Es kommt fast immer anders, als man plant
Heute war einer der Tage, die nicht zu enden scheinen; ein Tag, der sich wie eine ganze Woche anfühlt, ein Tag, den ich niemals vergessen werde und der einer der besten in meinem ganzen Leben war. Wir haben heute so viele Dinge erlebt und ich habe mich so lebendig gefühlt! Es wird eine Weile dauern, das alles zu verarbeiten.
(Aus: Tanze mit der Magie, die dir begegnet)
Eines Morgens wache ich auf, und das Sonnenlicht streichelt mein Gesicht. Dann aber steigt mir ein scharfer Geruch nach Benzin in die Nase; wir verstecken nämlich den Reservekanister, damit ihn niemand stiehlt. Obwohl ich komplett angezogen bin, ist mir noch immer sehr kalt. Ich möchte eigentlich gar nicht unter der Decke hervorkommen, aber ein schöner und langer Tag wartet auf uns.
Zuerst begebe ich mich auf die Suche nach einem „Waschraum“, der sich in der Nähe des Dhaba befindet. Danach trinke ich genüsslich einen heißen Chai mit einem Omelett-Brot. Da es zwischen Sarchu und Leh nur einen einzigen Zwischenstopp gibt, nämlich Pang auf 4.700 m Höhe, und es aufgrund der Höhenlage nicht empfehlenswert ist, dort auch zu übernachten, haben wir geplant, Leh heute zu erreichen – und Leh ist stolze 250 km von hier entfernt.
Aber wie so oft im Leben läuft es nicht so wie geplant …
Als wir losfahren, ist die Straße recht gut, mit nur wenig Verkehr, sie schlängelt sich auf der einen Seite an den Bergen vorbei, und auf der anderen Seite entlang des Flussufers. Dann sind wir bei den legendären „Gata Loops“ angelangt, die aus 21 Serpentinen auf einer Höhe von 4.190 m bestehen und einen herrlichen Panoramablick über das gesamte Tal bieten. Vor dem Aufstieg halten wir an, machen eine kleine Pause und setzen gleich wieder unsere Fahrt fort. Während der Fahrt erblicken wir links von uns einen Haufen voller Wasserflaschen und gleich daneben einen kleinen Tempel. Wir halten an, um ein Foto zu machen, und fragen uns, was das genau ist. Seltsam ist unser Gefühl, das uns dann bei der Weiterfahrt überkommt.
Als wir den Gipfel der Gata Loops erreichen, legen wir eine Snackpause ein. Während wir die atemberaubende Aussicht genießen, kommen zwei Fahrer zu uns und bitten uns um etwas Wasser und Nüsse, da ihnen wegen der Höhenlage etwas schwindlig zumute sei. Wir geben ihnen, was sie wollen, und fragen sie bei der Gelegenheit, ob sie wissen, warum da so viele Wasserflaschen sind. Nun erzählen sie uns die Geschichte:
Eines Winters vor vielen Jahren blieb wegen des furchtbaren Wetters ein Lastwagen auf den Gata Loops liegen. Der Fahrer ging los, um Hilfe zu holen, aber er musste den Beifahrer zurücklassen, der den Laster bewachen sollte. Eine Woche später kam er zurück, denn das nächste Dorf war 40 km entfernt gewesen und er war in einem Sturm steckengeblieben. Der Wartende war bereits an Kälte und Durst gestorben. Deshalb beschloss der Fahrer, die Leiche gleich dort zu begraben.
Seither passieren seltsame Dinge in dieser Gegend. Reisende, die auf den Gata Loops anhielten, wurden immer wieder von einem Mann angesprochen, der um Wasser bat. Falls sie ihre Hilfte verweigerten, würden ihnen schlimme Dinge widerfahren, wie z.B. die Höhenkrankheit oder sogar der Tod. Diejenigen wiederum, die ihm Wasser gaben, sahen, wie die Flaschen einfach durch seine Hände fielen. Diese merkwürdigen Dinge passierten so lange, bis die Einheimischen an der Sterbestelle ein Denkmal errichteten und Wasserflaschen opferten, um den Geist zu beruhigen …
Das erklärt die merkwürdigen Schwingungen, die ich spürte, als wir die Gata Loops hinauffuhren. Erstaunt von der Geschichte und still geworden setzten wir unsere Pause fort. Wir blickten über die Berge und verloren und in den uralten Pfaden der Seidenstraße.
Weiter geht es mit unserer Fahrt in ein sehr trockenes Tal. Wieder müssen wir in Kehren zum Gipfel (Lachlung La – 5.059 m) hinauf, diesmal allerdings sind diese weitläufiger. Um die Strecke abzukürzen und die Sache etwas abenteuerlicher zu machen, haben ein paar Leute mit Geländewagen Abkürzungen ausgefahren, mit denen eine 1 km lange Kehre leicht auf eine 200 m lange steile Strecke reduziert werden kann. Da diese Abkürzungen sehr verlockend sind, haben wir uns auch für eine entschieden.
Aber leider verkalkulierten wir uns mit der Kraft des Motorrads, der Steilheit und dem Untergrund, der wie weißes Mehl aussieht und sehr wenig Bodenhaftung ermöglicht. Und so bricht das Motorrad aus und beginnt zurückzurutschen – und es kommt zu unserem ERSTEN STURZ. Es geht alles sehr schnell, mir wird schwarz vor den Augen und schon liege ich am Boden. Ich stehe ein bisschen unter Schock, aber trotzdem checke ich sofort ab, ob meine Gelenke heil sind oder ob sogar Blutungen vorhanden sind – zugleich frage ich Sourabh, ob er okay ist. Zum Glück sind wir beide heil – bis auf die Tatsache, dass ich mein Handgelenk verletzt habe und voller Staub bin. Ein LKW-Fahrer, der den Vorfall beobachtet hat, hält neben uns an und erkundigt sich nach unserem Befinden – wir nicken einfach nur.
Das Ganze hätte sehr schlimm ausgehen können – doch wir hatten Glück! Wir setzen unseren Weg fort, sprechen nicht viel, zittern wie Espenlaub und sind nun besonders vorsichtig. Nach Lachlung kommen wir in ein anderes Tal, das trockener ist und eintönig wirkt – große Berge aus feinstem Pulverschnee um uns, die uns ein Gefühl der Einsamkeit vermitteln, aber auch das Gefühl, Teil von DEM GROSSEN GANZEN zu sein. Auch wenn nirgendwo Bäume sind, so sind es die Berge, die mit uns sprechen.
Ein paar Stunden später geraten wir in einen langen Stau. Die eine Seite der Straße wird von vielen Lastwagen blockiert, die diverse Güter zur Versorgung der anderen Dörfer transportieren. Wir fahren an ihnen vorbei, um herauszufinden, was passiert ist. Auf der einen Seite steht ein Fahrrad ohne Fahrer, und auf der anderen Seite auf dem Bürgersteig entdecken wir dunkle Flecken. Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber irgendwie liegt da etwas Ungutes in der Luft. Um die Straße nicht noch zusätzlich zu blockieren, fahren wir weiter. Am nächsten Tag erreicht uns von einem alten Dorfbewohner die Meldung, dass es sich dabei um einen tödlichen Unfall handelte – R.I.P., unbekannter Fahrradfahrer! Obwohl ich diese Person nicht kenne, hat mich dieser Vorfall ziemlich hart getroffen, und ich konnte die nächsten Tage an nichts anderes mehr denken …
Kurz danach müssen wir eine kurze Straße bewältigen, bei der uns bange zumute wird: Sie ist extrem schmal und kurvig, und die Klippe ist sehr steil. So steil, dass ich mich nicht einmal runterzuschauen traue. Ironischerweise weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die schlimmste Straße noch vor uns liegt. Ich versuche, cool zu bleiben, indem ich auf die andere Straßenseite schaue, um so Sourabh, der fährt, nicht zu beunruhigen. Glaubt mir, das war gar nicht angenehm. Nachdem wir diesen argen Hang geschafft haben, halten wir an und fassen uns, um durchzuatmen und betrachten die faszinierenden Felsformationen vor uns.
Bis Pang sprechen wir nicht mehr miteinander. Wir halten an einer Dhaba auf der linken Straßenseite an und bestellen etwas heißen Tee und Essen, obwohl ich gar nicht hungrig bin. Sourabh fühlt sich schuldig, weil es seine Idee war, diese gefährliche Abkürzung zu nehmen.
Es ist schon Nachmittag, und wir entschieden beide, es für heute sein zu lassen und in Pang zu übernachten. Morgen wird es hoffentlich besser laufen.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen