Freiheitsrecht: bewusstseinstheoretische Grundlagen

Vitruvianischer_Mann
Gesellschaft

Es gibt zwei Probleme, die ich stets hatte bei der Lektüre der allgemeinen Menschenrechte. Und das sage ich, ohne deren unabdingbare Bedeutung in irgendeiner Weise anzweifeln zu wollen.

Erstens, die Theorie:

Sie schienen mir, in einer gewissen Art in einem tiefen Sinne der Notwendigkeit zu entbehren, und in ihrer Konkretheit war es mir nicht möglich, ein allgemeines Prinzip als deren Grundlage zu entdecken.

Sie schienen also, bei allem unendlichen Respekt, mehr gut gemeint als zwingend in ihrer prinzipiellen Schärfe.

Zweitens, die Umsetzung:

Nicht einmal diese wünschenswerten, wenngleich vielleicht verbesserungsfähigen Grundsätze des allgemeinmenschlichen Zusammenlebens werden gewöhnlich verbindlich eingehalten, was besonders auf globaler Ebene offenbar ist.

Sie sind zu viel Bekenntnis, zu viel ideologischer Überbau und dabei zu wenig unmittelbar verbindliche und notwendige Grundlage für alles konkrete Recht.

Im Folgenden will ich den kurzen Versuch wagen, ein tiefenhumanistisches allgemeines Menschenrecht als Freiheitsrecht zu skizzieren als die Minimalbedingung allen menschlichen Zusammenlebens: Denn das Naturrecht des Menschen ist das Recht der Freiheit. Und „die Freiheitsfähigkeit des Menschen erfordert entsprechende Ordnungsstrukturen.“1 Es hat mich dabei immer wieder begeistert und fasziniert, wie viel konkrete Postulate sich mit Notwendigkeit von den philosophischen Grundlagen her folgerecht aufweisen lassen.

Ich glaube hier an die Radikalität der Vernunft und hoffe, dass bei eingesehener wissenschaftlicher Notwendigkeit dieser Grundsätze der unmittelbar handlungsweisende Druck auf die Organisation unserer Gesellschaften bedeutend wächst, d.h. dass mit aus Prinzipien notwendiger Theorie auch deren praktische Umsetzung enorm befördert werde!

Als Beginn der modernen Philosophie nun gilt gewöhnlich in der Philosophiegeschichte die sogenannte ‚Kopernikanische Wendedurch Immanuel Kant. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hat er als den Ausgangspunkt aller kritischen (d.h. prüfbaren) Philosophie die Reflexion auf das eigene Bewusstsein selbst bestimmt.

In seinen Worten heißt das: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.“ Es bedeutet im Grunde, dass ich die Dinge der Welt als Vorstellungen in meinem Bewusstsein erkenne.

Es bedeutet, dass ich erkenne, dass ich niemals trennen kann zwischen dem Gehalt meiner Vorstellungen und meiner eigenen Bewusstseinstätigkeit. In meinem Bewusstsein erkenne ich mich selbst, und es spiegelt sich darin das ganze Universum. Und diese Einheit von Bewusstseinsvollzug und Bewusstseinsgehalt ist unhintergehbar.2

Diese grundlegende Einsicht in die Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins birgt nun weitreichende Konsequenzen. Zuerst – aber das sei in unserem Zusammenhang nur am Rande erwähnt – erkennen wir den Menschen als „geiste[n] Fokus des Universums“, um ein Wort Hegels aus dem Aufsatz „Glauben und Wissen“ zu zitieren.

Nochmals:
Im menschlichen Bewusstsein spiegelt sich der ganze Kosmos. Das Bewusstsein selbst ist Unendlichkeit.

Theologisch gesprochen: Der Mensch ist die größte Offenbarung Gottes auf Erden, und jede Religion, die nicht im tiefsten Sinne humanistisch ist, verfehlt ihren eigentlichen Auftrag. Zweitens aber, und das ist für uns ausschlaggebend,

begründet die Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins zur Selbstbegleitung die menschliche Fähigkeit zur Freiheit.

Alle menschlichen Vermögen sind eine Folge dieses einen Fundamentalvermögens zur Selbstbegleitung! Und weil ich, zumindest implizit, in jedem Moment meines Lebens, Handelns und Wahrnehmens weiß, dass ich es bin, der lebt, handelt und wahrnimmt, weil ich in diesem Sinne mir selbst stets zusehe und mich in meinem Bewusstsein selber begleite, kann ich mein Handeln auch selber regulieren. Selbstbewusstsein bzw. Selbstbegleitung (der oben erwähnte Ausgangspunkt aller kritischen Philosophie) ist praktisch Freiheit!3

Das bedeutet freilich keine abstrakte und absolute Freiheit, die völlig losgelöst wäre von der Welt, in der ich lebe. Freiheit ist, praktisch und konkret, die Fähigkeit eines jeden Menschen zur Selbstregulierung. Und dabei steht er von Beginn an in Kontakt mit der Umwelt, mit Dingen und vor allem: mit anderen selbst freiheitsfähigen Wesen, mit anderen Menschen, die ebenso auf ihn einwirken wie er auf sie. Wir können die menschliche Fähigkeit zur Freiheit im Sinne einer Selbstregulation also als dynamische „Selbstbestimmung-im-Bestimmtwerden“4 verstehen, als eine lebendige Wechselwirkung.

Die menschliche Freiheitsfähigkeit und die unendliche Tiefe des menschlichen Bewusstseins aber begründen die unbedingte und unantastbare Würde eines jeden menschlichen, d.h. bewusstseinsfähigen Wesens. Es ist selbstverständlich, dass weder Geschlecht noch Rasse, noch Herkunft oder Religion oder irgendeine andere Bedingtheit hierbei eine Rolle spielen. Hier ist jeder Mensch gleich und gleichwertig, bei und auch aufgrund aller individuellen Einzigartigkeit.

Die unbedingte Würde des Menschen ist immer auch eine unbedingte Selbstzweckhaftigkeit. Das heißt, wie schon Immanuel Kant eingesehen hat: Menschen sind immer als Zweck an sich selbst wahrzunehmen und niemals nur als Mittel zu gebrauchen. Unter kollektiver Perspektive, weil wir Menschen von Beginn an mit anderen Menschen koexistieren und menschlich zusammenleben, bedeutet das bereits: dass auch die menschliche Gemeinschaft oder Gesellschaft bereits als ein Zweck an sich selbst anzusehen ist und theoretisch keines weiteren – äußeren – Zweckes bedarf.

Ferner aber folgt aus der unbedingten Selbstzweckhaftigkeit eines jeden einzelnen menschlichen Individuums: dass jede Vereinigung der Menschen zu irgendeinem gemeinsamen Zweck (und das ist auch der Selbstzweck der Gemeinschaft) niemals diese unantastbare Bedeutung und Würde jedes einzelnen Individuums der Vereinigung für den gemeinsamen Zweck absorbieren darf. Das bedeutet grundsätzlich: Es darf weder auf individueller Seite noch auf kollektiver, gemeinschaftlicher Seite jemals ein Übergewicht oder eine Einseitigkeit geben!

Nicht die Gemeinschaft ist wichtiger als die Individuen, noch dürfen die individuellen Wünsche und Bedürfnisse abstrakt über das Gemeinsame gestellt werden! Nur eine dynamische Einheit dieses vermeintlichen Gegensatzes von Individualität und Gemeinschaft ist wirklich menschengemäß, und jede Überbetonung, ob individualistischer oder kollektivistischer Art, ist ideologische Verzerrung!

Nachdem wir nun die Grundlagen erläutert und bereits einen kurzen praktischen Ausblick gegeben haben, beschäftigt sich die Fortsetzung dieses Artikels mit konkreten praktischen Postulaten als den humanistischen Minimalbedingungen allen menschlichen Zusammenlebens.

Dieser Artikel basiert zu großen Teilen auf einer eigenen, bisher noch unveröffentlichten wissenschaftlichen Studie zu „Aktualität und Grenzen der Kantischen Freiheitsphilosophie“.

Literaturhinweise:
1 Johannes Heinrichs: Revolution der Demokratie. Eine konstruktive Bewusstseinsrevolution. Zweite, aktualisierte Auflage. Sankt Augustin 2014, S. 32.
2 Vgl. Johannes Heinrichs: Integrale Philosophie. Sankt Augustin 2014, S. 22ff.
3 Vgl. Heinrichs: Revolution der Demokratie, S. 78.
4 Heinrichs: Logik des Sozialen, S. 39.

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