„Könige des Waldes“ – der Überlebenskampf der Raute
Im ersten Teil meiner Serie (Die letzten Nomaden in Nepal: die Raute) habe ich das letzte Nomadenvolk in Nepal vorgestellt. In diesem zweiten Teil möchte ich nun mehr über den Lebensstil der Raute erzählen, über ihren Überlebenskampf im Wald, ihre Kultur und Traditionen und ihren Beweggrund, warum sie überhaupt noch im Wald leben.
Das Überleben der Raute wird durch Jagen, Sammeln und Tauschhandel gesichert. Sie sind sehr kluge Menschen und jagen ausschließlich Languren und Makaken. Sie stellen spezielle Netze oder hölzerne „Valas“ her für die Affenjagd. Unter „Vala“ versteht man in Nepali eine lange, dünne, spitze, stabförmige Waffe, die vor allem zum Töten von Wildtieren wie zum Beispiel Affen benutzt wird.
In der Kultur der Raute dürfen nur Männer jagen. Sie sammeln verschiedene Arten von essbaren Wurzeln, Früchten, Gräsern und Blättern aus dem Wald, wie z.B. wilde Yamswurzeln, Erdkartoffeln, Dschungelreben und Beeren. Sie verzehren Fisch, gehen aber nicht selbst auf Fischfang. Raute sind nicht an der Jagd auf Vögel und andere Tiere interessiert, ausgenommen an den oben genannten Affenarten. Sie trinken niemals Wasser aus Teichen, Seen, Handzapfsäulen, Brunnen oder Flüssen. Sie trinken nur das Wasser aus natürlichen Quellen.
Raute sind sehr bekannt für ihre Holzschnitzkunst, die eine lange Tradition in ihrer Kultur hat. Die von ihnen entworfenen Holzgefäße sind derart robust, dass sie jahrhundertelang halten. Dies ist eine der wesentlichen Arten, wie die Raute völlige Unabhängigkeit erreicht und von Generation zu Generation überlebt haben. Die Kunst des Schnitzens von Holzprodukten wird in jeder Generation vom Vater zum Sohn weitergegeben. Alle Holzwaren werden kunstvoll in Handarbeit geschnitzt.
Die Holzprodukte spielen in ihrer Community ebenso eine wichtige Rolle, um die Raute-Kultur zu bewahren. Das Hauptmotiv für das Fällen von Bäumen ist eben die Herstellung dieser Holzprodukte. Raute gestalten verschiedenartige Holzbehälter, die sich in ihrer Form, Struktur und Größe unterschieden, um darin ihre Körner aufzubewahren. Diese tauschen sie für Eisen, Stoff, Getreide und Schmuck. Sie betteln niemals und akzeptieren Essen oder Materialien nicht als Geschenk. Es entspricht ihrem kulturellen Glauben, dass man wohl kämpfen, aber keineswegs betteln solle. Sie handeln niemals mit anderen Holzerzeugnissen, Buschfleisch oder Heilpflanzen gegen Entgelt oder Nahrungsmittel.
In der Kultur der Raute dürfen Frauen nicht mit Fremden außerhalb ihres Volkes kommunizieren, besonders nicht mit Männern. Männer hingegen haben das Recht dazu. In der Gemeinschaft der Raute gibt es einen Führer, der die gesamte Gemeinschaft führt. Der Anführer heißt Mukhiya, Man Bahadur oder Kaji und wird von allen Mitgliedern der Gemeinschaft gewählt, die auch seinen Anweisungen folgen müssen.
Eine nomadische Lebensweise für die Raute zu leben ist wie ein Pfad durch ein Dornengestrüpp. Sie müssen viele Probleme bewältigen, wenn sie im Wald leben. Sie werden oft zur Beute gefährlicher Wildtiere wie z.B. Tiger, Bären und Wölfe. Sie müssen kämpfen, um zu jagen und die Holzarbeiten zu verrichten. Sie müssen mehrere Tage oder Stunden barfuß laufen, um ihre Holzwaren an benachbarte Gemeinden zu vermarkten. Raute werden von vielen Dorfbewohnern und Gemeinschaften in Nepal heftig diskriminiert. Das Fällen von Bäumen ist ihnen untersagt, was jedoch ihre wichtigste Daseinsform ist.
Obwohl Raute keine modernen Methoden der Medizin oder medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen, sind sie der Medizin und dem Geld immer mehr zugeneigt. Zumeist verwenden sie Heilkräuter bei Verletzungen oder Krankheiten. Die nepalesische Regierung drängt die Raute dazu, sich den nepalesischen Gepflogenheiten zu unterwerfen, doch sie weigern sich, ihr Nomadenleben aufzugeben. Sie wollen einfach nur in ihrem Waldleben frei sein und die Bäume im Wald beliebig nutzen dürfen.
Als Berücksichtigung ihrer Lebensumstände gewährt die nepalesische Regierung auch einen monatlichen Zuschuss von 1.000 nepalesischen Rupien (ca. 12,50 Euro) an jeden Einzelnen der Gemeinde. Auf Nepals größtem Festival, dem Dashain, erhalten Raute einen Zuschuss von 10.000 Rupien (ca. 125 Euro) pro Familie zur Feier des Festes. Der Hauptmann des Bezirks, in dem sie sich gerade aufhalten, gewährt ihnen diese Vergütung alljährlich. Raute verwenden dieses Geld für Alkohol, Tabak, Zigaretten und Getreide.
Etliche Organisationen wie die Contemporary Vision Nepal, National Foundation for Development of Indigenous Nationalities etc. arbeiten für die Entwicklung, Förderung und Erhaltung der Raute-Gemeinschaften in Nepal. Die Contemporary Vision Nepal ist die private Nachrichtenmedienorganisation, die ihr Bestes versucht, die Produkte der Raute auf den nepalesischen Märkten zu vermarkten. Es wird angestrebt, die billigen und dekorierten Plastikprodukte auf den Märkten durch die Waren der Raute zu ersetzen. Die Contemporary Vision Nepal produziert auch Videos und Dokumentationen über die Raute, über deren Kultur und ihr Wirken mit dem Ziel der Bewusstseinsbildung.
Die Existenz der Raute-Bevölkerung ist zum bedeutendsten Erbe Nepals geworden. Sie sind die letzten Nomaden dieses Landes. Viele Besucher kommen nach Nepal, um sie zu erforschen. Ich möchte weder einfordern, dass die Raute ihr Leben so leben, wie sie es wollen, noch wünsche ich mir, dass sie sich zu einer modernen Gemeinschaft entwickeln; ich kann lediglich bestätigen, dass die Raute ein wertvoller Schatz für Nepal sind. Wir sollten vielmehr mit ihnen kooperieren und ihnen dabei helfen, zu überleben.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen
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00-Mountain-Nepal- | Elisa Steininger | CC BY-SA 4.0 |