Gaziantep: Wir sind Menschen, keine Zahlen
Gaziantep und Aleppo sind ident. Man könnte meinen, man sei in Aleppo.
Als ich einem meiner syrischen Freunde, den ich auf der griechischen Insel Lesbos kennenlernte, eine SMS schrieb, in der ich nach der monatelangen Zeit fragte, die er sich in Gaziantep aufhielt – das war noch vor seinem Versuch, mit einem Schlauchboot von Izmir nach Europa überzufahren -, lautete seine Antwortet wie folgt:
Gaziantep und die syrische Grenze sind nur 48 km voneinander entfernt. Zwischen Gaziantep und Aleppo liegen 92 Kilometer – also zwei Städte, die nicht nur geografisch, sondern auch historisch, kulturell und wirtschaftlich nahe beieinander liegen. Etwa anderthalb Stunden dauerte die Fahrt von einer Stadt in die andere, bevor der Krieg begann.
Gaziantep und seine Provinz sowie die extreme instabile Situation in Syrien werden auf der Website des italienischen Außenministeriums genau deshalb als gefährlich eingestuft, von einer Reise dorthin wird abgeraten.
Ich habe mich nie wirklich unwohl und unsicher gefühlt, als ich durch die Straßen der Stadt spazieren ging, wenngleich ich zugeben muss, dass mein erster Eindruck von Gaziantep in der Nacht von meinem Fenster im Bus vom Flughafen aus nicht der beste war. Auf der Fahrt vom Flughafen aus entwickelt sich die Landschaft von einem Bild zerstörter Häuser, die mich an Aleppo erinnerten, hin zu einer Vielfalt an Gebäuden, Geschäften und modernen Häusern, die man so nicht erwartet.
Gaziantep und Reyhanli sind die primären Zielzufluchtsorte der syrischen Kriegsflüchtlinge. Gaziantep ist die größte, vermögendste und bevölkerungsreichste Stadt im Süden der Türkei. Und auch jene Stadt, in der die Flüchtlinge sanitäre Hilfe aufsuchen, sobald sie die Grenze überquert haben. Gaziantep zählt 1.889.466 Einwohner, und diese Zahl wird noch weiter steigen. Die Stadt steht unter einem veritablen demografischen Schock, und es kommen täglich neue Flüchtlinge in enormer Geschwindigkeit.
Heute befinden sich 3.285.533 registrierte syrische Flüchtlinge in der Türkei (Quelle: türkische Regierung, 2. November 2017). Die fünf Provinzen an der türkisch-syrischen Grenze – Mardin, Gaziantep, Hatay, Sanliurfa und Kilis – beherbergen etwa die Hälfte davon. Demografisch gesehen sind von den mehr als drei Millionen Flüchtlingen 13,7% zwischen 0 und 4 Jahre alt, 16,2% zwischen 5 und 11, 14,8% zwischen 12 und 17 Jahren alt – davon sind insgesamt 1.468.633 minderjährig. Die Erwachsenen im Alter von 18 bis 59 Jahren machen 51,9% aus, und die älteren Menschen (60+) 3,3%. Dabei sprechen wir hier von den bereits registrierten Personen.
In Gaziantep leben in etwa 400.000 Flüchtlinge – in der Stadt und in den Flüchtlingslagern. Den letzten Angaben zufolge leben 300.000 Menschen in der Stadt und 50.000 in Flüchtlingslagern, weitere 50.000 sind nicht offiziell registriert.
Man kann eigentlich behaupten, dass die syrischen Flüchtlinge in Gaziantep eine Stadt innerhalb der Stadt bilden, das nennt man auch den „syrischen Bezirk“. Der Großteil dieser Menschen lebt im Zentrum von Gaziantep und ist im traditionellen Marktbusiness tätig mit Silber, Baklava, Gewürzen und Bonbons als Handelswaren.
Wenn man einen syrischen Flüchtling fragt, wie sich das Leben in Gaziantep abspielt, antwortet dieser als erstes: „Es ist zu teuer“, und die zweite Antwort lautet: „Sie wollen uns hier nicht, als Syrer fühle ich mich extrem diskriminiert.“
Der Boom des Krieges und die enorme Abwanderung auf der anderen Seite der Grenze haben die Preise und die Lebenshaltungskosten in die Höhe getrieben. Vor allem die Mieten sind in die Höhe geschnellt, und das ist das Hauptproblem für die Flüchtlinge, die heute etwa 20 % der Bevölkerung der Stadt ausmachen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es für sie extrem schwierig ist, einen Job zu bekommen.
Die Eltern sagen zudem, dass es ihren Kindern an Ausbildung mangelt. Weiters bereite es auch Schwierigkeiten, legal arbeiten zu können. Infolgedessen kämpfen sie darum, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Andere Fälle wiederum zeigen, dass die Kinder für die Arbeit gebraucht werden, um überhaupt ein Einkommen beziehen und überleben zu können.
Nicht nur die wirtschaftliche Not, sondern auch die Sprachbarriere stellen die großen Hürden dar: Die Türkei hat eine neue Verordnung erlassen, die es den registrierten syrischen Flüchtlingen ermöglicht, sich für einen Arbeitsplatz zu bewerben; das funktioniert jedoch in der Praxis nicht wirklich, denn die Syrer, die sich registrieren lassen wollen, müssen sechs Monate lang auf Arbeit warten, nachdem sie einen Antrag auf vorübergehenden Flüchtlingsschutz gestellt haben. Bislang können nicht einmal ein Prozent der Millionen von Syrern, die offiziell als Flüchtlinge registriert sind, eine Arbeitserlaubnis beantragen.
Mein Ziel ist es natürlich nicht, über Zahlen und Statistiken zu sprechen. Wir werden in den Nachrichten ständig mit Zahlen bombardiert. Und genau davor habe ich eher Angst, nämlich dass Menschen als bloße Zahlen und Statistiken, die in einem Bericht auftauchen, behandelt werden. Nein, das sind sie nicht. Und es hätte auch uns treffen können, dich und mich, und nicht sie.
Unvorstellbar viele. Und man kann sich auch gar nicht vorstellen, wie oft ich meine syrischen Freunde sagen hörte: „Wir sind keine Zahlen“, und ich mich bemühte, ihnen klarzumachen: „Ja, ich weiß. Ich fühle mit euch. Alles wird gut.“
Auf der anderen Seite brauche ich Zahlen, um einen Kontext herstellen zu können und die Krise zu vermitteln, die dort stattfindet. Direkt vor unseren Augen. Das ist die Realität, von der ich spreche, und es ist dieselbe Realität, die alle Machthaber dieser Welt verleugnen.
Das ist kein europäisches, türkisches oder syrisches Problem.
Fortsetzung folgt …
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Image | Title | Autor | License |
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Gaziantep: Wir sind Menschen, keine Zahlen | Sara Marzorati | CC BY-SA 4.0 | |
Blick auf Gaziantep | Sara Marzorati | CC BY-SA 4.0 | |
Moschee in Gaziantep | Sara Marzorati | CC BY-SA 4.0 | |
Straße in Gaziantep | Sara Marzorati | CC BY-SA 4.0 |