Anarchie – Tabus und Sprachmanipulationen

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Meinung

Eine der grundlegendsten Logikformeln lautet: Wenn A das Gleiche bedeutet wie B, und B das Gleiche wie C, dann müssen A und C ebenfalls bedeutungsgleich sein. Hier liegt die Tücke, wie so oft, im Detail, denn selbstverständlich gilt der Satz nur, wenn wirkliche Austauschbarkeit vorliegt …

Nehmen wir als Beispiel also: Der Löwe ist ein Tier, der Biber ebenso – dann wäre ein klassischer Fehlschluss die Folgerung, dass Löwen und Biber das Gleiche sind. Nun wissen wir bei diesem einfachen Beispiel, dass die Behauptung unrichtig ist, und können den Denkfehler auch benennen: Tier ist ein Überbegriff und die Gleichheit somit nur in eine Richtung gegeben (jeder Löwe ist ein Tier, nicht jedes Tier ein Löwe). Bei abstrakteren Begriffen erkennen wir derartige Logikfehler jedoch viel schlechter. Sie schleichen sich selbst mit den besten Absichten gelegentlich in unsere Denkmuster ein – umso leichter lassen sie sich durch verdeckte Ungenauigkeit und zahlreiche andere Kniffe aber auch noch vorsätzlich und in manipulativer Absicht einsetzen.

Ein prachtvolles Beispiel stellt das Wort „Anarchie“ dar: Wörtlich heißt es Herrscherlosigkeit, wird jedoch beharrlich verwendet, um Chaos und Terror zu beschreiben (selbst der Duden gibt diese falsche Bedeutung unkommentiert wieder) – also ergibt sich in unseren Köpfen die Verknüpfung: Abwesenheit von Herrschaft bedeutet Chaos und Terror. Da dies nicht wirklich auf bewusster Ebene geschieht, ist es umso hartnäckiger in unsere Hirne gebrannt und entzieht sich logischem Hinterfragen:

Wer von Anarchie spricht, muss ein Verrückter mit Gewaltfantasien sein, wer sonst würde sich schließlich Chaos und Terror wünschen?

Wir empfinden Unbehagen und Widerwillen, uns damit zu befassen, wollen als erste Reaktion weghören und uns nicht mit dem Tabu beschmutzen. Wir gehorchen instinktiv und folgsam dem Diktat der Denkverbote.

Diese Verknüpfung haben wir so stark verinnerlicht, dass es uns nicht mehr auffällt, wie einerseits unzutreffend und andererseits perfide zielgerichtet sie ist. Unter den momentanen Umständen (dem Verhältnis von Menschen und Nationen zueinander, dem waffenstarrenden Misstrauen und dem ebenso erbarmungslosen wie toxischen wirtschaftlichen Verdrängungswettbewerb) ist der Zusammenhang ja auch tatsächlich gegeben.

Notwendig in der Natur der Sache liegend ist dies aber keineswegs, schließlich könnte Herrscherlosigkeit ja auch auf ganz andere Weise zustandekommen als durch das plötzliche, ersatzlose Absetzen einer hierarchischen Struktur. Der Zustand, der sich aus solchen gewaltsamen Umbrüchen ergibt, hat im Übrigen einen eigenen Namen (Anomie) und ist daher korrekterweise überhaupt nicht als Anarchie zu bezeichnen. Doch selbst wenn man davon absieht, ist die Gleichsetzung von Herrscherlosigkeit mit Chaos eine ähnliche Denkfalle wie unser Beispiel vom Löwen:

Im Chaos gibt es keine Hierarchie, aber nicht jeder Zustand ohne Hierarchie bedeutet Chaos.

Was jedermann felsenfest glaubt, wird aber zu der Realität, die wir durch die Summe unserer Handlungen selbst schaffen. So legen uns solch irreführende Glaubensmuster geistige Fesseln an und hindern uns daran, in bestimmte Richtungen zu denken. Im Fall der Verbindung von Herrscherlosigkeit (oder, anders ausgedrückt, Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit) mit Gefahr und Sittenverfall sind wir, schlimmer noch, sogar daran gehindert, überhaupt wie Erwachsene zu denken. Es müsse doch, so meinen wir reflexartig, eine Autorität geben, die uns sagt, was wir zu tun haben. Sonst nehmen uns die größeren Kinder die Schaufel weg. Sonst gibt es nichts zu essen. Wir verbergen diese beschämend primitiven Ängste hinter allerlei aufgeblasenen Begriffen und schmücken sie mit philosophischem Beiwerk – letzten Endes sprechen wir aber von nichts anderem als kindlichen Ängsten und einem kindlichen kollektiven Selbstbild.

Dies kann kaum überraschen, betrachtet man unsere lange Tradition in der Anwendung von Erziehungsmethoden, die den Willen des Kindes gezielt brechen und damit sein Heranwachsen zu einem moralisch denkenden und eigenständig urteilenden, souveränen Erwachsenen unterbinden. Wer als Kind Unterordnung und unbedingten Gehorsam gegenüber der Autorität der Erwachsenen verinnerlichen muss –  kritiklos und ohne jemals zu hinterfragen -, der ist zu ewiger emotionaler Unreife verurteilt.

Eigene moralische Entscheidungen wurden ihm ja selbst noch in Gedanken verboten – also kann es nicht anders kommen, als dass dieser Mensch als Erwachsener wiederum nach einer Autorität sucht, der er sich unterordnen und an die er damit alle moralische Verantwortung abgeben kann. Es wurde mir doch befohlen, ich musste es tun. Es wurde doch über meinen Kopf hinweg entschieden, ich musste es hinnehmen.

Mehr noch: Ich darf den Konsens nicht brechen, den Kaiser nicht als Nackten bloßstellen, den Status Quo nicht anzweifeln, mir kein Urteil herausnehmen. Freilich wird über dieses oder jenes „erlaubte“ Thema gezetert, ventiliert und geschimpft – allerdings erst, wenn jemand mit den passenden Eigenschaften als Gallionsfigur zur Verfügung steht, dem man sich in koketter Beinahe-Rebellion im Schutz der Masse unterordnen kann.

Die wirklich tiefgreifenden Probleme werden jedoch schlichtweg ignoriert, bagatellisiert oder gar geleugnet. Wir wissen und spüren alle – egal aus welchem Lager – dass bei unserer Gesellschaftsordnung, bei unseren Prioritäten, Prinzipien und Werten etwas nicht stimmt. Und doch fühlen wir uns nicht kompetent, die Gegebenheiten moralisch treffend zu beurteilen, oder glauben dem Erstbesten, der uns als Antwort auf unser Unbehagen ein Feindbild anbieten kann, das unsere tiefsitzenden Prägungen nicht ins Wanken bringt. Man kann uns einreden, dass alles im Großen und Ganzen in Ordnung ist, dass wir falsch liegen mit unserem Gefühl, dass etwas Gigantisches, Unbenennbares und sehr Ungerechtes geschieht.

Diese Denkverbote und -gebote gilt es (neben vielen anderen Aufgaben) zu durchbrechen, wollen wir als Menschheit unser Kreuz ablegen und das Leben wieder feiern, anstatt es zu ertragen – die eigenartige Empörung angesichts eines so naheliegenden Konzepts wie jenem, dass kein Mensch von einem anderen beherrscht werden sollte, weist indes klar auf eines der größten Denkverbote überhaupt hin.

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