Seva: Das selbstlose Dienen

Sunrise,_Dinajpur,_Bangladesh
Meinung

Die hinduistische Dharma-Tradition fokussiert sich vor allem auf die innere Selbstverwirklichung mit dem Ziel, den Status der Einheit mit der göttlichen Macht zu erreichen. Dies wird von den meisten Menschen als eine Herangehensweise von innen nach außen betrachtet. Doch ein näheres Verständnis hinduistischer Philosophie würde erhellen, dass der Pfad zur inneren Verwirklichung ganz unterschiedlich sein kann.

Nach der indischen Philosophie kann man auf drei verschiedenen Wegen zur Einheit mit dem Göttlichen gelangen:

„Yoga“ bedeutet wörtlich „Einheit“, gemeint ist die Einheit des Selbst mit der göttlichen Macht. Welchem dieser Wege man auch folgt, das finale Ziel ist das selbe: das Erreichen dieser Einheit zwischen dem Selbst und der göttlichen Macht.

Ein Anhänger des Bhakti-Yoga, des Weges der Hingabe, singt den Namen Gottes und meditiert über das Göttliche in der Hoffnung, so die Einheit mit der höchsten Macht erreichen zu können. Dagegen wird der Weg des Karma-Yoga oder der Weg der richtigen Taten vor allem durch das Konzept des „Seva“ manifestiert.

Der Begriff „Seva“ kommt aus dem Sanskrit und meint „uneigennütziges Dienen“: eine Arbeit, die ohne den Gedanken an irgendeine Belohnung ausgeführt wird. In der Vedischen Philosophie wird ein Dienst an den Menschen als ein Dienst an Gott angesehen. Daher gibt es in Indien den festen Glauben, dass man durch die Praxis des Seva spirituellen Gewinn erlangen kann.

Ich habe nicht die Absicht, hier die verschiedenen Wege zum Erreichen transzendentaler Erfahrungen von Spiritualität zu erläutern. Doch ich möchte erklären, wie solche spirituellen Vorstellungen für humanitäre Ziele genutzt werden und dazu beitragen können, die Welt zu einem Ort der Uneigennützigkeit zu machen.

Zu meinem Entsetzen gibt es jedoch viele Menschen, die die Idee des Seva völlig falsch verstehen: Sie sehen es als einen Weg an, den Segen des Allmächtigen zu erlangen und für ihre Sünden zu büßen. Daher sind diese Menschen sehr enthusiastisch gegenüber dem Seva, sich dessen wahrer Bedeutung aber überhaupt nicht bewusst.

Andere, die Seva praktizieren, sehen es als einen Akt der Großzügigkeit an. Sie glauben, es helfe ihnen, eine bessere Person zu werden, die ihren Reichtum und ihre Zeit ohne irgendeine Erwartung für das Wohlergehen anderer hergeben kann. Doch auch diese Gruppe von Menschen ist von ihrem verfälschten Verständnis des Seva in die Irre geführt worden. Sie schaffen es normalerweise nicht, die wirklichen Vorteile, die Seva ihnen schenken kann, zu erfahren.

Ich möchte die Vorteile, die es für die Bedürftigen bringt, gar nicht bestreiten. Auch ein verzerrtes Verständnis des Seva dient einem Zweck: Viele Menschen engagieren sich im Sinne des Seva enthusiastisch in philathropischen Projekten, von denen die Armen und Bedürftigen profitieren. Dennoch wäre es ungerecht, wenn wir die weitreichende Vorstellung des Seva ausschließlich auf den Zweck, Bedürftigen zu helfen, beschränken. Seva soll beiden Seiten einen Vorteil bringen: dem, der es ausführt, und dem, der davon profitiert. Man kann sogar sagen, dass Vorteile für Bedürftige, die aus dem Prozess des Seva hervorgehen, nur eine Art Nebenprodukt sind. Wenn sich irgendjemand im Sinne des Seva engagiert, werden zwangsläufig andere Menschen davon einen Vorteil haben, doch ein gestörtes Verständnis des Seva führt oft dazu, dass nur eine Seite die Vorteile genießt.

Der letztendliche Sinn des Seva ist es, uns zu lehren, das Göttliche in allen Kreaturen zu sehen. Es ist kein Akt der Menschenfreundlichkeit oder ein Weg, Sünden zu verbüßen. Seva ist vielmehr ein Weg, die Einheit aller Geschöpfe zu erkennen und die Fähigkeit zu entwickeln, alle Menschen und alle anderen Kreaturen als eine Erweiterung des Selbst anzusehen. Es ist ein Dienst nicht nur für andere, sondern auch für einen selbst. Wenn Seva mit diesem Verständnis durchgeführt wird, ist es immer eine transzendierende Erfahrung.

Wann immer wir etwas für uns selbst tun, tun wir es mit größter Ehrlichkeit und Hingabe. Doch wenn wir etwas für andere tun, beginnen unsere Hingabe und Ehrlichkeit normalerweise irgendwann zu wanken. Seva verlangt, dass wir anderen so dienen wie uns selbst – oder dass wir anderen so dienen, wie wir Gott dienen würden. Und wer diese Fähigkeit entwickelt, sich selbst in anderen zu sehen und andere in sich selbst, ist bereits mit dem Göttlichen vereint. Kurz gesagt befähigt Seva uns, das Göttliche in denen zu sehen, denen wir dienen.

Ich möchte behaupten, dass Seva – mit dem richtigen Verständnis und der richtigen Absicht ausgeführt – uns hilft, zu wahrer Menschlichkeit zu finden. Es formt sowohl unseren Geist als auch unseren Körper. Es filtert unseren Denkprozess und emanzipiert uns von der festen Umklammerung des Egos. Denn wir sind Opfer unseres Egoismus; unsere heutige Kultur lehrt uns, Individualisten zu sein. Sie lehrt uns, dass für den Erfolg das „Ich“ immer vor dem „Wir“ kommen soll. Und es scheint, als ob wir das zu ernst genommen hätten. Daher erleben wir nun all das Leid und das Desinteresse, das unsere Welt quält.

Seva kann diese starke Bindung an das Ich und die völlige Gleichgültigkeit gegenüber anderen Kreaturen auf sanfte Art lösen. Es kann uns achtsam machen gegenüber unserer Einheit mit allen Geschöpfen um uns herum, nicht nur mit den Menschen. Ich nehme es als eine Übung an, andere so lieben zu lernen wie ich mich selbst liebe; anderen so zu dienen, wie ich mir selbst dienen würde; all die Unterteilungen in soziale Klassen und Glaubensrichtungen zu vergessen, die uns die Gesellschaft über die Jahrhunderte gelehrt hat, und die natürliche und wundersame Verbindung zwischen allen Geschöpfen zu erkennen.

Wir alle wünschen uns eine bessere Welt, frei von den Krankheiten, die aus der Gier der Menschen nach Profit, Gewinn und Erfolg hervorgegangen sind. Doch behandeln wir nicht seit Langem nur die Symbole dieser Gebrechen? Es scheint, als seien wir gar nicht an der Heilung dieser Krankheiten selbst interessiert.

Wenn wir Seva zu einer Kultur machen würden, würden dann nicht viele der Schwierigkeiten, die die Menschheit quälen, von selbst verschwinden? Wenn wir lernen könnten, uns selbst in allen Geschöpfen um uns herum zu sehen, würden sich dann nicht die Probleme mit dem Missbrauch der Tiere und der Umwelt mit der Zeit einfach auflösen?

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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Sunrise,_Dinajpur,_Bangladesh Sunrise,_Dinajpur,_Bangladesh Jubair1985 CC BY-SA 4.0