Als Ärztin in Nepal: Einzigartige Erfahrungen

Die Kindergruppe, die mich am Morgen begleitete
Lebenswelten

Heute beim Aufwachen bin ich extrem müde, weil ich wegen der Hitze in der Nacht nicht schlafen konnte. Ich zwinge mich aus dem Bett, ziehe meine Laufsachen an, schalte meine Musik ein gehe raus.

Dieses Mal entscheide ich mich dazu, die Felder entlang zu laufen, in Richtung des Flughafens. Als ich das Gebäude verlasse, kann ich spüren, wie mich alle ansehen, aber ich versuche, das soweit wie möglich zu ignorieren. Für die Einheimischen sehe ich wahrscheinlich aus wie jemand vom Mars, weil in dieser Gegend sonst niemand joggen geht.

Nicht einmal fünf Minuten, nachdem ich losgelaufen bin, höre ich Kinderlachen hinter mir, und gleich darauf ist da eine Gruppe von Kindern – zuerst drei, dann fünf, rasch sind es sieben und am Ende neun -, die mir folgen und neben mir herlaufen.

Sie greifen nach meiner Hand und beginnen, Fragen zu stellen. Es scheint der Höhepunkt des Tages für sie zu sein. Ich freue mich, dass ich sie zum Lachen bringen kann, aber ich will auch mein Workout zu Ende bringen. Ich laufe und spiele eine Weile mit ihnen und entschließe mich dann, schneller zu werden, um sie abzuhängen. Eins oder zwei sind wirklich schnell und können noch eine Weile mithalten, aber bald geraten auch sie außer Atem.

Ich winke ihnen aus der Ferne, beende mein Workout und kehre zurück, um mich für das Frühstück fertigzumachen. Mit zehn Kindern zu joggen war ein einzigartiges Erlebnis für mich, und ich glaube, ich werde mich daran gewöhnen müssen, wenn ich mit meinem morgendlichen Sportprogramm weiter machen will…

Normalerweise ist das Frühstück meine liebste Mahlzeit, aber heute gibt es nur ein paar Cornflakes zusammen mit ein paar trockenen Nudeln von gestern Abend. Die Kombination aus Cornflakes und trockenen Gemüsenudeln macht diese Mahlzeit zu meinem zweiten einzigartigen Erlebnis heute – ich habe zuvor nicht im Traum daran gedacht, sowas auszuprobieren.

Aber wer bin ich, dass ich darüber klagen könnte? Immerhin ist das ein anderes Land mit anderen Gewohnheiten. Ich frage mich, welche einzigartigen Erlebnisse dieser Tag noch bringen wird …

Einzigartiges Frühstückserlebnis: Nudeln mit Cornflakes

Als ich zum Krankenhaus gehe, bereite ich mich mental auf einen Tag voller Überraschungen und neuer Erfahrungen vor. Während unseres morgendlichen Rundgangs lerne ich einige neue Patienten kennen, die in der letzten Nacht aufgenommen wurden.

Rundgang am Morgen. Neugierige Menschen spähen von draußen durchs Fenster

Ich möchte euch von drei verschiedenen Patienten erzählen, deren Geschichten mich am meisten berührt haben:

Die erste Patientin ist ein dreizehnjähriges Mädchen; sie kam gestern Abend hierher und ist so dünn, dass man buchstäblich ihre Knochen sehen kann. Was noch mehr schockiert: Sie sieht aus, als ob sie schwanger sei. Zum Glück ist das aber nicht der Fall. Ihr Bauch ist extrem aufgedunsen, weil sie an Aszites leidet, einer Krankheit, bei der sich Flüssigkeit in der Bauchhöhle sammelt. Ich habe schon zuvor Fälle von Aszites gesehen, aber niemals in diesem Ausmaß und NIE bei einem so jungen Mädchen!

Ich frage mich, was sie denkt. Was geht ihr durch den Kopf? Was glaubt sie, läuft falsch mit ihr? Hat sie Angst?

Sie sieht definitiv so aus, als ob sie extrem verängstigt sei und Schmerzen habe. Ihr Vater ist bei ihr, weil ihre Mutter vor einigen Jahren gestorben ist. Sie hatten einen langen Weg zum Krankenhaus – mehr als drei Tage zu Fuß. Ihr Vater hat lange darüber nachgedacht, ob er seine Tochter zu uns bringen sollte oder nicht; ein Grund dafür ist, dass er noch zehn andere Kinder hat, die er alleine zu Hause lassen musste, und ein anderer, dass er einfach kein Geld hat, um die Behandlung zu bezahlen.

Vielleicht verschlechterte sich der Zustand seiner Tochter so sehr, dass er schließlich nicht mehr anders konnte, als Hilfe zu suchen. Glücklicherweise hat das Krankenhaus derzeit so viele Spenden erhalten, dass es den weniger Bevorteilten eine kostenlose Behandlung und kostenloses Essen anbieten kann. Die Patienten bekommen Reis und Linsen, müssen aber selbst kochen.

Die Regierung von Nepal hat die Richtlinie aufgestellt, eine kostenlose Gesundheitsfürsorge bereitzustellen, aber oft ist einfach nicht genug Geld da, um alle zu behandeln und die Armen mit Essen zu versorgen.

Ich habe das Glück, meine Freiwilligenzeit an einem Krankenhaus zu verbringen, das derzeit in der Lage ist, allen zu helfen; es ist berührend zu sehen, wie dankbar diese Patienten sind. Nach der körperlichen Untersuchung des Mädchens erzählt mir der Arzt, dass der Vater schon vor zwei Monaten mit seiner Tochter zum Krankenhaus gekommen sei. Das Mädchen wurde auch aufgenommen, doch dann entschied sich der Vater entgegen den Rat der Ärzte, das Krankenhaus wieder mit ihr zu verlassen. Deswegen hat sich der Zustand seiner Tochter entscheidend verschlechtert. Hoffentlich kann das Chaurjahari-Team ihr diesmal die nötige Behandlung geben, damit es ihr bald wieder besser geht.

Der zweite Patient ist ein zehnjähriger Junge, der sich bei einem Sturz von einem Baum einen offenen Bruch seines rechten Arms zugezogen hat. Seine Mutter ist Witwe und Hausfrau mit zwei Kindern. Sie hat keine Küche zur Verfügung und ein Einkommen von nur etwa 250 Nepalesischen Rupien (ca. 2,15 Euro) pro Tag.

Weil sie so arm sind, entschied sich die Mutter, zunächst nicht zum Krankenhaus zu gehen. Erst als das ganze Dorf Geld dafür gesammelt hat, willigte sie ein. Zum Glück – wer weiß, was sonst mit dem armen Jungen passiert wäre.

Er ist schon seit mehr als einer Woche im Krankenhaus, weil seine Wunde noch regelmäßig gereinigt werden muss. Seine Mutter, seine Großmutter und seine jüngere Schwester sind mit ihm hier, weil ihr Dorf zwei Tagesmärsche entfernt ist. Nach einer Weile wird auch seine Mutter sehr krank, und so müssen sie noch länger hierbleiben. Das ist ein Problem, denn es ist Erntezeit, und sie haben niemanden, der sich um ihre Felder und ihre Ernte kümmern kann. Ich habe den Jungen schon oft gesehen, er hat immer einen sehr traurigen Gesichtsausdruck und lächelt kaum.

Manchmal allerdings, besonders wenn ich singe (obwohl mein Gesang wirklich nicht so toll ist), schaffe ich es, ihn ein bisschen zum Lächeln zu bringen. Selbst wenn es nur für eine Minute ist, lenkt es ihn von seinen Schmerzen ab. Er wird wahrscheinlich noch einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen, aber ihm wird es bald besser gehen, und das ist, was zählt.

Der dritte Patient ist ein Mann mittleren Alters, der vor einigen Tagen ins Krankenhaus gekommen ist. Er leidet an einer bakteriellen Hautinfektion, einer Cellulitis, die zu einem Geschwür an seinem Unterschenkel geführt hat. Seit einigen Tagen versuchen die Ärzte, die Einwilligung seiner Familie zu erhalten, um das Bein zu öffnen und den Eiter abzuleiten, sodass es heilen kann.

Aber da alle mit den landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt sind und die Familie weit entfernt lebt, konnten sie bisher nicht kommen. Heute traf sein Sohn ein, aber er ist minderjährig und musste daher von einem Polizisten begleitet werden. Nach nepalesischem Recht kann ein Minderjähriger allerdings keine Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung geben. Das Chaurjahari-Team ist gezwungen, noch einen weiteren Tag auf die Ankunft seiner Angehörigen zu warten.

Ich hoffe, dass sie bald eintreffen, denn wenn zu viel Zeit vergeht, läuft er Gefahr, sein Bein zu verlieren. Der Patient ist trotz seiner schwierigen Situation extrem freundlich und scheint sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Er dankt allen für ihre Bemühungen und verabschiedet sich nach der Visite mit einem Lächeln vom medizinischen Personal.
Ich erzähle von diesen Fällen, um euch einen Einblick in die Probleme zu geben, mit denen die Menschen in den Hügeln Nepals täglich zu kämpfen haben. Dinge, die für uns ganz normal sind, so wie ständiger Zugang zu medizinischer Hilfe oder drei Mahlzeiten am Tag, sind für sie eher ein Privileg.

Einige verlieren durch den Mangel an Ausbildung und medizinischen Einrichtungen noch immer ihr Leben, zum Beispiel durch eine Lungenentzündung – die (in den meisten Fällen) mit Antibiotika leicht behandelt werden kann.

Ich bin begeistert vom medizinischen Team in diesem Krankenhaus! Sie sorgen für eine sehr positive Arbeitsumgebung, in der alle zusammenarbeiten, jeder fragt jeden um Rat oder Hilfe, unabhängig von der Position in der Hierarchie. Es ist wie eine kleine Familie, die neue Mitglieder mit offenen Armen empfängt und dir das Gefühl gibt, sehr willkommen zu sein.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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Ein Krankenschwesternteam bei einer Teepause Ein Krankenschwesternteam bei einer Teepause Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Die „Hügelland-Ambulanz“: Da es keine Straßen gibt, werden die Patienten auf einer Trage zum Krankenhaus gebracht Die „Hügelland-Ambulanz“: Da es keine Straßen gibt, werden die Patienten auf einer Trage zum Krankenhaus gebracht Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Der Junge und seine Familie in der Notaufnahme. Mütter tragen ihre Kinder auf dem Rücken, weil es so auf den weiten Strecken am einfachsten ist. Der Junge und seine Familie in der Notaufnahme. Mütter tragen ihre Kinder auf dem Rücken, weil es so auf den weiten Strecken am einfachsten ist. Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Die Großmutter des Jungen Die Großmutter des Jungen Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Seine Mutter mit seiner Schwester Seine Mutter mit seiner Schwester Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Der Junge mit dem offenen Bruch Der Junge mit dem offenen Bruch Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Die Aszites-Patientin nach der Behandlung Die Aszites-Patientin nach der Behandlung Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Das junge Mädchen, das an Aszites leidet Das junge Mädchen, das an Aszites leidet Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Rundgang am Morgen. Neugierige Menschen spähen von draußen durchs Fenster Rundgang am Morgen. Neugierige Menschen spähen von draußen durchs Fenster Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Einzigartiges Frühstückserlebnis: Nudeln mit Cornflakes Einzigartiges Frühstückserlebnis: Nudeln mit Cornflakes Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Die Kindergruppe, die mich am Morgen begleitete 2The herd of children who run with me in the morning 2 Die Kindergruppe, die mich am Morgen begleitete 2 Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
Die Kindergruppe, die mich am Morgen begleitete Die Kindergruppe, die mich am Morgen begleitete Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0

Diskussion (Ein Kommentar)

  1. Leider wird uns viel zu selten klar, wie klein unsere Probleme sind.