller | CC BY-SA 4.0 | |
Was-schenken-wir-unseren-Kindern-03-Autonomie |