„From One Second to the Next“ und „Lo and Behold“

Werner_Herzog_2009
Meinung

Das „Film Archiv Austria“ veranstaltete vom 12. Jänner bis 1. März 2017 eine Retrospektive zu Ehren von Werner Herzog, dem selbsternannten „Soldaten des Kinos“, und präsentierte viele seiner besten Werke im altehrwürdigen Metro Kinokulturhaus. Zwei seiner Werke, nämlich „From One Second to the Next“ und „Lo and Behold: Reveries of the Connected World”, habe ich mir bereits angesehen und darf sie euch hier als Zusammenfassung mit anschließender persönlicher Meinung präsentieren.

In Amerika hat das Schreiben von Textmeldungen während des Autofahrens epidemische Ausmaße angenommen. „From One Second to the Next“ aus dem Jahr 2013 behandelt genau dieses Thema auf schockierende und mahnende Art und Weise, indem sowohl Opfer als auch Täter ihre tragischen Geschichten erzählen.

„Lo and Behold: Reveries of the Connected World“ aus dem Jahr 2016 widmet sich einer der zweifelsohne wichtigsten technologischen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit: dem Internet.

From One Second to the Next

X-MAN

Milwaukee, Wisconsin: Valetta, die Mutter des achtjährigen Xzavier, erzählt uns von einer Zeit, als ihr Sohn vor Energie nur so strotzte und kaum zu bremsen war. Das war vor seinem Unfall. Seither ist Xzavier, auch liebevoll X-Man genannt, querschnittgelähmt und muss durchgehend künstlich beatmet werden. Sein Rollstuhl verfügt über eine Maschine, die es ihm erlaubt, für kurze Strecken mobil zu sein.

Die restliche Zeit ist er an sein Bett „gefesselt“, an dessen Seite die stationäre Beatmungsmaschine rund um die Uhr im Einsatz ist. Valetta sitzt oftmals nächtelang in der Nähe dieser Maschine, denn sie hat panische Angst, dass sie aufhören könnte zu funktionieren.

Aurie, Xzaviers ältere Schwester, erzählt die Ereignisse jenes schicksalhaften Tages, als ihr Bruder ihr aus der Hand gerissen wurde, während sie Hand in Hand eine Straße überquerten.

Die Lenkerin des Fahrzeuges, welches Xzavier erfasste, hatte keine Chance, rechtzeitig abzubremsen, denn ihre volle Aufmerksamkeit galt dem Verfassen eines Textes auf ihrem Smartphone. Die Nachricht lautete: Ich bin auf dem Weg. Mit Tränen in den Augen erzählt Valetta: „Ich würde sie gerne fragen, ob sie es rechtzeitig geschafft hat.

A Letter from Martin

Bluffton, Indiana: Der junge Familienvater Chandler Gerber erzählt uns seine Geschichte aus der Täterperspektive. In der Ortschaft, in der er wohnhaft ist, leben viele Amische (eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft), welche großen Wert auf Gemeinschaft und Abgeschiedenheit legen. Darüber hinaus gilt die Kutsche als ihr bevorzugtes Fortbewegungsmittel für weite Strecken – im modernen Straßenverkehr ein hoffnungslos unterlegenes Vehikel, wie sich in Kürze herausstellen soll.

Auch Gerber war an einem verhängnisvollen Tag, während er sein Auto auf der Landstraße lenkte, zu sehr mit dem Verfassen einer Textnachricht auf seinem Smartphone beschäftigt und fuhr ungebremst hinten in eine Kutsche von Amischen hinein. Drei Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben.

Das Ausmaß dieser Tragödie übersteigt jenes des jungen Xzavier im vorangegangenen Kapitel insofern, als dass es sich hier bei den Opfern um drei Kinder im Alter von zwei, drei und siebzehn Jahren handelt. Der Polizist, der an diesem Tag zum Unfallort herbeigerufen wurde, schildert die Szenerie im Detail, und es ist ihm anzusehen, dass es ihm auch jetzt noch schwer zu Herzen geht.

Chandler Gerber hingegen macht über die gesamte Dauer des Interviews einen bemerkenswert ruhigen, gefassten Eindruck – vielleicht hat es damit zu tun, dass er kurz nach seinem Verschulden einen Brief des Vaters (Martin Schwartz) der drei Kinder erhielt, in dem ihm dieser erklärt, dass sie zwar alle traurig seien ob des schmerzhaften Verlustes, sie aber das gottgegebene Schicksal annehmen und ihr Leben ohne Hass und Schuldzuweisung weiterleben wollen.

Gerbers Botschaft ist klar und deutlich: Bitte schreibt während eurer Autofahrt keine Texte auf eurem Smartphone …

Our Sister Debbie

Colchester, Vermont: Debbie Drewniaks Leben hat sich von einer Sekunde auf die andere grundlegend verändert, als sie eines Tages, während sie vor ihrem Haus mit ihrem Hund spazieren ging, plötzlich von einer jungen Autolenkerin angefahren wurde.

Auch diese Autolenkerin schenkte dem Straßenverkehr nicht die nötige Aufmerksamkeit, die er eigentlich verdient – eine Textnachricht auf ihrem Smartphone war ihr zu diesem Zeitpunkt wichtiger. Debbie Drewniak kam zwar mit dem Leben davon, kommt aber seither nicht mehr ohne ganztägige Betreuung aus. Debbies jüngere Schwester Elizabeth und ihr Bruder Karl sind größtenteils für diese intensive Betreuung zuständig.

Elizabeth und Karl erzählen vor laufender Kamera, zum Teil unter Tränen, die herzbrechende Geschichte von Debbie und dass sie bis zum heutigen Tag nicht in der Lage ist, der Autolenkerin zu verzeihen.

Denn auch wenn Debbie diesen Unfall überlebte, ihr treuer Weggefährte Charlie hatte nicht so viel Glück: Ihr Hund, mit dem sie am besagten Tag spazieren ging, erlag noch am Unfallort seinen Wunden.

Reaching for the Stars

Logan, Utah: Megan O’Dell steht neben einem Sternwarten-Teleskop und bemüht sich, ihre Tränen unter Kontrolle zu halten, als sie dem Filmteam die tragische Geschichte ihres Vaters erzählt, welcher unlängst im Zuge eines Verkehrsunfalles gemeinsam mit einem Kollegen sein Leben verlor. Er war Wissenschaftler der Astronomie und verbrachte mit seiner Tochter unzählige Stunden damit, durch das Teleskop das Himmelsfirmament zu beobachten.

Es folgt ein Szenenwechsel, im Bild erscheint Reggie Shaw. Ein junger Mann mit schwermütigem Blick und gedämpfter Stimme erzählt von seinem Alltagsleben und seinen Vorlieben. Eine dieser Vorlieben ist das Texten. Ein weiterer Szenenwechsel findet statt, und John Kaiserman stellt sich uns in der Erscheinung eines Cowboys vor: Schwarzer Cowboyhut, direkt hinter ihm ein gesatteltes Pferd, der Rest des Bildes zeigt eine eingezäunte Weidefläche.

John ist Schmied von Beruf und kann technologischen Dingen nur wenig abgewinnen. Umso weniger nach den Ereignissen, die sich vor Kurzem abgespielt haben und in denen er unfreiwillig eine zentrale Rolle gespielt hat.

Szenenwechsel. Polizeibeamter Chad Vernon erzählt den Hergang des fatalen Autounfalls. An einem verregneten frühen Morgen fahren auf derselben Landstraße Reggie mit seinem Auto in eine Richtung und Megans Vater mit seinem Auto, in Begleitung eines Kollegen, in die andere. Als sie auf gleicher Höhe sind, kommt Reggie leicht von seiner Fahrspur ab – er war gerade mit dem Verfassen einer Textnachricht beschäftigt – und streift seitlich das herankommende Auto von Megans Vater, welches dadurch ins Schleudern gerät und vom nächsten Auto, das unmittelbar hinter Reggie folgt, gerammt wird. John Kaiserman ist der Lenker dieses Fahrzeuges.

Chad Vernon zeigt Bilder dieses Aufpralls und lässt keinen Zweifel daran übrig, dass jede Hilfe nur zu spät kommen konnte.

John Kaiserman kommt wie durch ein Wunder, lediglich mit ein paar gröberen Blessuren, mit dem Leben davon. Reggie Shaw ist seitdem von tiefen Schuldgefühlen geplagt, und Megan leidet unter schweren Albträumen. Megan erzählt, wie sehr sie Reggie Shaw lange Zeit dafür gehasst hat, dass er ihr den geliebten Vater genommen hat. Zum Wohle beider entschloss sie sich dann doch irgendwann, Reggie Shaw zu verzeihen – eine versöhnliche, herzliche Umarmung dieser zwei Personen stellt die Schlussszene dieses Kapitels dar.

Reggie Shaws unmissverständliche Botschaft an uns: „Texte nicht, während du mit dem Auto fährst!

Fazit

„From One Second to the Next“ hat mich tief berührt. Normalerweise müssen Schauspieler viel Energie und Talent an den Tag legen, um reale Emotionen über die Leinwand transportieren zu können, speziell wenn es um tragische Szenen geht – den wenigsten gelingt dies auch. Ganz anders verhält es sich bei diesem Dokumentarfilm, denn die Protagonisten müssen nichts spielen, sie müssen lediglich wiedergeben, was leider unglückerweise zum fixen Bestandteil ihres Lebens geworden ist. Musikalisch perfekt untermalt, ist dieses Werk ein gelungener Augenöffner.

Lo and Behold: Reveries of the Connected World

Regisseur Werner Herzog nimmt uns mit auf eine Reise durch die fantastische Geschichte des Internets. Auf dieser Reise begegnen uns mehrere namhafte Größen, die entscheidend bei der rasanten Entwicklung des Internets mitgewirkt haben, wie wir es heute kennen.

Die Reise beginnt an der UCLA (University of California, Los Angeles), wo Professor Leonard Kleinrock uns den Raum zeigt, in dem die erste protokollierte Übertragung einer Nachricht zwischen zwei geografisch weit entfernten Rechnern stattfand. Die Nachricht erscheint im Verhältnis zur Tragweite des Ereignisses eher unspektakulär: „LO“. Eigentlich hätte die vollständige Nachricht „LOG“ heißen sollen, doch der Empfänger-Rechner stürzte nach dem Erhalt der ersten zwei Buchstaben unglücklicherweise ab.

Kurz darauf wurde das erste größere Netz in Amerika in Betrieb genommen – ARPANET. Vincent Cerf und Bob Kahn kamen drei Jahre nach der Entstehung von ARPANET zu ansehnlichem Ruhm, als sie das TCP (Transmission Control Protocol) entwickelten, ein Protokoll, das den flüssigen, geordneten Informationsaustausch zwischen Rechnern überhaupt erst möglich machte und bis heute im Einsatz ist.

Als Nächstes bekommt Ted Nelson, ebenfalls ein Pionier der Internetentwicklung, die Gelegenheit, um uns von seiner ganz persönlichen Vision des Internets zu berichten, welche leider nie umgesetzt werden konnte, da das World Wide Web einen anderen Weg einschlug.

Adrien Treuille, Professor für Informatik, zeigt mit seinem Computer-Puzzlespiel „EteRNA“, das darauf abzielt, dass Menschen weltweit spielerisch neue RNA-Moleküle erfinden und damit einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft leisten, eine weitere segenreiche Nutzungsmöglichkeit des Internets.

Sebastian Thrun, ehemaliger Vizepräsident von Google, berichtet von seinen Erlebnissen, als er noch Professor für künstliche Intelligenz an der Stanford University war. Zu diesem Zeitpunkt galt er bereits als sehr erfolgreich – wenigen wurde damals die Ehre zuteil, einen Saal mit 200 Menschen unterrichten zu dürfen. Eine geradezu lächerliche Zahl im Vergleich zu den 160.000 Studierenden, die er zu jener Zeit schon über das Internet ansprechen und unterrichten konnte. Sebastian Thrun sieht zweifellos eine komplett maschinell gesteuerte Zukunft auf uns Menschen zukommen.

Nächster Halt: Carnegie Mellon University, wo uns ein Mitarbeiter Fußball spielende Roboter vorstellt, die spätestens im Jahr 2050 in der Lage sein sollten, die dann amtierenden Fußballweltmeister zu besiegen.

Ein weiteres Kapitel ist der dunklen Seite des Internets gewidmet. Eine Familie schildert die Kehrseite der unkontrollierten Informationsverteilung über das Internet: Eine Tochter der Familie Catsouras verunglückte tödlich bei einem Autounfall. Behörden vor Ort wollten den Familienmitgliedern den Anblick der Verunglückten ersparen und händigten auch kein Bildmaterial aus. Jedoch dürfte einem der Fotografen dieser nötige Respekt gefehlt haben, denn kurze Zeit nach dem Unfall tauchten plötzlich doch Fotos im Internet auf.

Herzog führt uns weiter in eine abgelegene Gegend, in der es im Umkreis von 15 Kilometern keinen einzigen Funkturm gibt. Ein Zufluchtsort für Menschen, die auf Funkwellen jeglicher Art allergisch reagieren, und zugleich ein Ort, an dem nach Leben im All geforscht wird – die Hintergrundstrahlung vom eigenen Planeten auf ein Minimum zu reduzieren, ist für dieses Vorhaben essenziell.

Da Internetsucht ein mittlerweile anerkanntes Krankheitsbild und weit verbreitet ist, wundert es nicht, dass Herzog auch dieser Thematik einen fixen Platz in seiner Produktion einräumt. „Restart“ heißt eine Institution, die in Amerika Süchtigen als Therapieort zur Verfügung steht, und zwei der zum Zeitpunkt des Drehs dort untergebrachten Patienten waren Willens, ihre Geschichte zu erzählen.

Ein weiterer Szenenwechsel ereignet sich und zeigt eine Wissenschaftlerin der Astronomie, die uns erklärt, was es mit dem Carrington Event auf sich hat und warum so ein Event das Ende des Internets bedeuten kann. Kevin Mitnick, ein Held in der Computerhacker-Szene, darf in Herzogs Film über seine Abenteuer mit dem FBI sprechen und stellt klar: Die größte Schwachstelle ist immer der Mensch. Ein Mitarbeiter des Regierungsunternehmens „Sandia National Laboratories“ gibt Einblicke in die Verwundbarkeit vernetzter Waffensysteme und gibt sich Mühe, nicht zu viel über dieses heikle Thema zu offenbaren – der Name „Titan Rain“ blieb am Ende des Gesprächs im Raum stehen.

Viel Sprechzeit erhält Elon Musk, bekannt als Gründer von PayPal, Chef von SpaceX und Tesla Motors, in Herzogs Werk: Er spricht über seine Vision einer baldigen Besiedelung des Mars und warum er es so eilig damit hat.

Die nächste Station heißt Pittsburgh, bekannt durch seine Roboterindustrie, welche der Staat kurz vor der Pleite wieder reanimierte. Dort wird uns in einer Fabrik „CHIMP“ vorgestellt, ein Roboter, der im begrenzten Maße fähig ist, selbst zu denken und sich selbst zu testen, erdacht und entwickelt für Einsätze an für Menschen lebensbedrohlichen Orten, wie z.B. Fukushima.

Namhafte Firmenlogos wie Shell, Honeywell oder Amazon zieren die Außenhaut des Roboters und verraten gleichzeitig das enorme Potenzial dieses Industriezweiges. Im vorletzten Kapitel, „The internet of me“, meldet sich jemand zu Wort, der Internet und Computer definitiv als negativen Einfluss auf den Menschen sieht:

Sie seien die Feinde des menschlichen kreativen Denkens.

Letzter Szenenwechsel. Im Jahre 2015 gab es das „Wikipedia Emergency Project“, das zum Ziel hatte, den Inhalt von Wikipedia auf Papier auszudrucken. Der vollständige Inhalt von Wikipedia war damals in 91 Büchern zu je 700 Seiten abbildbar. In der Schlusssequenz des Filmes werden ein paar Personen gefragt, wie das Internet der Zukunft aussehen könnte und ob sich sowas wie eine globale künstliche Intelligenz a la „Skynet“ (aus dem Film: „Terminator“) anschicken könnte, die Menschheit zu kontrollieren:

Alles ist möglich, nichts ist gewiss. Das Internet ist bereits außer Kontrolle. Man darf gespannt in die Zukunft blicken.

Fazit

„Lo and Behold: Reveries of the Connected World” besticht durch eine witzige, abwechslungsreiche Komposition, welche mich sowohl auf sachlicher als auch emotionaler Ebene ausgeglichen stimuliert hat. Die Wortmeldungen aller Personen waren nicht zu lang und auch nicht zu kurz. Speziell die Überlegungen zu zukünftigen Entwicklungen haben mir große Freude bereitet, weil niemand es wagte, sich mit übertriebenen Prognosen zu weit aus dem Fenster zu lehnen.
Demut und Zurückhaltung scheinen zumindest in der IT-Welt etwas weiter verbreitet zu sein.
Bildlich und musikalisch eine gelungene Kreation.

Für beide Werke gilt: Prädikat – sehenswert!

Credits

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Werner_Herzog_2009 Werner_Herzog_2009 Nicogenin CC BY-SA 2.0