Das Ende oder der Beginn von etwas Neuem
Das Gefühl „Wow, du hast es zum Everest-Basislager geschafft!“ hat sich in mir noch nicht wirklich durchgesetzt. Ich fühle keinen Unterschied, aber ich glaube, die Veränderung wird sich mit jedem Tag nach und nach stärker zeigen, und ich werde die Dinge realisieren, die mich dank dieser faszinierenden Trekkingtour geformt und verändert haben …
Am Morgen, als ich vom Fenster meines Schlafraumes aus die Sonne hinter den hoch aufragenden Gipfeln aufgehen sehe, fühlt es sich an wie ein Neubeginn. Es fühlt sich an wie das Ende von etwas und der Beginn von etwas Neuem, fast so, als hätte ich all meine Ängste, Sorgen und negativen Gefühle im Basislager zurückgelassen – ich bin einfach nur voller Glück und Dankbarkeit. Es ist ein schöner Tag, genau das Gegenteil von gestern: Am Himmel ist nicht eine Wolke zu sehen, und all die Berge, die gestern vom Nebel verdeckt waren, erstrahlen in ihrer ganzen Pracht.
Nun weiß ich endlich, nun realisiere ich zum ersten Mal, dass WIR ES GESCHAFFT HABEN! Plötzlich habe ich ein Feuerwerk in meinem Gehirn, und eine Vielzahl von Gedanken und Gefühlen steigt in mir auf …
All die Schwierigkeiten, die wir auf dem Weg hatten, all der Schmerz und die Erschöpfung, die wir am Abend gespürt haben, all die Tage ohne Dusche und sauberen Trinkwasser und all die mentalen und physischen Herausforderungen, die wir zu bewältigen hatten – all dies war es absolut wert, weil es mir gezeigt hat, dass alles möglich ist, wenn du nur daran glaubst!
Es bedeutet viel, wie du die Dinge siehst. Nehmen wir das Everest-Basislager als Beispiel: Für viele ist es der Endpunkt, das finale Ziel, der Punkt, für den sie sehr hart gearbeitet haben. Für viele andere aber ist es erst der Beginn ihrer Reise, einer schwierigen und gefährlichen Reise zur Eroberung des Gipfels – des höchsten Punkts der Erde.
Für mich ist es der Endpunkt, für andere aber der Ausgangspunkt, für mich ist es die Grenze, für andere ein Anfang. Man muss also immer sich selbst betrachten und nicht andere – die eigenen Siege und Niederlagen betrachten, denn es wird da draußen immer jemanden geben, der besser ist, aber auch jemanden, der nicht so gut ist …
Ich habe es schon zuvor in meinen Texten erwähnt, und ich sage es noch einmal: Ich glaube, es ist ein Missverständnis, dass es bei sogenannten „Into the wild“-Erlebnissen um Selbstfindung geht. Ich glaube, dass es viel mehr darum geht, sich selbst auf dem Weg zu erschaffen, indem man sich Situationen aussetzt, mit denen man nie zuvor konfrontiert wurde, in die Natur eintaucht, seine Stärken, seine Grenzen und seine Willenskraft austestet und sie auch akzeptiert.
Noch viel mehr geht mir durch den Kopf, doch haben einige der Gedanken noch keine endgültige Struktur. Also ziehe ich mich an, packe meine Tasche und gehe nach unten zum Frühstück. Wir – die Inder und ich – verlassen Gorak Shep gemeinsam und machen uns auf den Weg nach Phablu, dem Ausgangspunkt unserer Wanderung. Was dort mit zwei getrennten Gruppen begonnen hatte, endet mit zwei vereinten Gruppen und einem starken Band zwischen Leuten aus unterschiedlichen Teilen dieser Welt. Besser hätte ich es mir nicht vorstellen können!
Ich bedanke mich bei allen, denen ich während dieser aufregenden, lebensverändernden Reise begegnet bin und die meine Seele auf die eine oder andere Art berührt haben!
Nach dem Frühstück gehe ich nach draußen und sehe noch einmal zum Mount Everest hinüber, ich mache ein mentales Foto und sauge alles in mich auf. Aus einiger Entfernung höre ich jemanden „chalo, chalo“ rufen, was auf Hindi „los jetzt“ oder „lasst uns gehen“ bedeutet. Ich nehme also noch einen tiefen Atemzug, drehe mich um und gehe los. Ich gehe los zu etwas Neuem und zu einer heißen Dusche – endlich!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
Credits
Image | Title | Autor | License |
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Sonnenaufgang | Isabel Scharrer | CC BY-SA 4.0 | |
Das Ende oder der Beginn von etwas Neuem | Isabel Scharrer | CC BY-SA 4.0 |