Die Stigmatisierung von Altersheimen in Indien
Der Wandel der Gesellschaft bringt auch viele unerwünschte Situationen mit sich. Die Gesellschaft verändert sich ständig. Der stete Umgang mit diesen Veränderungen ist sicherlich keine leichte Aufgabe. Der Niedergang bzw. das Verschwinden des Konstrukts der Großfamilie in Indien, die durch die Kernfamilie ersetzt wurde, beeinträchtigt die persönliche, finanzielle und gesundheitliche Sicherheit alter Menschen signifikant.
Vor 50-60 Jahren war in Indien das Konstrukt der Großfamilie die Regel, bei dem die Ältesten der Familie nicht nur mit ihren Kindern, sondern auch mit ihren Brüdern, Schwestern, Onkeln und Tanten in nahegelegenen Häusern, zumeist in Dörfern oder Kleinstädten, lebten. Sie alle wohnten nicht weit voneinander entfernt, halfen einander in vielen Belangen und teilten ihre Freuden bei kleinen Familienfeiern oder bei großen Anlässen, wie z.B. Hochzeiten. Und bei einem Notfall, z.B. gesundheitlicher Natur, war immer jemand in der Nähe.
Das führte zu einem gut funktionierenden sozialen Gefüge, und den Ältesten wurde gebührender Respekt entgegengebracht. Dieses System ermöglichte es den Ältesten auch, ein einigermaßen glückliches, von Spannungen freies Leben zu führen, da sie zuversichtlich sein konnten, dass bei Bedarf jemand für sie da war. Gerieten die Ältesten in gesundheitliche Schwierigkeiten, lief die gesamte Familie zusammen, um sich all ihren Bedürfnissen anzunehmen und persönliche sowie medizinische Hilfe zu leisten. Durch das intakte Verständnis für Pflege und Pflichtenaufteilung fühlten sie sich weder vernachlässigt noch einsam. Somit erwies dieses enge, wohl funktionierende Familiensystem vor allem den Ältesten, aber auch allen anderen Familienmitgliedern gute Dienste in Zeiten der Not.
Doch die Großfamilie zerfiel, als die Söhne, Töchter und sämtliche Verwandten aus ihren Geburtsorten in die Städte und Gemeinden migrierten – auf der Suche nach besseren Möglichkeiten wie z.B. Bildung, Arbeit, Karriere, Ehe, modernen Annehmlichkeiten und einem besseren Lebensstil.
Für sie war es schwierig, sich von ihrer Heimat, an der ihre Gefühle, Annehmlichkeiten, ihr Eigentum und ihr Lebensglück hingen, zu lösen und in die Städte zu ziehen. Aber sie brachten Opfer und gingen Kompromisse ein – um ihrer Kinder und um ihrer eigenen finanziellen, gesundheitlichen und sozialen Sicherheit willen. Und so wurden die Weichen für ein neues Lebensmuster der Ältesten gestellt. Soziale Veränderungen wie diese erfordern jedoch zahlreiche Kompromisse und Anpassungen.
Einige ältere Menschen wohnen mit ihren Kindern im gleichen Haus in der Stadt, um ihre finanzielle und gesundheitliche Sicherheit zu gewährleisten. Allerdings leben viele von ihnen allein in einem separaten Haus, während ihre Kinder anderswo in der Stadt leben, um wiederum in der Nähe ihrer Arbeitsplätze zu sein bzw. dort, wo ihre Kinder zur Schule gehen. In solchen Fällen werden die Älteren von ihren Verwandten einmal pro Woche besucht, oder dann, wenn gesundheitliche Probleme es erfordern. Und dann gibt es Fälle, da bleiben die Ältesten allein in der Stadt und die Kinder leben in anderen Städten, um dort zu arbeiten – und ihre Kinder sehen sie nur einmal im Monat oder in einem Notfall. Weiters leben viele ältere Mensche komplett allein in der Stadt, da ihre Kinder ins Ausland gingen, um eine höhere Bildung zu erlangen, zu arbeiten oder aus sonstigen Gründen.
Während die Mehrzahl der älteren Menschen dazu bereit ist, diese Veränderung zu akzeptieren, tun sich andere wiederum damit schwer sich anzupassen und drücken folglich ihre Unzufriedenheit aus – durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt. Wie ich bereits erwähnt habe, legt die indische Gesellschaft großen Wert auf ein enges Familiensystem. Kinder wohnen für gewöhnlich selbst im erwachsenen Alter oder nach ihrer Heirat im Haus der Eltern, was in der indischen Gesellschaft als eine völlig normale und erstrebenswerte Lebensform gilt. Weiters wird es von der indischen Gesellschaft nicht akzeptiert, dass das Kind im Erwachsenenalter von zu Hause auszieht. Deshalb wird die Kernfamilie zwar als eine Notwendigkeit betrachtet, gleichzeitig aber auch als ein unerwünschtes und ungesundes Übel.
So ist in einer solchen Gesellschaft, in der die Abhängigkeit voneinander als essenzieller Teil der familiären Bindung und Verantwortung angesehen wird, die bloße Erwähnung von Altersheimen ein Grund zur Bestürzung und Wut seitens der älteren Menschen. Im indischen Kontext bedeutet die Entsendung der Älteren in Altersheime, dass es niemanden sonst aus der Familie gibt, der sich um sie kümmern könnte und der sie liebt. Sie würden somit in den Heimen sich selbst überlassen.
Altersheime sind in Indien immer mehr zu einem Part des Sozialsystems geworden. Doch der Großteil der alten Menschen dort ist mit dieser Lösung nicht glücklich und fühlt sich verlassen. Diese Heime werden in Indien zudem größtenteils als Waisenhäuser für ältere Menschen gesehen.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna dichen
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37037092213_811a2cbc1b_o | Nithi Anand Folgen | CC BY 2.0 |