24 Stunden und 45 Flüge
Es wird gesagt, dass alles, was im Leben passiert, aus einem guten Grund passiert und mit einer passenden Geschichte. Das Gleiche passierte mir in Nepal. Dies ist die Geschichte, die sich vom 22. bis zum 23. Mai 2015 erstreckte.
Ein paar Wochen zuvor, am 25. April 2015, hatte ich mich mit meinem Kollegen von Global Platform Nepal unterhalten, bei der ich in einer 3-monatigen Ausbildung lernte, eine Kampagne zu führen. Der Kurs war fast vorbei. Am selben Tag hatten wir, als Teil unseres Kampagnentrainings, einen Auftritt und einen Flash Mob zum Thema Wasserrechte geplant.
Wir hatten das Patan Durbar Square als Ort für den Auftritt und den Flash Mob gewählt, da dort immer viele Menschen waren. Nach dem Mittagessen, um etwa Viertel vor Zwölf, redeten wir über das Thema.
In Nepal heißt „Bhu“ „Boden“ und „Kampa“ bedeutet „Bewegung“ – und zusammen ergibt das: „Bewegung des Bodens“. „Bhaga“ heißt auf Nepalesisch „geh weg“.
Als ich vom ersten Stock ins Erdgeschoss rannte, fiel ich zweimal hin; glücklicherweise schaffte ich es, mich unter freien Himmel zu retten. Überall waren Schreie von Männern und Frauen, Alten und Jungen, Kindern, Tieren, Vögeln zu hören – alle schrien. Alles bewegte sich, die hohen Gebäude tanzten im Himmel, die Bäume schwankten heftig, Hunde bellten laut.
Nach einigen Minuten hörten die Vibrationen für einen Moment auf. Für einen kurzen Moment erschien alles wieder so, wie es ein paar Minuten vor dem Erdbeben gewesen war. Aber dann, nach fünf Minuten, fand diese dramatische Erschütterung der Erde statt – und es schien, als ob alles binnen einer Sekunde wieder zerstört würde.
Nun waren alle Netzwerke komplett zerstört. Kein Kontakt über Festnetz, kein Mobilnetz verfügbar, alles versank im Chaos. Plötzlich hörte ich aus weiter Ferne eine Durchsage, dass es ein Erdbeben gegeben habe, das 7,8 auf der Richterskala erreicht und großen Schaden in weiten Teilen Nepals angerichtet habe. Das Epizentrum des Erdbebens befand sich in Barpark, im Gorkha-Bezirk in Nepal. Diese Nachrichten wurden von Image FM 97.9 aus Kathmandu gesendet.
Gorkha ist einer der Bezirke in der westlichen Region Nepals. Innerhalb von fünf bis zehn Minuten gab es wiederholt Nachbeben. Jetzt erinnerte ich mich an meine Familie. Nach vielen Versuchen fand ich heraus, dass alle Angehörigen sicher waren; ich war unglaublich erleichtert und sehr glücklich. Nun bemerkte ich, dass meine Füße sich seltsam kalt anfühlten; als ich herunterblickte, merkte ich, dass ich barfuß war, da ich vergessen hatte, Schuhe anzuziehen.
Jeder hatte Angst. Über eine Woche lang konnte niemand essen oder schlafen – wir überlebten nur mit Nudeln und abgepacktem Essen. Wir konnten nicht in die Küchen unserer Behausungen gelangen, um zu kochen. Die Tage vergingen, und wir fühlten uns, als wären wir in der Quelle des Todes gelandet. Wir konnten nichts tun.
Die Zeit verging, und am 12. Mai 2015 gab es ein weiteres starkes Erdbeben mit Ausschlägen von 7,3 auf der Richterskala. Diesmal lag das Epizentrum im Dolakha-Bezirk von Nepal. Dieses Mal waren 16 Bezirke Nepals großflächig von dem Erdbeben betroffen. Den Bezirk Sindupalchok hatte es am schlimmsten beeinträchtigt; er ist drei Stunden mit dem Bus von der Hauptstadt Nepals, Kathmandu, entfernt und ist außerdem ein Nachbarbezirk von Dolakha.
Die Nachrichten berichteten von ungefähr 9.000 Toten und über 21.000 Verletzten nach dem Erdbeben in ganz Nepal, aber im Bezirk Sindupalchok alleine gab es über 4.000 Tote. Die Situation war furchtbar. Das ganze Land trauerte. Es gab mehrere Erdrutsche, die zusätzlich Schaden anrichteten. Tränen liefen über die Wangen der Hinterbliebenen der Opfer. Wo auch immer wir hingingen, hörten wir traurige Geschichten – überall und von jedem.
Neun von zehn Einheiten der Armee Nepals und der nepalesischen Polizei wurden mobilisiert, um Opfer des Erdbebens zu retten, die noch am Leben waren. Zu dieser Zeit erfüllten die Armee und Polizei in Nepal ihre Aufgabe so gut, dass sie zum Thema in den Nachrichten und einer Inspiration für die nepalesische Bevölkerung wurden – mich eingeschlossen.
Ein Polizist schaffte es, ein dreijähriges Mädchen nach 24 Stunden pausenlosem Einsatz zu retten. Als er hörte, dass dort ein Mädchen unter dem beschädigten Gebäude war, vergaß er alles um sich herum, ging in das Gebäude und rettete das Kind. Ein Reporter interviewte den Polizisten und fragte: „Wie haben Sie es unter das beschädigte Gebäude geschafft…??? Im Moment gibt es so viele Nachbeben. Woher nahmen sie den Mut und die Unerschrockenheit, um 24 Stunden dran zu bleiben?“.
Der Polizist fing an zu weinen und antwortete:
Zuallererst ist es meine Pflicht, die Erdbebenopfer zu retten. Zweitens bin selbst ich Erdbebenopfer. Ich habe meine einjährige Tochter und meinen Vater bei diesem Erdbeben verloren. Obwohl ich sie nicht retten konnte, schaffte ich es, das Leben einer Dreijährigen retten, die wie meine Tochter ist. Es war die Liebe zu meiner Tochter, die es mir ermöglicht hat, so zu handeln.
Wie inspirierend waren seine Worte und Taten.
Ich wollte mein Möglichstes tun, um den Menschen in Nepal in ihrem Schmerz und ihrer Bedürftigkeit zu helfen. Dieser Entschluss stand also fest, aber wie, wo fange ich an…??? Wen sollte ich kontaktieren…??? Ich überlegte hin und her und recherchierte im Internet nach Möglichkeiten. Zum Glück sah ich eine freie Stelle bei Solidarität International aus Frankreich und, ich bewarb mich sofort am 15. Mai 2015.
Nach drei Tagen erhielt ich eine E-Mail und wurde für ein Vorstellungsgespräch für den 18. Mai 2015 eingeladen. Ich absolvierte das Interview und wurde informiert, dass man sich telefonisch bei mir melde, sofern ich angenommen würde. Ich hinterließ meine Kontaktdaten und ging nach Hause. Am 19. Mai, und zwar am frühen Abend gegen 17 Uhr, klingelte mein Telefon und man teilte mir mit, dass ich als Freiwilliger ausgewählt wurde; man bat mich, am frühen Morgen des 20. Mai vorbeizukommen.
Als ich das SI-Büro betrat, teilte man mir mit, dass man mich „LOC“ zuteilen würde – und einer fragte mich: „Bist du dafür bereit?“. Überrascht fragte ich „LOC…??? Wo ist das? Ist das in Nepal oder nicht?“ Der Mann, der mir diese Frage stellte, lachte und sagte:
LOC ist kein Ort, es ist die Abkürzung für ‚life out of control‘ (Leben außer Kontrolle). Wir schicken dich in den Sindupalchok-Bezirk, wo tausende Menschen getötet wurden und viele vor kurzem durch das Erdbeben obdachlos geworden sind. Du wirst dort hingehen und Erste-Hilfe-Güter verteilen, wie z.B. Essen, Zelte, Planen, provisorische Toiletten, Hygieneartikel, Chlor um das Wasser zu behandeln, Decken, Teppiche, Eimer, Wassertanks, Leitungen usw. Du wirst Dich in großer Gefahr befinden, denn du wirst mit dem Auto nach Chautara fahren, dem Sitz der Hauptverwaltung des Bezirks Sindupalchok, und von dort wirst du mit einem Hubschrauber in sehr hohe, sehr abgelegene Regionen fliegen.
Sie sagten mir, dass sie die Verantwortung für vier VDCs (Village Development Committee = Dorf-Entwicklungs-Komitee) – Karthali, Ghorthali, Golche und Gumba – im Sindupalchok-Bezirk übernommen hätten. Diese vier VDCs waren die abgelegensten, betroffensten und am meisten vernachlässigten VDCs im Bezirk Sindupalchok – sehr weit entfernt von allen Straßen und damit schwer zugänglich und nur über Luftwege zu erreichen.
Sie fragten erneut, ob ich dafür bereit sei:
Es kann sein, dass du in der ersten Phase der Maßnahmen zwei Tage lang durchreisen musst. Alles kann passieren, wir können für nichts garantieren. Du musst auf eigenes Risiko arbeiteten, denn du hilfst deiner eigenen Familie, deinen eigenen Müttern, Brüdern und Schwestern. Das ist der Grund, warum wir es ‚LOC = Life out of control‘ nennen. Also, bist du bereit?
Ich sagte, dass ich bereit sei. Ich würde das machen, ganz egal, was die Bedingungen waren. Ich würde es für mich und mein Land tun. Sie erklärten mir meine Aufgaben und Verantwortungen, die ich während des Einsatzes zu befolgen hätte. Sie gaben mir einen Tag, um mich vorzubereiten; und das tat ich noch am gleichen Tag.
Am 22. Mai, früh am Morgen, musste ich Richtung Chautara, Sindupalchok, aufbrechen. Gegen Viertel nach sechs saß ich im SI-Auto, und wir fuhren los nach Chautara. Zwei Dinge gingen mir durch den Kopf: Zuallererst war ich aufgeregt, weil ich zum ersten Mal mit einem Hubschrauber reisen würde, und zweitens war ich sehr nervös, weil ich einen neuen Ort bereiste. Ich konnte einfach nicht aufhören nachzudenken, und plötzlich hielt das Auto an.
Ich schaute nach draußen und sah das Tor des Nothilfelagers in Chautara. Es gab mehrere riesige Notzelte, die innerhalb des Tores aufgestellt worden waren – und ganz in der Nähe war ein Hubschrauberlandeplatz. Nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt hatten und von den Wachen kontrolliert worden waren, traten wir ins Nothilfelager ein.
Im Lager war alles vorbereitet zur Verteilung. Jetzt zählte ich nur noch die Steine am Boden und wartete auf den Hubschrauber, der vom Internationalen Flughafen Tribhuwan, Kathmandu, kommen würde. Dann, um etwa halb zehn hörte ich den Hubschrauber näher kommen, und schließlich landete er. Da waren noch zwei andere Helfer, Anton (Kanadier) und Ricardo (Spanier) von SI, um mir mit den Materialien zu helfen.
Die Arbeiter begannen, die Hilfsgüter in die Hubschrauber zu laden. Einer war kleiner (Nepalesischer Fishtail-Hubschrauber) und der andere war größer (Welthungerhilfe-Hubschrauber). Binnen 15-20 Minuten war alles verladen, und ich stieg in den kleineren Hubschrauber ein. Ich war fürchterlich nervös, als ich meinen Gurt anlegte und mir die Kopfhörer aufsetzte. Endlich hob der Hubschrauber ab.
Ich rief „Woooooo“, als der Hubschrauber vom Boden abhob und wo soll ich nur anfangen zu beschreiben, was ich von oben aus sah?
Wir flogen zu viert im Hubschrauber; zwei Piloten, ein Arbeiter und ich.
Ich fragte den Piloten: „Ist das unser Zielort?“ Der Pilot antwortete: „Nein, in 15 Minuten erreichen wir unser Ziel.“ Während die Zeit verging, kamen wir einem der Dörfer immer näher. Ich sah, dass keines der Häuser in diesem Dorf sicher war. Alles war zerstört – bis auf einen buddhistischen Stupa (ein Ort, an dem Buddhisten beten und bleiben).
Die Menschen begannen zu rufen, als der Hubschrauber näher kam, aber ich sah dort keinen Hubschrauberlandeplatz. Aber unerwarteterweise landete der Hubschrauber auf einem Feld, an dem Nutzpflanzen wuchsen.
Schließlich schaffte ich es, ein Team zu bilden, das all die Materialien, die zwei Hubschrauber bringen würden, verteilen konnte. Nach 15-minütiger Diskussion ging es weiter. Der Hubschrauber hob ab, und die Menschen versuchten, einander die Hilfsgüter streitig zu machen.
Das war mein erster Flug, und ich versuchte, mir vor Augen zu halten, dass ich immer noch 44 Flüge zu absolvieren hatte. Diesmal fühlte ich mich so glücklich, dass die Erdbebenopfer die Hilfsgüter bekamen und zumindest einige Wochen überleben konnten, ohne Hunger zu leiden.
Langsam und Schritt für Schritt, einen nach dem anderen, absolvierte ich eine Reihe von Flügen zu verschiedenen Orten, bildete verschiedene Teams von Menschen, die Hilfsgüter verteilen sollten.
Ich fühlte mich in einem inneren Konflikt zwischen Herz und Verstand. Mein Herz fühlte all das Glück darüber, dass ich den Menschen helfen konnte, die hier Probleme und viele Schmerzen haben. Aber, auf der anderen Seite, hatte mein Verstand Angst vor dem, was passieren könnte, denn Fliegen in Nepal ist sehr riskant und das Wetter war auch nicht sonderlich gut. Außerdem gab es Orte, an denen es keinen geeigneten Platz zum Landen des Hubschraubers gab, und wir mussten landen, wo immer wir genug Platz fanden, egal ob klein, schmal oder weit.
An manchen Orten konnte der größere Hubschrauber nicht landen, und wir mussten die Hilfsgüter aus der Luft abwerfen. An diesen Orten schnappten sich die Menschen die Hilfsgüter und kämpften darum.
All das geschah in Nepal innerhalb von 24 Stunden (2 Tagen) und auf 45 Flügen.
Wegen meines Mutes und meiner hervorragenden Handlungen, wurde mir später ein Sechsmonatsvertrag vom SI angeboten. Diese „LOC“ Phase von 24 Stunden und 45 Flügen war das Glück meines Lebens.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Hannah Kohn