Die Tabuisierung der Vergänglichkeit
Die westliche Verbannung des Todes
Dass das Leben irgendwann endet, ist eine vollkommen aus unserem Alltag verbannte Tatsache. Jeder Hinweis, jede Erinnerung daran wird fortgeschoben, versteckt und abstrahiert. Selbst zum Kochen bestimmtes Fleisch, Ausdruck der Körperlichkeit und des Sterbens anderer Wesen, kommt neutral und augenschonend portioniert aus dem Supermarkt, so herausgelöst und getrennt von dem Tier, dessen Fortbewegungsapparat es einst angehörte, dass viele Stadtkinder nicht wissen, dass sie Teile von Lebewesen essen.
Alter und Krankheit sind aus unserem komfortablen Zuhause ausgesperrt, wir gehen ins Spital, um krank zu sein, und ins Altersheim, um zu sterben. Viele von uns haben in ihrem Leben noch niemals eine menschliche Leiche gesehen und verbinden damit Entsetzen, Abscheu und Angst.
Neue Verknüpfung
Das Sterben ist einerseits Tabu, in abgewandelter Form jedoch aufdringlicher Dauergast, wird es doch in endlosen Variationen jeden Abend in unsere Wohnzimmer gesendet … Vom Massensterben in den Nachrichten bis zur allabendlichen Mörderjagd in zahllosen Krimiserien, von wild um sich ballernden Actionhelden über epische Fantasy-Schlachtszenen voll Blut und Knochensplitter bis hin zu geistesgestörten Lustmördern und Kannibalenfamilien und schließlich, in einer meist sehr verdrehten Version von Spiritualität, in Form übernatürlicher Gruselgeschichten über hungrige Leichen und rachedürstige Geister – Tod ist Spektakel und voyeuristisches Vergnügen. So unwirklich wie Drachenfeuer, so unpersönlich wie jede andere Massenware.
Unsere Kinder sehen Tausende stylisch aufbereitete Morde und Gewalttaten, während sie heranwachsen, aber keinen einzigen friedlich entschlummerten realen Menschen. Ein Ende darf es scheinbar nur im Fernsehen geben, wo man umso cooler ist, je ungerührter man die Gewaltorgien beobachten kann.
Jugendkult
Stattdessen sind wir vollkommen besessen von der körperlichen Makellosigkeit junger Erwachsener und dem Wunsch, diese Jugendlichkeit mit aller Macht beizubehalten – mit all den seltsamen Blüten, die dieser Wahn treibt. Mit der Möglichkeit, körperliche Makel entfernen zu können, ist plötzlich auch der Druck gegeben, es zu tun. Schon beginnen hier und dort bestimmte Prozeduren, zum guten Ton zu gehören, Schönheit ist noch mehr als früher zum Statussymbol geworden. Wer sich keine geraden und schneeweißen Zähne leisten kann, kennzeichnet sich als Angehöriger der Unterschicht.
Pfirsichhaut und Modelfigur, dichtes Haar, volle Lippen und symmetrische Gesichtszüge … All das ist käuflich und somit praktisch Teil der Körperpflege für Betuchte geworden. Altersflecken, schlaffe Haut und Arthritis haben in dieser Puppenstube voller Idealkörper keine Daseinsberechtigung mehr. Unser Schönheitsideal ist gerade erst aus der Pubertät entkommen, die tausendfach abgebildeten und bewunderten Models sind oft sogar noch jünger, und die Anstrengungen, die allenthalben unternommen werden, um Erwachsenenkörper künstlich in ewiger Jugend zu erhalten, werden immer bizarrer.
Gesundheit und langes Leben
Nun will ich keineswegs dafür plädieren, dass man sich mit Alterserscheinungen wie Senilität, Schmerz und Krankheit abfinden und diese in Demut und Leidenswilligkeit als natürlichen Weg des Lebens anerkennen muss. Die Suche nach einer Heilung für die Greisenkrankheit ist ein notwendiges Ziel, da wir mittlerweile einen viel größeren Teil unseres Lebens in Altersschwäche verbringen, als wir mit jugendlicher Frische gesegnet sind. Ein langes Leben in Gesundheit ist nicht nur für den Einzelnen wichtig, um neue Erfahrungen zu machen und ohne geistigen Verfall zumindest eine kleine Chance auf den Erwerb von etwas Weisheit zu haben. Es stellt uns auch gesellschaftlich vor große Herausforderungen, wenn die Anzahl an gesunden Mitgliedern kleiner als die der Hilfsbedürftigen wird. Die Denkschule, nach der es uns nicht zustehe, dem Alter etwas entgegenzusetzen, kann nicht funktionieren, wenn das Resultat Heerscharen schmerzgeplagter, seniler Kranker sind, die noch vierzig Jahre dieser Qual vor sich haben.
Was der Tod uns lehren könnte, wenn wir es nur zuließen
Wer schon einmal vor der unabänderlichen Tatsache gestanden hat, dass das Leben endet, dass der Tod keine abstrakte Angelegenheit, keine Erfindung, nicht der Stoff von Märchen und Actionfilmen, sondern unser aller Schicksal ist, dem wurde nämlich unweigerlich bewusst, dass Reichtümer uns nicht begleiten können. Ob danach noch etwas kommt oder auch nicht, die letzten Jahre, in denen das Herannahen des Endes zur Gewissheit zu werden beginnt, können sehr verschieden verlaufen, je nachdem, worauf man sich in seinem Leben konzentriert hat. Wer es sich zum Ziel gemacht hat, um jeden Preis immer mehr und mehr Geld anzuhäufen, steht plötzlich vor seinem Lebenswerk und erkennt, dass es wertlos ist.
Wir schieben den Gedanken an das Ende als morbid zur Seite, während in Wirklichkeit nichts dem Leben näher sein könnte als das Bewusstsein, wie kostbar die Endlichkeit es macht.
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Alte Hände | marina guimarães | CC BY-SA 2.0 |