Was zum Henker mache ich hier?
Die Stadt
Kennst du das, wenn du eines Tages in der überfüllten U-Bahn zur Arbeit fährst: Passagiere bereiten sich schon eine Station vorher zum Aussteigen vor mit der Floskel „Steigen Sie aus?“ Der bärtige Mann neben dir macht überlaute glottale Sounds in sein Handy. Der Hackler hinter dir trinkt sein Reparaturseidl, das Volksschulkind vor dir hat sich schon seit Längerem die Haare nicht gewaschen und mittendrin bist du, um sieben Uhr in der Früh.
Du suchst nach Frischluft, die im Drei-Minuten-Takt dein Nasenloch streift, weil ein paar Sitze weiter ein Fenster-Aufklapp-Zuklapp-Krieg herrscht; ich weiß es nicht. Das Fass zum Überlaufen bringen die Schwarzkappler, die ein altes Mutterl wegen dem Pensionistenausweis sekkieren, weil sie anscheinend zu wenig Falten im Gesicht und zu wenig graue Haare auf dem Kopf hat.
In diesem Moment denkst du dir: Was zum Henker mache ich hier?
Irgendwann kommst du mit Müh und Not in der Arbeit an. Der Deutschkurs beginnt. Die Sonne scheint. Das Fenster muss geschlossen bleiben, weil unten eine Hauptverkehrsstraße vorbeiführt. Bei offenem Fenster beträgt die akustische Umweltverschmutzung auf einer Skala von 1 bis 10 den Wert 10. Für die Klimaanalage ist es zu kalt. Die Hitze wird unerträglicher und kommt dem Feeling einer Sauna gleich. Nichtsdestotrotz müssen die Übungen gemacht und die Grammatik verstanden werden.
Mittagspause. Aus Zeitgründen hast du keine Jause von daheim mitgenommen. Der Hausverstand sagt dir: Leberkassemmel, die Speicheldrüsen springen drauf an. Die Füße tragen einen in den nächsten Supermarkt. Hast du dich schon mal gefragt, wie lange so ein Leberkastrip dauert? In der Regel nicht mal fünf Minuten. Aber nicht in einer Großstadt. In einer Großstadt musst du mit einer Kassenschlange rechnen. Diese tückische Kassenschlange kennt keine Gnade. Sie besteht aus einem Kopf: der Kassiererin. Und einer riesenlangen Zunge, die je nach Einkauf in Form von Rechnungen gezeigt wird. Geräusche macht sie auch hin und wieder: „Kassa bitte!“ Wenig später ertönt eine Glocke, danach passiert nichts. Erst beim fünften Mal öffnet eine zweite Kasse. (Das war höchstwahrscheinlich der Grund, warum jetzt immer mehr autonome Kassen entstehen.) Zurück zum Thema: Diese Schlange kann dir mitunter bis zu fünfundvierzig Minuten deines Lebens rauben.
In diesem Moment denkst du dir: Was zum Henker mache ich hier?
Nach der Arbeit wiederholt sich das Szenario vom Morgen, mit dem einzigen Unterschied, dass die Olifaktorik den rustikal-orientalischen Geruch von Curry, Knoblauch und fermentiertem Kompost wahrnimmt. Der letztere Geruch läutet eindeutig den Winter ein, denn das Häferl mit der Aufschrift „Christkindlmarkt“ hat‘s verraten. In der Wohnung angekommen, setze ich mich auf den Balkon, der zum Innenhof gebaut ist, mit der Naivität, dass ich mich entspannen kann.
Vielleicht findest du in dieser Situation Schutz vor Abgasen und Elektrosmog, nicht aber vor der akustischen Umweltverschmutzung. Im Erdgeschoss sind die Fenster weit offen, jedes Mal. Und jedes Mal, am Abend um dieselbe Uhrzeit (nur werktags), stöhnt die Nachbarin hin und her. Er ist leise. Bis auf ein einziges Mal, da sind sie laut Geräuschekulisse vom Bett gefallen. Im dritten Stock wird geschrien. Ein Nachbar baut Hanfpflanzen auf seinem Balkon an. Das stört offensichtlich den Nachbarn aus dem ersten Stock, der sich im Hof kaum auf allen Zweien halten kann und alkoholisiert hinauf schreit: „Scheiß Marijuana-Pflanzen. Des is illegal. Prost!“
In diesem Moment denkst du dir: Was zum Henker mache ich hier?
Wie heißt es immer so schön: Aller guten Dinge sind drei. Und beim dritten sich wiederholenden Gedankengang beginnt auf einmal etwas, dich zu bewegen. Du denkst wirklich nach. „Am Land ist es billiger“, sagen meine Freunde immer. „Das Essen is besser, die Luft is frischer und du hast a Ruah“, sagen meine Freunde immer. Na dann, versuchen wir unser Glück. Innerhalb von zwei Monaten habe ich tatsächlich ein Angebot gefunden. Erstbezug, Richtung Westen, ca. 60 km von der Großstadt entfernt.
Der Umzug steht bevor, ich hatte knapp einen Monat Zeit, um alles für mein Exil zu organisieren. Wenn du in einer Gemeindewohnung wohnst, ist es gar nicht so einfach, „Tschüss“ zu sagen. Du musst beachten, dass deine Wohnung „sauber“ bzw. „besenrein“ zurückgegeben wird. Nach dem Durchlesen der Rückgabebedingungen geht daraus hervor, ich müsse die Wohnung noch sauberer und perfekter zurückgeben, als ich sie erhalten hätte. Du musst beachten, dass die Post nachgesendet wird. Du musst beachten, dass du überall deine Adresse änderst. Du musst beachten, dass du innerhalb eines Monats ausziehst. Du musst beachten, dass du dich abmeldest, ummeldest oder gar neu anmeldest. In einer Großstadt ist das schon ganz spezifisch. „Welcome to Kafkaland“, heißt die Devise, Passierschein A38. Bürokratie über Bürokratie über Bürokratie:
- Kündigung des Mietvertrags (einmonatige Frist)
- Nachsendeauftrag bei der Post
- Vertragskündigungen beim Strom- und Wärmeversorger einreichen
- Versicherungspolizzen ummelden
- Internet ummelden
- Umzugsunternehmen checken (im Nachhinein ist es besser, Familie, Freunde und Bekannte dafür zu engagieren)
Nachdem die Totes-Holz-Maschinerie in Gang gesetzt wurde, verfiel ich in so eine Art Umzugs-Meditationsphase, die mich dieses Ganze durchstehen ließ. Wie viel Tonnen Papier geht bei so etwas eigentlich drauf?
Fortsetzung folgt.