BDFM – Das Finale

BDFM with love
Soziales

Die Tage waren nach meiner ersten Nachtschicht in der medizinischen Versorgung ziemlich hektisch. Da sich wenig Leute für die Nachtschicht begeisterten, trug ich mich ein.

Einige Schichten dauerten von Mitternacht bis 8 Uhr früh. Und andere, wenn es viele Patienten gab und gleichzeitig Personalmangel herrschte, von 20 Uhr abends bis 8 Uhr morgens. Die 12-Stunden-Schicht mag sehr umfangreich klingen, aber ist man sehr beschäftigt und genießt man, was man tut, vergeht die Zeit wie im Fluge. Und nach all dem Ganzen hier helfe ich, so viel es geht und gebe immer meine 110%.

Nachtschichten sind natürlich nicht alle gleich: Sie variieren von sehr eingedeckt Sein, bis hin zu die ganze Nacht nichts Tun und sich mit dem anderen Dienstpersonal freundlich Unterhalten.

In einer der folgenden Nächte arbeitete ich zusammen mit einem jungen griechischen Arzt. Als wir unsere Schicht begannen, wartete lediglich ein pakistanischer Mann bei uns in der Klinik: Ein Christ, der über Nacht blieb, seitdem er als verwundbarer Fall galt. Er regte sich auf, dass ihn die anderen aus religiösen Gründen so schlecht behandelten (Christen sind eine kleine Minderheit in Pakistan, seit der Islam als staatliche Religion anerkannt wurde). Wir ließen ihn bei uns übernachten und überstellten ihn am nächsten Morgen in ein anderes Camp, in dem er bleiben und sich in Sicherheit wiegen konnte. Mitten in der Nacht bekamen wir eine weitere Patientin, ein afghanisches Mädchenbaby, welches ihre Eltern aus dem Moria-Lager zu uns brachten – die Ärzte-ohne-Grenzen-Klinik ist während der Nacht nämlich geschlossen. Das Baby schwitzte und litt unter hohem Fieber und Durchfall. Die Eltern sprachen kein einziges Wort Englisch. Also mussten wir einen Dolmetscher, der Dienst hatte, zu Hilfe rufen. Er kam sehr schnell. Wir ließen sie bei uns übernachten, rehydrierten das Baby und warteten, bis das Fieber sank. Während dieser stressvollen Situation, sind junge Mütter einfach erledigt; die meisten sind nicht dazu fähig, ihre Babys zu stillen (das war auch der Fall in dieser Familie). Auf der Reise fütterte die Mutter ihr Baby nur mit Kuhmilch und war nicht im Stande dazu, irgendwo die Baby-Flasche zu sterilisieren. Sie erklärte, warum das Baby unter Durchfall und Fieber litt. Um weitere Infektionen zu vermeiden, sterilisierten wir sofort die Baby-Flasche, bereiteten Ersatzmilch zu und zeigten den Eltern, wie das geht. Ebenfalls wie die Baby-Flasche sauber gehalten werden muss, usw., und teilten ihnen mit, dass wenn sie wieder Ersatzmilch brauchen oder die Flasche sterilisieren müssen, sie wieder zu uns kommen sollten. Bevor sie in ihr Lager zurückkehrten, bedankten sie sich zutiefst bei uns. Im Vergleich zu vorhin, schienen sie erleichterter zu sein. Dr. George und ich waren glücklich, dass wir helfen konnten.

Als die Sonne aufging und wir für den nächsten Schichtwechsel bereit waren, klopfte es an der Tür. Eine sehr aufgebrachte Frau stand weinend und schreiend mit einem Baby in ihren Armen vor uns; sie erzählte, sie habe die Ärzte von Ärzte ohne Grenzen am vorigen Abend gesehen. Das Fieber ihres Babys sei noch immer nicht gesunken. Wir nahmen sie auf, beruhigten sie und schauten uns das Baby einmal an. In solchen Situationen ist es wichtig, ruhig zu bleiben, Geduld zu haben und Verständnis gegenüber der Familie zu zeigen. Die Flüchtlinge sind permanent physischem und psychischem Druck ausgesetzt, speziell alleinreisende Mütter mit ihren Kindern oder Neugeborenen. Die Situation ist sehr schwierig, und von Zeit zu Zeit passieren Ausraster. Manchmal, wenn viele Patienten da sind, sieht sich das Medizinpersonal täglich – es kann vorkommen, dass einige übermüdet und gestresst sind oder auf eine Art und Weise auf Situation reagieren, wie sie unter normalen Umständen nicht tun würden. Das ist die Natur des Menschen – seit wir alle Menschen und keine Superhelden mehr sind. Trotzdem kann so etwas zu Missverständnissen führen, und der Patient fühlt sich dann, als ob er/sie nicht verstanden würde und keiner ihm zuhöre; er/sie würde sich falsch behandelt und alleine gelassen fühlen. Letztendlich waren alle Flüchtlinge in einer unguten Situation. In einem Land nämlich befindlich, in dem niemand ihre Sprache spricht. In dem niemand wirklich etwas erklärt. In einem Land, in dem sie nicht wissen, was als nächstes passiert. In einem Land, in dem sie um ihr eigenes Leben und um das Leben ihrer Kinder fürchten.

Während der Schicht, Ärzte und Übersetzer

Wir wechselten die Schicht, zwangen uns zu einem Frühstück und fuhren nach Hause, um unsere Batterien aufzuladen.  Als ich zu Hause ankam, traf ich meine Zimmerkollegin, die ebenfalls nach Beendigung ihrer Nachtschicht heim kam. Sie arbeitete in der schwedischen Organisation ‚I am you‘ im Moria-Lager. Wir schauten aus wie Zombies und fühlten uns auch wie welche, waren extrem müde und konnten nur mit Mühe unsere Augen offenhalten. Im Gespräch über unsere Erfahrungen in der vorigen Nacht konnte uns keiner stoppen – wir hatten einfach zu viele Emotionen, die raus mussten. Als wir zum Reden anfingen, erzählte sie mir über drei schwierige Fälle während ihrer Nachtschicht, welche besondere medizinische Aufmerksamkeit brauchten. Sie war total übermüdet und klopfte verzweifelt an der Tür vom Arzt im Bereitschaftsdienst, aber niemand antwortete. Ein Mann litt an Diabetes und begann sich plötzlich sehr schlecht zu fühlen; ein anderer, im Rollstuhl, hatte unterschiedliche Schmerzen in seinen Gliedern und die dritte war eine Frau, die direkt vor ihr ohnmächtig wurde. Sie rief die Rettung, doch als sie kam, nahmen sie die ohnmächtige Frau mit, weil sie zum Notfall wurde. Ungefähr nach einer halben Stunde wachte einer der Bereitschaftsärzte auf – sich entschuldigend: Er sei mit Ohrenstöpsel eingeschlafen und hätte das Klopfen nicht gehört. Ich war total sprachlos, dass in einem Camp, welches bis zu 2000 Personen beherbergen kann, es keine verlässliche medizinische Dienstleistung gab. Unglücklicherweise wusste meine Zimmerkollegin und ihre Mitarbeiter nicht, dass sie zu unserem Med-Zelt im BDFM (Better days for Moria) kamen durften. Sie konnten uns auch einfach in Notfällen rufen, damit wir zum Moria-Camp mit unserer medizinischen Versorgungstaschen eilen konnten, um ihnen zu assistieren (der Eintritt ins Moria-Lager für Nicht-Mitarbeiter ist nur in medizinischen Notfällen gestattet). Der Kommunikationsmangel zwischen den zwei Lagern (Moria & BDFM), nicht mal fünf Gehminuten voneinander entfernt, führte zu Vorfällen wie diese. Diesmal passierte nichts Grandioses, dennoch – für die Zukunft – sollte es mehr Kooperationsarbeit zwischen den einzelnen Organisationen geben – speziell unter den Medizinern –, mehr Bewusstseinsschaffung sowie einen guten Informationsaustausch unter dem Personal.

Als wir unsere Konversation fortführten, begann sie, mir die deprimierende und erdrückende Atmosphäre zu schildern. Wie unmenschlich die Bedingungen innerhalb des Moria-Lager seien. Sie teilte mir mit, dass sie jedes Mal, als sie das Gelände betrat, umzäunt von Stacheldraht, sich so fühlte, als ob sie nicht mehr atmen könne – es musste ein schreckliches Gefühl gewesen sein.

Nachdem die Flüchtlinge mit dem Schlauchboot ankamen, wurden sie ins Moria-Camp gebracht. Dort mussten sie auf die Registrierung warteten. Diejenigen, die nicht das Glück hatten, von Freiwilligen auf der Küste mit trockenen Gewändern und Essen willkommen geheißen zu werden, mussten stundenlang in der Anmeldungsschlange stehen. Sie hatten gerade dem Tod in die Augen geschaut, waren durchnässt, kalt, zitterten, waren dehydriert und hungrig. Und es wurden keine Sesseln oder Unterkünfte bereitgestellt. Und in der Nacht war es sehr kalt und sie bekamen den ganzen Regen ab. Gleich nachdem sie registriert wurden, durften sie sich frei bewegen, bekamen trockene Sachen und Verpflegung; die, die vom BDFM wussten, kamen hin, seitdem wir 24-Stunden warmes Essen und Tee anboten und auch natürlich Kleidung verteilten. All die Freiwilligen, die sich 24-Stunden dort kümmerten und das Beste in irgendeiner Weise gaben, um zu helfen: ein Lächeln den Menschen ins Gesicht zu zaubern, ihnen Wohlfühlen zu zeigen und zu geben, die Kinder zu unterhalten, Decken zu verteilen, trockene Gewänder, Snacks, heißen Tee, usw. (wenn es verfügbar war, weil manchmal gab es die Ressourcen dafür nicht) – ohne sie hätte das Warten in der Schlange einen noch viel größeren Albtraum dargestellt.

Als ich all das erfuhr, realisierte ich den riesigen Unterschied zwischen Moria und dem BDFM-Camp; ein Vergleich wie Feuer und Wasser, und dennoch war ich froh, im BDFM zu arbeiten, umgeben von einer fröhlichen und positiven Atmosphäre. Ich wünschte, ich hätte noch mehr für die Menschen innerhalb des Moria-Camps machen können.

Ein paar Tage später trug ich mich gemeinsam mit einer anderen jungen Ärztin aus Pakistan wieder für eine Nachtschicht ein – diesmal für eine 12-Stunden-Schicht. In dieser Nacht begegnete ich das erste Mal einem weiblichen Pakistani-Flüchtling, weil normalerweise nur Männer unbegleitet reisen. Als ich die Männer fragte, wo sie all die jungen Frauen gelassen hätten, antworteten sie, es sei zu schwierig gewesen wegen der sehr langen und schwierigen Reise (ca. 4500km entfernt von Pakistan-Iran-Türkei-Griechenland) und zu gefährlich für eine Frau. Inmitten der Nacht, als Fatima und ich in eine tiefsinnige Diskussion über das Leben vertieft waren, betraten ein Mann und eine Frau den Raum und standen vor uns: zitternd, klatschnass und in die Leere starrend. Gut, dass Fatima Urdu spricht (das ist die pakistanische Nationalsprache); sie bat die beiden, sich zu setzen und uns zu erzählen, was passierte. In der Zwischenzeit ging ich einige Decken holen, trockene Kleidung, Snacks und warmen Tee. Das junge Paar gab bekannt, dass sie gerade in einem Boot aus der Türkei ankamen und es keine Freiwillige gab, die halfen. Es ist sehr selten, dass Boote ankommen, ohne dass jemand davon weiß. Aber von Zeit zu Zeit passierte so etwas; meistens dann, wenn Boote im Norden der Insel und nicht im Süden ankommen. Sie mussten den ganzen Weg ab der Strandung bis hin zum Camp (ein paar Stunden) gemeinsam mit den anderen Passagieren des Bootes zu Fuß gehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie sie das schafften: Zuerst vier Stunden auf dem Boot zu sitzen, ohne Essen oder Getränke, nass zu werden und dann noch im Dunkeln ein paar Stunden wieder hatschen. Sobald sie sich aufwärmten und besser fühlten, zeigten wir ihnen ihre Schlafplätze. Am nächsten Morgen versuchen wir eine bessere Unterkunft für sie – vor allem wegen der Frau (verwundbarer Fall) – zu finden. Einige Zeit später, nachdem wir uns von den schockierenden Nachrichten erholten, platzte ein Mann mit zwei Mädchen, vielleicht 2 und 4 Jahre alt, herein. Als ich die Mädchen berührte, merkte ich, dass ihr Gewand auch nass war. Sie waren auf demselben Boot wie das Pakistani-Pärchen und gingen den ganzen Weg zu Fuß hierher. Anhand des Blickes ihres Vaters erkannten wir, dass sie einiges erlebt haben mussten; der Stock stand ihm ins Gesicht geschrieben, zugleich schien er aber auch erleichtert, das Camp gefunden zu haben und sich mit seinen Mädchen in Sicherheit zu wiegen. Wir halfen ihnen, so gut wir konnten und waren glücklich, dass jeder ins Camp sicher angekommen war und „sichere“ Bedingungen geschaffen wurden.

Am Morgen nach dem Schichtwechsel kam ein kleines Mädchen, 4 Jahre alt, mit ihren Eltern zu uns. Das kleine Mädchen weinte stark vor Schmerzen. Ihre linke Schulter war ausgekugelt. Wir fragten, was passierte und ihre Eltern berichteten: Vor ein paar Tagen habe sie ein Mann in der Türkei brutal gestoßen, als sie inbegriff waren, das Boot zu betreten. Wir riefen sofort die Rettung und versicherten ihnen, dass alles wieder gut werden würde und gaben ihnen ein bisschen Geld fürs Taxi für die Rückfahrt vom Spital. Als ich das kleine unschuldige Mädchen sah mit so viel Schmerz, wurde ich zornig und zugleich traurig. In dieser Nacht musste ich viel hinnehmen und durch einiges durch.

Ich brauchte ganz einfach nur Ruhe.

Am selben Tag, einige Stunden später, am Nachmittag, als meine nächste Schicht begann, mussten wir die Rettung wieder rufen. Diesmal kam ein 65-jähriger Afghane mit Symptomen in unsere Klinik, die auf einen möglichen Herzinfarkt hindeuteten. Der Rettungswagen kam sofort. Sie nahmen den Mann mit seiner Frau ins Krankenhaus mit. Sie sprachen kein Englisch, wussten nicht, was um sie herum geschah und wurden noch ängstlicher –das alles musste sich auch tatsächlich beängstigend anfühlen: Sich in einem anderen Land aufzuhalten, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Wohlwissend, dass sich andere Leute über dich und deinen Zustand unterhielten. Später fanden wir heraus, dass er doch keine Herzattacke hatte.

Einige Stunden später fing ich meine Nachtschicht gemeinsam mit Dr. Fatima aus Pakistan an. Plötzlich klopfte es an der Tür und zwei Männer standen vor uns. Einer trug eine Weste von Ärzte-ohne-Grenzen. Es war der Dolmetscher. Der zweite hatte Tränen in den Augen. Er starrte auf uns und konnte nicht wirklich ein Wort von sich geben. Sie kamen aus dem anderen Lager. Wir baten sie hereinzukommen, um ihre Situation besser kennenzulernen. Der Mann hörte aber nicht auf zu weinen und schluchzte die ganze Zeit. Da ich kein Farsi spreche (das ist die Nationalsprache Afghanistans) und es angenehmer ist, sich mit einer Person persönlich über ein Problem zu unterhalten, statt über einen Dolmetscher, lieh Dr. Fatima ihm ihr Ohr. Ich ging in der Zwischenzeit warmen Tee zubereiten. Er hatte mehrere Zusammenbrüche und beruhigte sich nach nach dem Gespräch wieder einigermaßen. Wir fanden heraus,  dass er, als er in Deutschland war, Nachrichten aus Afghanistan bekommen habe, dass seine Familie sei in Gefahr schweben musste. Er kehrte schnellstmöglich nach Afghanistan zurück. Dort fand er unglücklicherweise heraus, seine gesamte Familie wurde umgebracht. Wieder begann er seine Reise Richtung Europa zu seiner eigenen Sicherheit. Jetzt war er auf seiner zweiten Reise. Er war alleine und bekam immer wieder einen Nervenzusammenbruch. Er suchte regelmäßig psychische Betreuung auf. Dies war aber nur während des Tages möglich. Seine Zusammenbrüche erfolgten aber meistens nachts. Bevor er ins Lager zurückkehrte, versicherten wir ihm, er könne am nächsten Morgen einen Psychiater (gemeinsam mit einem Dolmetscher) besuchen. Er bedankte sich und antwortete, dass er darüber nachdenken würde.

Es war um den 15. März herum, als uns die Nachricht erreichte: Angelina Jolie, die Sonderbeauftragte der UNHCR (United Nation High Commissioner for Refugees), würde kommen und das Moria-Flüchtlingslager besuchen. Da ich ein großer Fan von ihr bin, hoffte ich darauf, dass sie auch die Zeit dazu finden würde, das inoffizielle BDFM-Camp zu besichtigen. Sie tat es aber leider nicht. Später sprach ich mit ein paar Flüchtlingen, die sie doch sahen. Sie erzählten, was alles für ihren Besuch vorbereitet war: Der Öffentlichkeit wurde ein unwahres Bild des Lagers gezeigt. Statt die Wirklichkeit zu zeigen, dass nämlich alle Flüchtlinge dazu gezwungen wurden, ihre kleinen Hütten oder Zelte zu verlassen (die Glückspilze die überhaupt eine Hütte bekommen haben, waren vor allem Frauen und Familien). Jeden Tag gegen 9-10 Uhr mussten sie stundenlang draußen stehen. Mit all ihrem Vermögen, ohne darauf zu achten, wie das Wetter war. (Während dieser Zeit wurden die Hütten gereinigt, um den Ausbruch von Krankheiten, wie die Krätze, vorzubeugen.) Das dicht gedrängte Zusammenleben zwang die Menschen dazu, am Boden ohne Matratze oder gar manchmal draußen unter einem Baum die Nacht zu verbringen. Anstelle die ganze Wahrheit zu zeigen, wählten die Medien eine kleine, gut organisierte syrische Familie und berichtete darüber. Ebenso war eine gut vorbereitete (gefakte) Hütte das filmische Objekt, und dort fand das Interview mit Angelina Jolie und der dortigen Familie statt; ohne zu erwähnen, dass an einem normalen Tag diese Familie wahrscheinlich mit all ihren Sachen draußen stehen musste (vielleicht sogar auch im Regen), bis ihre Hütte fertig geputzt wird. Ich war sehr enttäuscht über diese „Fake“-Berichterstattung.

Angelina Jolie auf Lesbos

Wir dachten und hofften, dass Angelina Jolies Besuch das Bewusstsein schärfen und positive Veränderungen zur momentanen Situation bringen würde. Leider passierte das Gegenteil. Kurz nach ihrem Besuch erfuhren wir, dass griechische Behörden beschlossen, alle Pakistanis in die Türkei zu deportieren. Sozusagen alle Flüchtlinge, die nicht offiziell registriert waren. Wir hörten diese „Gerüchte“ allemal bereits in der Vergangenheit, aber diesmal schien alles ganz anders: Eines Nachmittags nämlich (ein paar Tage später), kam ein Polizist ins BDFM-Camp. Er suchte nach Pakistanis. Jeder von ihnen rannte in eine andere Richtung – daraus entstand ein Chaos. Später fanden wir heraus, dass sie nach einer bestimmten Person suchten. Sie fanden sie jedoch nicht. Ein Polizeiinspektor rief uns entgegen, dass wir darauf vorbereitet sein sollten, in den nächsten Tagen mehrere Polizisten zu erwarten – und sie nähmen alle Pakistanis mit. Er ließ das BDFM-Camp in Furcht und Schrecken zurück; die Atmosphäre zwischen den Flüchtlingen aber auch unter den Freiwilligen war extrem angespannt. Ich verstand sogar, was er gesprochen hatte. Ich konnte es mir aber einfach nicht vorstellen, dass die Polizei kommen würde, um das Camp zu räumen. In der folgenden Nacht sah ich jede Menge Leute draußen schlafen (neben dem Lebensmittelzelt). Sie machten sich also bereit, im Notfall vor der Polizei zu fliehen. Im Falle des Falles also, wenn diese in der Nacht überraschend antanzte. Die Flüchtlinge waren sehr erschrocken und verwirrt. Sie fragten uns immer wieder dieselben Fragen, wie „Was wird mit uns passieren?“, „Ist es wahr, dass sie uns in die Türkei zurückschicken, wir sind so einen langen Weg hierher gekommen und haben alles verloren…?“, „Könnt ihr uns irgendwie helfen?“ u.v.m.. Unglücklicherweise konnten wir diese Fragen nicht beantworten. Das einzige, was wir tun konnten, war, ihnen unser Mitgefühl und Liebe zeigen – mehr konnten wir nicht für sie tun.

Wir hofften noch immer darauf, dass sich alles zum Guten wenden würde. Die Behörden hatten angekündigt, dass sich ab 20. März alles ändern würde. Die Europäische Union und die Türkei machten einen Deal. Sie hatten vor, alle derzeitigen Flüchtlingslager auf der Insel aufzulösen. Und stattdessen die Flüchtlinge mehr auf Griechenlands Festland in permanenten Lagern zu konzentrieren. Damit sie jeden einzelnen Fall der Familienzusammenführungen, Verteilungen besser betreuen und Asyl gewähren können. Das Moria-Flüchtlingslager wurde zu einem Abschiebezentrum – wie ein Gefängnis – umfunktioniert, welches niemand verlassen durfte. Alle Leute, die sich auf der Insel Lesbos befanden und nicht registriert wurden (jeder, der aus einem Land war, das nicht als instabil oder gefährlich anerkannt war; sozusagen alle Pakistanis, Nepalesen, Marokkaner usw.), wurden mit all den neuen Ankünftlingen (nach dem 20. März) im Moria-Abschiebezentrum eingesperrt. Bis sie deportiert wurden, Asyl gewährt bekamen oder ihnen bei der Familienzusammenführung geholfen wurde (dieser Prozess kann eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen). Wir waren alle geschockt und wollten es nicht wahr haben. Bei so einer hohen Anzahl der verteilten Flüchtlinge auf die verschiedenen Camps war es für uns nicht vorstellbar, alles innerhalb so einer kurzen Zeit aufzulösen. Doch wir lagen falsch …

In der Nacht zwischen 19. und 20. März erwarteten wir eine Menge Boote. Die Menschen wussten, dass es ihre letzte Chance war, auf Griechenlands Festland zu kommen und nicht im Moria-Abschiebezentrum eingesperrt zu werden. Es war eine regnerische Nacht. Ich arbeitete in der BDFM-Klinik und verfolgte die Situation an der Küste via WhatsApp. Mein Telefon läutete ständig. Die Nachrichten, die ich bekam, empfand ich als brutal. Ich hörte Sprachnachrichten ab, die Flüchtlinge vom Boot aus gesendet hatten. Ich konnte eine Frau schreien und weinen hören. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber meine Freundin übersetzte es für mich: Es war viel Wasser im Boot und sie baten um Hilfe. Sie hatten Angst vor dem Ertrinken. In dieser Nacht gab es mehrere Notfälle: Eine Frau beklagte sich, dass ihr Kind nicht mehr atmete. Eine andere verlor ihr Neugeborenes auf dem Boot, mitten in der Menge (Frauen und Kinder wurden immer in der Mitte des Schlauchbootes platziert, weil es sicherer sein sollte). Das Gute daran war, dass die Freiwilligen an der Küste mit den Flüchtlingen via WhatsApp kommunizieren konnten. So konnten sie ihnen bestmöglich helfen, sie retten, die Rettung rufen und auf die Ankunft vorbereitet sein.

Binnen kürzester Zeit war die gesamte Insel geräumt. Viele Fähren fuhren den ganzen Tag und brachten die Flüchtlinge aufs Festland. Ich ging zum Hafen, um Kleidung zu verteilen, Zelte, Kinderwagen, Essen und alles, was die Leute für ihre lange Reise brauchten. Es herrschte unter den Flüchtlingen viel Verwirrung, Angst und Sorgen, seit die Behörden nicht mehr ankündigten, wohin sie überstellt werden sollten. Einige fürchteten, dass sie sofort zurück in die Türkei deportiert würden. Andere waren in guter Stimmung, lächelten und waren auf eine Art „glücklich“, die Insel zu verlassen. Ich schätze, die Glückspilze dachten, das würde sie einen Schritt näher ans Ziel bringen. Ein Schritt näher in eine Zukunft – nach Deutschland oder in ein anderes Land zu gehen, wo sie die Möglichkeit haben würden, ein neues Leben zu beginnen. Eine neue Arbeit zu haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken usw…In Wirklichkeit wusste niemand, was passieren würde. Wegen Kommunikationsmangel und der Angst deportiert zu werden, hörte ich Flüchtlinge Pläne schmieden, sie würden sich irgendwo auf der Insel, in Apartments oder Hotelzimmern verstecken, anstelle die Fähre zu nehmen.

Am 20. März verkündeten die UNHCR und die Ärzte-ohne-Grenzen, dass sie ihre Dienstleistungen auf der Insel beendeten. Sie würden kein Abschiebezentrum unterstützen wollen. Dies verstoße nämlich gegen die Menschenrechte (Die Räume waren total überfüllt. Das Lager hatte eine Kapazität für 2000 Menschen. Es waren aber 2600 Leute – das führte zu wenig Privatsphäre und einem erhöhten Risiko von Krankheitsausbrüchen). Das bedeutete,  dass es von jetzt an nur einen Bus (der Flüchtlinge von der Küste ins Abschiebezentrum führt) für die ganze Insel gab – den Küstenwache-Bus – und ebenfalls kein medizinisches Versorgungszelt im neulich umfunktionierten Moria-Abschiebezentrum bereitgestellt wurde. Sogar alle Pakistanis (ca. 500) wurden vom BDFM-Camp ins Moria-Abschiebezentrum überführt oder direkt deportiert – somit war das Camp leer. Die HPF (Health Point Foundation), die Organisation, für die ich arbeitete, beschloss, solange wie möglich zu bleiben und den Flüchtlingen medizinische Hilfe innerhalb des Zentrums zu leisten. Nach dem Rückzug der Ärzte-ohne-Grenzen, war das die einzige medizinische Organisation, die sich der Nähe Morias befand und auch blieb.

Gemeinsam mit einem anderen HPF-Mitglied beschloss ich, die Insel Lesbos zu verlassen und an die griechisch-mazedonische Grenze nach Eidomeni zu gehen. Die Bedingungen dort waren sehr schlecht, und jeden Tag kamen neue Leute an – die Zahlen zeigten über 10.000 Flüchtlinge an, die auf ihr Glück hofften und darauf warteten, dass die Grenzen geöffnet würden. Ich stand da mit gemischten Gefühlen, seit ich mit einigen HPF-Mitglieder dort sprach: Sie erzählten uns nämlich, dass jede Menge Aufstände passieren und es von Zeit zu Zeit gefährlich werden könnte.

Wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann das, dass man immer auf dein Herz hören sollte – denn du, nur du alleine weißt, was falsch und was richtig für dich ist – niemand kann für dich entscheiden; du musst deine eigenen Erfahrungen machen, und niemand sollte dich beeinflussen können.

Ich verbrachte die letzten Tage auf der Insel so angenehm, wie möglich – und half in verschiedenen Gebieten aus.

Mein letzter Tag: Ich ging in die Klinik, um meine Sachen zu packen: zwei Taschen, zwei Rucksäcke und ein Koffer voll mit Arznei, den ich nach Eidomeni mitnehme. Ich fuhr zurück in die Stadt, ging entlang des Hafens spazieren und verbrachte ein letztes Abendessen mit meinem Team. Es schmerzte und fühlte sich seltsam an, sich zu verabschieden, aber in den letzten Tage ging es eigentlich nur darum, also war ich daran schon gewöhnt.

Nach dem Abendessen konnte ich nicht wirklich einschlafen. Seitdem ich mich mithilfe der WhatsApp-Gruppe informieren konnte, (welche den Ort und die Ankunft der Boote ankündigte), dass Boote auf dem Wege waren, die Insel zu erreichen, fuhr ich mit zwei anderen Freunden zur Küste. Ein paar Minuten nach unserer Ankunft kam ein Schlauchboot. Ich suchte nach Decken und trockenem Gewand zum Verteilen, konnte aber nichts finden. Ich wusste nicht, warum, aber es schien, als ob die Freiwilligen – die verantwortlich für die Ankunft in diesem Gebiet waren und trockene Kleidung hinauslegen sollten – diesmal weniger vorbereitet waren. Alles, der ganze Prozess vom aus dem Boot Steigen bis zum Einsteigen in den Küstenwachebus ging sehr zügig, und jeder schien gestresst zu sein. Ich sah viele Leute mit nasser Kleidung in den Bus einsteigen. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich begann ich zu „frieren“. Jeder und alles bewegte sich und ging durch mich durch; Ich stand bloß da mit Tränen in den Augen und beobachtete diese erbärmliche und verrückte Situation. In diesem Moment gab es mir einen Ruck; all die ganze Verrücktheit, diese Verzweiflung, diese Ungerechtigkeit, diese unmenschlichen Bedingungen usw. Es war einfach zu viel für mich und ich musste es mir zugestehen, dass ich mein Limit erreicht hatte. Ich konnte so nicht mehr weitermachen: diese Augen sehen, diese Augen voller Leere, manchmal voller Hoffnung, manchmal voller Angst – Augen, die dem Tod paar Mal ins Gesicht geschaut hatten, Augen, die alles verloren hatten. In diesem Moment fühlte ich mich stärker als je zuvor und ich sah es als die richtige Entscheidung, die Insel zu verlassen. Ich war mir dessen bewusst, dass Eidomeni nicht „einfacher“ werden würde. Dennoch war es eine Veränderung. Eine andere Umgebung war das, was ich brauchte. Nachdem ich mich stabilisierte, gingen wir hinaus, um uns abzulenken. Zuerst frühstückten wir, dann gingen wir zum römischen Aquädukt (der am längsten erhaltene Teil besitzt eine Länge von 170m und wird zurückdatiert auf das zweite Jahrhundert vor Christus). Er wurde als Wassertransport zwischen den Quellen des Olymp bis in die Stadt Mytilene genutzt).

Wir waren nächstgelegen zum Moria-Flüchtlingslager, umgeben von Olivenbäumen. Ich saß dort, inmitten der Natur, in dieser friedvollen und entspannten Umgebung. Das half mir, alles zu vergessen (zumindest für einen Moment).

Es war gut, wieder zu lächeln und ein bisschen meine positive Kraft zurückzugewinnen. Ich hätte mir kein besseres Ende vorstellen können.

Eine Stunde später stand ich am Flughafen mit meinen Koffern voller Medizin. Wohlwissend, dass ich die Dinge nicht mehr einheitlichen betrachten werden könnte. Ich werde also nie wieder dieselbe Person sein. Auf der einen Seite zweifelte ich an der Menschheit, aber auf der anderen Seite war ich stolz auf die Menschen. So viele verschiedene Menschen, aus der ganzen Welt, die zugezogen waren, vereint waren, die spendeten und ihre Zeit und Geld opferten; all das, um jenen zu helfen, die in dieser speziellen Zeit einfach weniger Glück hatten. Es war unglaublich wunderschön, Menschen derart zusammenhaltend zu sehen, die alle für dasselbe Gute kämpfend.

Die Insel auf Lesbos, Moria, diese ganze Erfahrung lehrte mich so viel. Ich entwickelte mich weiter und reifte in so vielen Themenbereichen. Das Komische an der ganzen Sache ist, dass diese Reife erstpassierte, nachdem ich all dass gesehen hatte. Nachdem ich das alles im real erlebt hatte; Ich habe manchmal immer noch ein Gefühl, als ob das alles nur ein Traum oder Film gewesen war– dass es nicht die Realität gewesen ist. Und doch habe ich das alles mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich habe Menschen aus eigener Kraft geholfen. Die Worte kommen aus meinem Mund und ich habe mit meinem eigenen Herzen mitgefühlt – mein Verstand aber kann das alles nicht begreifen.

Als ich begann, in Eidomeni neue Erfahrungen zu sammeln, wurde das BDFM-Camp auf Lesbos geräumt und die HPF musste den Ort verlassen. Das war „das Ende“ eines netten Hippi-Lagers, das umgeben von Olivenbäumen, den Flüchtlingen eine positive Atmosphäre bot. Nach alledem ging es um Menschen, die dieses Lager errichteten und darin arbeiteten – tagein, tagaus. Ohne diese Menschen, ohne die Freiwilligen, wäre das Camp eine seelenlose Konstellation von verschiedenen Zelten gewesen. Deshalb bin ich positiv eingestellt, dass es sich hier nicht wirklich um „das Ende“ handelt, solange nämlich Volontäre auf der ganzen Welt zusammenkommen, um sich für das Gute einzusetzen.

Ich danke euch für all das ♡

Übersetzt aus dem Englischen: Patryk Kopaczynski

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Während der Schicht, Ärzte und Übersetzer Während der Schicht, Ärzte und Übersetzer Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Angelina Jolie auf Lesbos Angelina Jolie auf Lesbos Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Beim Hafen auf die Fähre wartend Beim Hafen auf die Fähre wartend Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
BDFM-Camp Räumung (Matratzen aus Rettungswesten hergestellt) BDFM-Camp Räumung (Matratzen aus Rettungswesten hergestellt) Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
BDFM with love BDFM with love Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Griechische Polizei gegenüber des Moria Abschiebezentrums Griechische Polizei gegenüber des Moria Abschiebezentrums Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Am Hafen beim Zelte und Kleidung verteilen Am Hafen beim Zelte und Kleidung verteilen Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Letztes Abendessen mit HPF (Health Point Foundation)-Crew Letztes Abendessen mit HPF (Health Point Foundation)-Crew Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Moria Abschiebezentrum Moria Abschiebezentrum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Mutter mit drei Kindern sammeln Decken, bevor sie auf die Fähre steigen Mutter mit drei Kindern sammeln Decken, bevor sie auf die Fähre steigen Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Olivenbäume um den römischen Aquädukt herum Olivenbäume um den römischen Aquädukt herum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Pakistanischer Mann, kurz vor der Überführung ins Moria Abschiebezentrum Pakistanischer Mann, kurz vor der Überführung ins Moria Abschiebezentrum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Hafen von Mytilene Hafen von Mytilene Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Freiwillige protestieren gegen das Moria Abschiebezentrum Freiwillige protestieren gegen das Moria Abschiebezentrum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Römischer Auqädukt Lesbos 1 Römischer Auqädukt Lesbos 1 Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Römischer Auqädukt Lesbos 2 Römischer Auqädukt Lesbos 2 Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Gute Reise Gute Reise Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Syrische Geschwister beim auf die Fähre warten Syrische Geschwister beim auf die Fähre warten Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Junger Pakistani eingesperrt im Moria Abschiebezentrum Junger Pakistani eingesperrt im Moria Abschiebezentrum Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0