Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses
Später dann, außerhalb der hölzernen Palisaden in den Eingeweiden des kulissenhaften Wildwestdorfes, war es schwierig, sich durch die Ansammlungen der Autogrammjäger zu drängen, vorbei an den großen Augen von Kindern, deren devotes Verhalten mir ein bisschen Angst machte. Dann ging ich mit Sam Hawkins, Old Firehand, Kleki Petra und noch ein paar Indianern und Siedlern ins Wirtshaus, um leidenschaftlich das Erzeugnis zu genießen, das dem Weinviertel seinen Namen gab.
(Aus: Stolpern am Weg zum Erwachsenwerden)
Obwohl wir eine Riesengaudi hatten, war ich ein bisschen verstört durch die Art, wie mit der ganzen Sache umgegangen wurde und wie eine rein fiktionale Handlung solche Gefühle in den Menschen hervorrufen konnte. Ich wusste überhaupt nichts über die indianische Kultur und Denkweise, war aber ständig umgeben von Menschen, die so taten, als wüssten sie Bescheid – und zwar auf der Basis äußerst zweifelhafter literarischer Informationen.
Und so kündigte ich nach der zweiten Saison, nachdem ich mir darüber klar geworden war, dass ich von nun an nur noch bei Inhalten mitmachen würde, die der Realität näher waren – und auch näher an meinem Zuhause. Die Indianersache trat zusammen mit verschiedenen anderen pubertären Verrücktheiten in den Hintergrund, nachdem sie das Publikum beeindruckt hatte, und ritt davon in den Sonnenuntergang. Ich packte nicht einmal das Buch „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ ein, diese tief bewegende und historisch wertvolle Darstellung des Genozids, die ich (neben Rilke und Sartre) auf meinem Nachttisch liegen hatte, als ich mich auf meine nächste schicksalhafte Reise begab.
Meine Londoner Jahre nahmen ihren Anfang während eines Tauchurlaubs auf einer winzigen Insel im Indischen Ozean, bei dem ich meine zukünftige Londoner Gastfamilie kennenlernte. Hier sei nur so viel gesagt: Zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer fand ich mich mit einem Wohnsitz in Brondesbury Park wieder, eingeschrieben an einer exzellenten Schule in West Hampstead und ein verrücktes, aber hochproduktives Künstlerleben führend in der Mutter aller großartigen modernen Städte.
Es war vier Uhr nachts, als das Telefon läutete im Flur des Apartments im oberen Stockwerk, das ich mir mit einigen anderen teilte. Aus dem Bett torkelnd, stolperte ich über die Yucca, rannte ein Bücherregal um und schaffte es so, alle diejenigen aufzuwecken, die das rappelnde Telefon nicht eh schon rabiat aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Anruf war tatsächlich für mich: „Hey, Amigo, was glaubst du, wer in dein altes Zimmer eingezogen ist?“ Die Stimme von Hugo, meinem ehemaligen Vermieter und Arbeitgeber in Österreich, dröhnte leicht angeheitert in meinem Ohr. „Es ist… ein bisschen zu früh… Hugo, was ist los?“ Ich wollte einfach auflegen. „Es ist Jim Pepper!“, lachte er. „Was, mein Jim Pepper??“ Ich dachte, er hätte den Verstand verloren. „Ja ja! Warte, ich geb ihn dir…“ Es gab eine Pause mit statischem Geknister, dann eine langsame, tiefe Stimme, die sich ein bisschen erschöpft anhörte nach einer langen Nacht, aber freundlich lächelte: „Hallo, ich mag das Buch, das du liegengelassen hast. Ich werde eine Zeitlang hier sein, wir sehen uns!“
Hugo hatte eine Weile eine Bar und einen Jazzclub in Mödling, einer Kleinstadt südlich von Wien, betrieben und mir und Harti dabei geholfen, ein Jazzfestival in unserem Dorf auf die Beine zu stellen. Als die Dinge mit meiner Familie zu kompliziert für mich geworden waren, hatte er mir einen Schlafplatz gegeben, seine Kinder zum Babysitten sowie einen Job in seinem Club.
Am Morgen kaufte ich meine Tickets, und ein paar Tage später betrat ich durch die immer offen stehende Innenhoftür das Wohnzimmer des Hauses in Breitenfurt. Da stand Jim, in Boxershorts. Zwei plärrende Kleinkinder, Dorina und Dario, baumelten von seinem Arm und seinem Hals, sein langes, grau-silber-weißes Haar flog überall herum.
„Ich freue mich, dass du da bist“, sagte er.
Wir ignorierten die Kinder für eine Weile und zündeten uns Zigaretten an. Irgendeine Einleitung war nicht nötig. Ich bat ihn, sein Saxophon zu spielen, und er machte es tatsächlich, gleich an Ort und Stelle. Die Kinder beruhigten sich, und ich weinte und lachte. Am späten Nachmittag kam Hugo nach Hause, später kam noch das Toni Waldron Trio dazu, und der sich anschließende Abend dauerte zweieinhalb Tage. Meine Erinnerung ist lückenhaft, doch als das Sonnenlicht den Horizont am dritten Tag durchbrach, saßen wir alleine auf der alten Holzbank, merkwürdig nüchtern trotz des Brandys in unseren Gläsern, und er sagte mit einem breiten Lächeln: „Eines Tages wirst du bei meinem Volk sein.“
Ein paar Tage später bat er mich, ihn zum Krankenhaus zu bringen für ein paar Kontrollen und Medikamente. Ich erfuhr, dass er eine tödliche Krankheit hatte und ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Darüber war nie gesprochen worden. Für das letzte Konzert in Hugos kleinem Club kamen alte Freunde von überall her. Hugo, Harti und ich übernahmen die Bar, und obwohl es rammelvoll war jenseits aller Kapazitäten, floss alles in einer perfekten Trance dahin. Die Leute sangen die indianischen Texte zu Jims Songs. Einmal stoppte er mitten in einem Song aus dem Album „Comin‘ and Going“, aber das Publikum sang einfach weiter. Jims tränenerfüllte Augen und sein Lächeln waren hinter dem langen Haar versteckt, das in der rauchgefüllten Luft hin und her schwang, als er schweigend ein wenig tanzte.
Jim setzte seine Tour fort und spielte seine Musik, bis er ein Jahr später starb.
Bleibt dran: Der nächste Artikel dieser Serie kommt bald …
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
Credits
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Begrabe mein Herz am Wounded Knee | Bryan Pocius | CC BY 2.0 |